Faust fehlt der Eiserne Vorhang

von Hartmut Krug

Cottbus, 19. Januar 2008. Die Zueignung ist verkündet, der Sprecher hat das Textbuch der Souffleuse hinunter gereicht, und nun können die "schwankenden Gestalten" zu "Wirklichkeiten" werden. Erst einmal aber gestikulieren Direktor, Theaterdichter und lustige Person sich als Schattenfiguren durchs Vorspiel. Wenn eine geflügelte Engelsschar sich aus den Proszeniumslogen mit dem Prolog aus dem Himmel vernehmen lässt, lehnt Mephisto seine Leiter an die Bühne und steigt missmutig aus der Tiefe empor.

Kein "edler Junker in rotem, goldverbrämtem Kleide", sondern ein völlig schwarzer Kerl, ein kahlköpfiger Underdog. Der mit blitzenden Augen räsonniert und seine Chance sieht. Sind sich doch Engel und Herr allzu sicher, dass die Welt herrlich eingerichtet sei. Deshalb vereinbart er mit einem aus dem Off tönenden Herrn, dessen riesiges Überwachungsauge die Rückwand ausfüllt, seine Wette um Faust.

In Schwerin steckte er im Kerker, aber riss den Vorhang ein
30 Jahre und der Untergang der DDR liegen zwischen Christoph Schroths legendärer Schweriner Inszenierung aus dem Herbst 1979 und seiner neuerlichen Beschäftigung mit Goethes "Faust". In Schwerin wurden beide Teile an einem langen, sechsstündigen Abend gegeben, in Cottbus gibt’s den ersten Teil in drei Stunden. Vier Fäuste und eine Frau als Mephisto spielten sich 1979 in Schwerin durch Lebenshaltungen und Suchbewegungen in der DDR. Die Bühne (vom damaligen wie heutigen Bühnenbildner Jochen Finke) bezog sich auf Fausts Klage "Weh! Steck' ich in dem Kerker noch?", und der Eiserne Vorhang wurde von Faust aufgestoßen.

Die damals radikal zeitgenössisch wirkende Inszenierung mit ihrer bunten Sinnlichkeit und Bildlichkeit erreichte mehr als 100 stets ausverkaufte Vorstellungen, und, so würde man heute sagen, Kultstatus. Auch Schroths neue Inszenierung ist aktuelles Zeittheater. Allerdings keines mit dem einstigen Furor und Schwung. Es ist eher ein nüchternes Denk- und Erklärspiel, in dem Faust zunächst als graumelierter und bebrillter älterer Herr jammernd an seinem Computer sitzt. Trotz all der Informationen aus dem Internet kommt er nicht weiter und holt sich schließlich alte Schwarten aus dem Schrank.

30 Jahre danach muss man Faust die Welt ins Zimmer schieben 
Fausts Reich ist ein großes, leeres Zimmer, ein Bürokäfig, umschlossen von matt-dunklen Metallwänden. Aus ihm kommt Faust nie recht heraus, die Welt wird ihm auf Podesten herein geschoben. Und für den wissbegierigen "trockenen Schleicher" Wagner, der sein Gespräch mit Faust wie ein Reporter aufnimmt, öffnet Faust seine Denkhöhle mit der Fernbedienung.

Kai Börner gibt seinen alten Faust als einen Nörgler. Mit allzu viel ausgestellten Gesten sucht er sich den leeren Raum zu erobern, jeder Satz, jedes Wort wird gestisch auf Händen getragen. Das wirkt, bis Faust verjüngt und damit lebendiger wird, doch etwas spannungslos. Als junger Faust bekommt Börner dann mehr Schwung, gibt der Figur Lebendigkeit, bleibt nicht nur Denker-Zitat. Aber immer präsent wirkt der agile Mephisto des Thomas Harms.

Der sprüht von Kampf- und Spiellust, zieht sich für Faust einen roten Handschuh über und verliert sich in Auerbachs Keller fast im Foppspiel mit den Zechern. Beim Osterspaziergang (mit rappenden Jungen und walkenden Alten) kommt er schon mal als Bettler vorbei, mit seinem Pudel an der Leine (einem wunderbar gelehrigen und schönen Pyrenäenschäferhund, fast der Star des Abends!).

Gretchen mit weißem Kopftuch
Faust wirkt bei Schroth weniger wie ein Sucher nach Welterklärungen, sondern wie ein Egoist auf der Jagd nach sinnlichen Reizen, nach Jugend und ewigem Leben. Dafür veranstaltet der Regisseur weder ein Mediengewitter noch ein Zitatengedonner mit gerade angesagten Philosophen oder Soziologen, sondern er setzt ganz auf Goethes Text. Den er allerdings kräftig kürzt. Mephisto verliert seine Schülerszene, Margarethe ihr Lied vom König in Thule, und etliche Szenen sind stark komprimiert.

Vor allem auch die mit Margarethe, die dabei durch Johanna-Julia Spitzer zum Ereignis des Abends werden. Nicht, weil die junge Schauspielerin sie als Muslimin mit weißem Kopftuch spielt, die Gläubigkeit der Figur also in ein aktuelles Spannungsfeld überführt. Sondern weil sie an Stelle des heute etwas muffig bieder wirkenden Verhaltens, das Goethe der Figur mitgegeben hat, ihrer Margarethe ein patent kraftvolles, zwischen Unsicherheit und erster Sicherheit vibrierendes Selbstbewusstein gibt.  

Ein beachtlicher Abend, aber ein anderer Atem als damals
Diese Margarethe ist schon bei sich und gelangt bei der Liebe aus sich heraus. Johanna-Julia Spitzer spielt eine Figur in der Entwicklung. Wie sie beim Nachdenken über die gefundenen Schmuckstücke das eigentlich ängstliche "ach wir Armen" für sich kraftvoll weg spricht, wie sie das "er-liebt-mich-Blümchenspiel" mit Klammern beim Wäscheaufhängen spielt oder wie sie sich der "Schmerzensreichen" in aller Not fordernd gegenüber stellt  - vor allem aber, wie sie das "Meine Ruh ist hin" als Kampf mit sich auf dem Gebetsteppich durchlebt, das gibt der Figur eine Lebendigkeit, die Christoph Schroths Inszenierung nicht immer atmet.

Manches wirkt eher plakativ: wie die Szene im Dom, die die auf ihrem Bett liegende Margarethe als Albtraum erlebt: Goethes Chor wird von schwarz verschleierten Muslimen gebildet, die, drohend mit Steinen klackend, eine Puppe bedrängen. Insgesamt gelingt Christoph Schroth eine sehr klare, aber auch etwas nüchterne und zuweilen allzu bedächtige Inszenierung. Er erzählt Goethes Geschichte nicht neu, sondern auf ganz eigene Weise mit klarem, realistischem Spiel als eine heutige. Ein großer Wurf wie einst in Schwerin ist das nicht geworden, aber mit dem homogenen Cottbusser Ensemble gelingt doch eine beachtliche Arbeit.

Faust I
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Christoph Schroth, Bühne: Jochen Finke, Kostüme: Ulrike Schlafmann, Musik: Hans Petith, Choreographie: AnnaLisa Canton, Dramaturgie: Guido Neubert.
Mit: Kai Börner, Thomas Harms, Johanna-Julia Spitzer, Serena Gruß, Hans-Peter Jantzen, Oliver Seidel, Jan Hasenfuß, Teresa Waas, Peter Princz, Gabriele Lohmar, Michael Becker, Michael Krieg-Helbig, Rolf-Jürgen Gebert.

www.staatstheater-cottbus.de

Kritikenrundschau

Mit gemischten Gefühlen betrachtet Martin Stefke in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (21.01.2008) Schroths "Faust 1" in Cottbus. Der wolle Faust als Täter zeigen, schlüssige Idee, befindet Herr Stefke, aber nicht in die Regie-Tat umgesetzt. "Zahlreiche Einfälle, die Faust als unmoralischen Menschen unserer Zeit zeigen sollen, geraten kraftlos und verärgern eher, als dass sie die Geschichte aufhellen." Als alter Faust am Anfang erscheint Kai Börner fast als Karikatur. Verständlicher sei es, wenn das Gretchen der herausragenden Johanna-Julia Spitzer "als fromme Muslima" auftrete. Der Inszenierung gelängen ihre "stärksten Momente in Szenen der Beschränkung". Wenn "Johanna-Julia Spitzer Margaretes Gebet im Dom zur leidenschaftlichen Anklage werden lässt. Oder wenn Kai Börner behutsam den Schleier des Mädchens löst", klinge an, dass dieser "Faust" hätte "großes Theater" werden können.

Irene Bazinger hält sich in der FAZ (23.02.2008) auffallend zurück mit einem Urteil. Dafür beschreibt sie außergewöhnlich viel. Regisseur Schroth verdichte all die großen Themen von "Faust 1", schreibt Frau Bazinger, zu "harten scharfkantigen Klängen, die wie elementare akustische Schlüsselreize die Irrungen, Wirrungen und Bonmots ... auslösen". Weder das Bühnenbild von Jochen Finke noch die "eindringlich konzentrierte Aufführung" selber gäben Orientierung. Schroth treibt alle "mit hohem Pathos immer tiefer in die Unübersichtlichkeit einer Welt hinein, die von sich keinen Begriff, nur Parolen hat, und keine Melodie, bloß Alarmsignale".

In der Schweriner Volkszeitung (22.01.2008) schreibt Holger Kankel. Wie viele der heutigen Rezensenten hat auch er den "legendären Faust" von Christoph Schroth vor 30 Jahren gesehen. Und befindet: "Wie in den 80ern in Schwerin erweist sich das Stück noch immer als theatralischer Jungbrunnen und erhellendes Spielmaterial für gegenwärtiges Theater." Fast nichts, außer dem einen oder anderen Darsteller, die Schroth damals von Schwerin nach Berlin und weiter nach Cottbus gefolgt sind, erinnere fast nichts mehr an den Schweriner Faust. Nur der Abzählreim "er liebt mich, liebt mich nicht" zum Aufstecken von Wäscheklammern auf die Wäscheleine sei ein Direktzitat. Ansonsten sei es Schroth tatsächlich gelungen, "dem alt bekannten Stoff neue Bilder, neue Geschichten, neue Ideen zu entlocken und sie in sinnfällige, auf die Gegenwart zielende Szenen zu übersetzen." Und das ohne "dem Dichter an die Worte zu gehen" oder den "Schauspielern auf den nackten Leib zu rücken". In diesem "Theater der alten Schule" glänze der Mephisto des Thomas Harms als geschwärztes "Kind der Straße". Kai Börner sei dagegen "ein arg theatralischer Faust, gestisch weit ausholend und gewichtig deklamierend". Den "zweiten Glanzpunkt der Inszenierung" setze das Gretchen von Johanna-Julia Spitzer. Sie zeichne "das Porträt einer modernen Frau, die weiß, was sie will und die in ihrer Liebe zu Faust sich selbst findet."  

Die Darstellung von Gretchen als Muslima und ihre Alpträume in Gestalt von zur Steinigung bereiter schwarzer Gestalten - "Chor und Koran. Goethe: statt west-östlichem Diwan das Strafgericht religiöser Unvereinbarkeit", dies sei "der wohl entschiedenste Zugriff von Christoph Schroth" bei seinem Cottbuser "Faust", schreibt Hans-Dieter Schütt im Neuen Deutschland (22.01.2008). Es dauere, moniert Herr Schütt, "bis die neuerliche Inszenierung Haftmittel produziert, die den soliden, sauberen Vorüberfluss der bekannten Dinge aufhalten und Prägsamkeit erzeugen". Erst mit Gretchen hat der Abend eine "wirkliche Seele", die sich aber leider nur in der "Tragödie entfalten" dürfe. "Die Aufführung", erklärt Herr Schütt, wirke "bescheiden, sie giert nicht nach übertriebener Auffälligkeit". Schroth habe den Mut, "sich einer Modernität zu verweigern, die ohnehin nicht seine Sache wäre. Es ist ein Mut, der eine gewisse Traurigkeit ausstrahlt; als spreche auch in Schroth selber, in Teilen, der müde abgearbeitete Faust, oder der Gloster in Shakespeares 'Lear': Man hat das Beste seiner Zeit gesehen. Und getan." Der Preis dieser Entschiedenheit im Unzeitgemäßen, "die freilich etwas Stolzes hat", bestehe in Phasen eines behäbigen Mummenschanzes  da werde "auch gleichsam bekennerisch dem alten Theaterapparat nachgewunken", der in den Umbauszenen noch einmal sein Knarren und seine ungelenke Langsamkeit zeigen dürfe.


 


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