Leni, komm bald wieder

von Sascha Westphal

Bonn, 8. März 2014. "Das Leben ist kein Kriminalroman." Davon ist der Aussteiger und Tauchlehrer Sven Fiedler felsenfest überzeugt. Also weist er seine Freundin und Geschäftspartnerin Antje Berger einmal mit eben diesen Worten zurecht. Sie hatte sich gerade wieder zu wilden Spekulationen über Svens neueste Kunden, die Schauspielerin Jola von der Pahlen und den Schriftsteller Theo Hast, hinreißen lassen. Doch diesmal irrt sich Sven. Seine an sich noble Haltung, sich über niemanden ein Urteil zu bilden und auf keinen Fall irgendwelche psychologischen Schlüsse über Menschen zu ziehen, macht ihn blind für alles, was um ihn herum geschieht. Er merkt gar nicht, dass er längst mitten in einem Kriminalroman steckt und es alles andere als gut für ihn aussieht.

Jener Satz, mit dem sich Sven in Sicherheit wiegen will, hat in Sebastian Kreyers Inszenierung von Bernhard Studlars Bühnenadaption des Juli-Zeh-Romans "Nullzeit" natürlich einen doppelten Boden. In diesem Moment spricht nicht nur der chronisch überforderte Anti-Held, der vor Jahren aus Deutschland auf die Insel Lanzarote geflüchtet ist und nun glaubt, dort unberührt von all den Verwicklungen und Verstrickungen des 21. Jahrhunderts leben zu können. Neben seiner Stimme meint man, gleich auch noch die von Studlar und Kreyer zu hören.

"Klopapier nicht in die Toilette", gesungen

Dieses Theaterstück ist kein Kriminalroman. So könnte es in diesem Augenblick auch heißen, obwohl Juli Zehs Vorlage mit dem Genre mehr als nur flirtet. Doch anders als "Spieltrieb", Studlars erste und oft nachgespielte Bearbeitung eines Romans von Zeh, geht diese Adaption von Anfang an auf Distanz. Während Juli Zeh äußerst geschickt mit Unschärfen und Widersprüchen arbeitet und so den Leser mehr und mehr in Unsicherheit wiegt, setzt Studlar vor allem auf parodistische Effekte. Der Psychothriller findet nicht statt, zumindest erst einmal nicht.

nullzeit1 560 thilobeu uNeuankömmlinge im Aussteigerparadies: Jola (Johanna Falckner) und Theo (Glenn Goltz), mit Hut und Schnauzbart in Empfang genommen von Sven (Jonas Minthe) © Thilo Beu

Weder Jonas Minthes Sven und die von Sophie Basse mit großer Lust an kleinen und großen Albernheiten gespielte Antje noch das teuflische Paar Jola (Johanna Falckner) und Theo (Glenn Goltz) gewinnen in Studlars Text klare Konturen. Die Brüche und biographischen Abgründe, die Juli Zeh immer wieder akzentuiert, übergeht Studlar konsequent. Bei ihm regiert der erste Eindruck. Also gibt Minthe den Wirklichkeitsverweigerer, der es tatsächlich todernst meint, wenn er davon träumt, in einem Wrack auf dem Grund des Meeres zu leben. Johanna Falckner und Glenn Goltz hingegen sind so etwas wie die deutsche Daily-Soap-Variante von Martha und George aus Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?".

Paare, Karikaturen. Nicht so jedoch nicht in Sebastian Kreyers Inszenierung. Hier ist alles von Beginn an Spiel und Theater. Da läuft eben nicht nur Musik im Hintergrund, wenn Antje den Neuankömmlingen in ihrem Reich die Hausregeln erklärt. Da werden Sätze wie "Klopapier nicht in die Toilette, sondern in den kleinen Eimer daneben. Sonst gibt's ganz schnell Verstopfung und dann ... das wollen wir alle gar nicht" von Sophie Basse gleich zu der Melodie von "La Isla Bonita" gesungen. Es ist ein ausgelassener Spaß, ein wildes Jonglieren mit Klischees und Absurditäten, bei dem Kreyer und seinem Ensemble nichts heilig ist.

Nackte Kanone mit Tiefsinn

Natürlich könnte es eine Femme fatale wie Jola direkt aus einem amerikanischen Film noir der 40er Jahre nach Lanzarote verschlagen haben. Aber so offensichtlich wie sie bei Johanna Falckner die Menschen um sich herum manipuliert, verbindet sie mehr mit den schwarzen Witwen, mit denen es Leslie Nielsen in den "Nackte Kanone"-Filmen und Fernsehfolgen zu tun hatte. Gerade eben hat Jola ihrer Gastgeberin das arme Opfer vorgespielt. Und damit Antje es auch wirklich versteht, hat sie den Satz "Theo kommt sicher gleich" mehrfach wiederholt und dabei immer mehr Melodramatik in ihre Stimme gelegt. Nun steht Falckner an der Seite des Transport-Containers, der Lena Thelens Bühne nach hinten begrenzt, und beobachtet mit diabolischem Vergnügen, wie ihre Saat bei Sophie Basses Antje aufgeht.

nullzeit3 560 thilobeu uTheaterfeuerwerk in Unterwasserblau: Jonas Minthe (Sven), Johanna Falckner (Jola), Glenn Goltz (Theo), Sophie Basse (Antje) © Thilo Beu

Aber dieses irrwitzige Theaterfeuerwerk, in dessen Verlauf Glenn Goltz immer wieder die Souffleuse Kerstin Heim anspricht und sich Sophie Basse gleich zweimal in eine andere deutsche Aussteigerin, Leni Riefenstahl, verwandelt, ist längst nicht nur Scherz und Satire. So wie Sebastian Kreyer von einem Moment auf den anderen die Stimmung umschlagen lässt, wechselt auch sein Ensemble übergangslos von Nonsens zu Tiefsinn, von überdrehten Mätzchen zu ehrlicher Verletzlichkeit. So verwandelt Kreyer Juli Zehs perfekt gebauten Thriller in ein groteskes Spiel von einer Welt, in der das Tragische immer auch ein Synonym für das Lächerliche ist und umgekehrt.

 

Nullzeit (UA)
nach dem Roman von Juli Zeh, für die Bühne bearbeitet von Bernhard Studlar
Regie: Sebastian Kreyer, Bühne und Kostüme: Lena Thelen, Licht: Lothar Krüger, Sound-Design: Sophie Basse, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki, Soufflage: Kerstin Heim.
Mit: Jonas Minthe, Sophie Basse, Johanna Falckner, Glenn Goltz.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-bonn.de

 

Kritikenrundschau

Vom kargen und zugleich bilderstarken Stil des Romans, von Juli Zehs Blick in menschliche Abgründe bleibe in Bernhard Studlars Bühnenfassung wenig, findet Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (10.3.2014). Der Wiener Autor schäle die Dialoge heraus und würze sie mit einer kräftigen Dosis Comedy. Regisseur Sebastian Kreyer überspitze das Ganze noch. Im Dienste der Komik würden die zentralen Figuren "stark reduziert". "Bei aller Kritik muss allerdings auch gesagt werden: Diese 'Nullzeit'-Version macht Spaß." Sie funktioniere wie eine solide Fernsehkomödie – vor allem durch die schnelle, uneitle Spielweise. "Und ja, Theater darf auch einfach mal unterhalten."

An Juli Zehs Geschichte scheine Uraufführungsregisseur Sebastian Kreier gar nichts zu interessieren, ärgert sich Ulrike Gondorf im Deutschlandradio Kultur-"Fazit" (8.3.2014). "Er macht eine grelle Klamaukshow daraus, mit Klischeefiguren, denen man nicht einen Moment glaubt, dass sie irgendwelche ernsthaften Ziele verfolgen." Weder das Beziehungsstück und Krimi-Kammerspiel noch die Themen, die im Untergrund der Romanhandlung lägen, "zum Beispiel der Frage nach der Manipulation durch Sprache", kämen zur Geltung. "Man muss Juli Zehs 'Nullzeit' ja nicht für ein gutes Buch halten – aber dann sollte man vielleicht auch nicht seine Zeit und die der Zuschauer damit vertun, es zu desavouieren."

Das stärkste Stück im Repertoire des Bonner Theaters sei bisher das Drama "Generalintendant gegen Oberbürgermeister" gewesen, schreibt Dietmar Kanthak im Bonner General-Anzeiger (10.3.2014). "Aber das lief leider nichts auf der Bühne." Im Gegensatz zu "Nullzeit", dieser Roman-Uraufführung, der Kanthak nicht viel abgewinnen kann. Sie wolle "alles andere als abstrakt und gedankenblass" sein. Also verfeuere Kreier "viele von den Ideen und Spaßtheater-Elementen, die eine Regiegeneration seit vielen Jahren an die nächste weiterreicht". "Die Infantilisierung des Theaters ist ganz schön alt." Die Schauspieler kämen dem Publikum ganz nah – "physisch, aber nicht emotional". Allerdings sei die Spielfreude des Ensembles immer wieder ansteckend und sorge für "unwiderstehliche Momente". Die Schauspieler opponierten auch "mit kleinen suggestiven Miniaturen" gegen den Klamauk.

In der Sendung "Mosaik" auf WDR 3 spricht Miriam Berger eine Empfehlung für diesen Abend aus, den sie nach Lektüre von Juli Zehs Roman als "bedrückendes Kammerspiel" erwartet habe – und dann sei diese Erwartung von "ganz tollen Schauspielern" und einer Inszenierung, die den Bruch zum Prinzip erhebe, aufs schönste enttäuscht worden. Kreyer habe sich "theatralisch so richtig ausgetobt", und das produziere "eine wunderbare Leichtigkeit" auf der Bühne.

Kommentare  
Nullzeit, Bonn: ordinär + sentimental
So kann man eine boulevardeske, auf die Dauer langweilige Mischung aus ordinärem Klamauk und sentimentaler Klamotte schön reden. Uraufführung? Ja gewiss, - wieder eine überflüssige Dramatisierung eines Romans, der dazu noch eine Variante der Aussteiger-Thematik der siebziger Jahre verhandelt. Und warum das Ganze? Weil die Autorin in Bonn geboren ist? Dafür kann sie allerdings nichts.
Nullzeit, Bonn: Nichts zum Weiterdenken
Was die schauspieler an toller leistung zeigen, enttäuschen die regieteams im bonner schauspiel,....manomann ist das oberflächlich,...sorry, von diesem abend nehm ich nichts mit nachhause zum weiterdranndenken,...nur glenn muss doch echt so ein kaputter typ sein...oder?..super gespielt
Nullzeit, Bonn: zwiespältiges Gefühl
Nullzeit, Bonn: Nicht einmal wirklich witzig

Kurzes Fazit: Exzellente Schauspieler, die dennoch die verquaste Inszenierung nicht retten können.

Was bleibt, ist das zwiespältige Gefühl, einerseits die grandiose Leistung souveräner Schauspielkunst über den (grünen) Klee zu loben; und andererseits die hölzernen Regieversuche erlitten zu haben, einen spannenden, kammerspielartigen Roman in die unterirdische Komik verquasten rheinischen Sitzbungskarnevals zu stellen.

Die aufgesetzte Komik der unmotiviert eingestreuten Tanz und Sangeseinlagen ist weder hintergründig noch originell; sie ist schließlich nur peinlich und erreicht knapp das Niveau gewisser kommerzieller Fernsehunterhaltung ohne auch nur annähernd den anarchischen Anspruch der Persiflage zu erreichen. Die pubertäre Blödelei in der Bonner "Nullzeit" ist nicht einmal in der Lage, "unter Niveau zu amüsieren".

Alle vier Schauspieler liefern jedoch mit ihrer grandiosen Darstellungskunst die einzige Versöhnung mit diesem Abend. Jede(r) einzelne von ihnen ist für jede vorstellbare Inszenierung ein Gewinn. Die in der Nullzeit-Regie orientierungslos wirkende Vielfalt der dargestellten Personen - jede einzelne changiert von kommödiantischer Burleske bis zur dramatischen Verzweiflung - zeigte die Darsteller und Darstellerinnen als exquisite Könner ihres Faches, die einen ganzen Kasten voll schauspielerischen Handwerkszeug souverän beherrschen und einsetzen können. So bleibt als einzig wirklich witziger Einfall, die offensiv an den Rand des Publikums gesetzte Souffleuse in das Spiel zu integrieren: Ein charmant vorgetragenes Understatement!
Kommentar schreiben