Reise ans Ende der Macht

von Teresa Präauer

Wien, 12. März 2013. Hans Henny Jahnn hat sein Stück "Die Krönung Richards III." am Ende des ersten Weltkrieges verfasst, mehr als drei Jahrhunderte, nachdem sich Shakespeare höchstselbst der historischen Figur des glücklosen Herrschers aus dem Hause Plantagenet angenommen hatte. Mit dem Tode Richards III. endeten die Rosenkriege zwischen den englischen Königsdynastien. Eine Geschichte, die durch die jüngsten Ereignisse am Burgtheater einen gewissen symbolischen Zuwachs erhält.

kronungrichards 280h reinhardwerner uHurra, wir sind bankrott! Sophie Rois und
Martin Wuttke © Georg Soulek
O, glückloser Richard!

Dass Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann am Tag zuvor sein Büro infolge der fristlosen Kündigung hat räumen müssen, muss an diesem Premierenabend natürlich auch seine kleine Rolle spielen. "Schön, dann gehört die Burg jetzt mir!", ruft Sophie Rois einmal vom Plastiksessel auf der Bühne aus. "Wir sind nicht mehr im Handelsregister, unsere Firma ist bankrott", ergänzt Martin Wuttke in der Titelrolle an späterer Stelle. Das Publikum lacht, klatscht. Und einer unter ihnen hustet gern und laut, zumindest bis zur zweiten Pause. (In den Pausen dann selbst hört man im Vorübergehen die Leute über potentielle Nachfolger und Nachfolgerinnen spekulieren. O, Richard!)

Doch eigentlich setzt Regisseur Frank Castorf woanders an, um das Drama um Macht, Gewalt, Angst und körperlichen Exzess – für die Dauer von beinahe sechs Stunden – auszubreiten: an den Wurzeln des Kapitalismus, die seiner Lesart zufolge in der Tudor-Zeit liegen, welche auf die Ära der Plantagenet-Herrscher folgte. Am Ende des 15. Jahrhunderts begann die Globalisierung der Wirtschaft. Nachzulesen ist das auch im Begleitheft zu dieser österreichischen Erstaufführung, welches, nebenbei erwähnt, ziemlich schön und vielfältig geraten ist.

Wrestler, Voodoo-Künstler, Ethno-Krieger

Der Einstieg ist furios: Sophie Rois als Königswitwe Elisabeth spricht in ihrer dunkelsten stimmlichen Färbung, sie trägt hier weißen Federhut zum japanisch anmutenden Morgenmantel (Bühne und Kostüme: Bert Neumann, großartig). Der Kunstsprache Hans Henny Jahnns – expressiv, verzweigt, brutal und lüstern – tut Sophie Rois' poppige Manier gut, gerade dort, wo sie jedes einzelne Wort deutlich in den Raum stellt. Sie fordert Aufmerksamkeit und, ja, einen jungen Knaben als Menschenopfer für ihre Lust. Angefangen von Kleidung und Kopfschmuck bis hin zu den ausgestellten Bewegungen ist sie eine wahrhafte 20er-Jahre-Diva: manipulativ, sexsüchtig, kannibalistisch. Mit großem komödiantischen Potential, auch diesmal bewiesen.

Martin Wuttke als Richard III. trägt zu seinem Kimono eine Langhaarperücke, Stiefel und keine Unterhose. Er schreit viel, denn er hat es nicht leicht in dieser Welt, aus welcher ihn so sehr gelüstet ein Teil zu schneiden zur eigenen Verfügung. Antonin Artaud hat man sich, unüberhörbar, zum Vorbild genommen. Und mit dem Auftreten von weiteren Schauspielern, agierend und gekleidet wie Wrestler, Voodoo-Künstler, Ethno-Krieger, ergeben sich weitere Kombinationen: Es geht um Sklaverei und Kolonialismus, um Ordnung, die Welt an sich, Gerechtigkeit. Und es geht um die alte Frage nach dem ungewissen Ziel unseres zweifelhaften Tuns. Scheiße, Kotze. Regieanweisung als Zuruf, im Sinne von: Mach einfach weiter. Oder so.

richard2 560 hanshennyjahnn uEy Bruda, bin ich Artaud oder was? Martin Wuttke als Richard III. © Reinhard Werner

Ein, zwei Dutzend Menschen tummeln sich bisweilen auf dieser Bühne, sie trommeln und singen, sprechen vermutlich Suaheli und Portugiesisch, küssen einander, balgen sich. Der Griff an die Hoden ist fixer Bestandteil im gestischen Repertoire; einmal wird einer an seinem Plastikdildo kastriert. Der Text von Hans Henny Jahnn ist teilweise aufgebrochen zugunsten von Zitathaftem zu Kunst und Kapitalismus und improvisiert wirkenden Kommentaren zum Theater und zur Inszenierung selbst. Inwieweit der Brückenschlag vom 15. und 16. Jahrhundert zum Kapitalismus des 20. und 21. vollzogen werden kann, fragt dieser Abend insofern nicht, als er seine vielen unterschiedlichen Elemente jeweils gleichwertig nebeneinander stellt und zu einer Art Ethno Fusion vermixt. Symbolistisch und bedeutungsschwer ist bereits die Textvorlage. Dazu allerdings trägt die Inszenierung ihr Quantum Trost und Humor bei.

Liebesnest und Folterkammer

Szenenapplaus gibt es für Ignaz Kirchner nach seinem närrischen Monolog über Kunst und Leben im Allgemeinen und den Maler Holbein im Besonderen, außerdem für Oliver Masucci als körperlich-präsenten Herzog Buckingham. Wohlgesonnen ist man auch einer besonders liebenswerten Szene mit zwei halbwüchsigen Jungs, die tragische Gute-Nacht-Gespräche führen, in welchen sie sich gegenseitig 'Bruda' nennen, hier gesprochen in einer Mischung aus Wienerisch plus Migrationshintergrund.

Nun, der Abend beweist Mut zur Länge. Wer die eigene Durchhaltefähigkeit testen will, kann dies am Burgtheater durchaus mit Gewinn unternehmen – im Anblick der Neumann'schen Burg, eines Oktaeders, von welchem fünf Wände stehen geblieben sind. Diese formieren eine schwarze Festung und geben, nach innen und nach außen hin, Raum: dem Liebesnest und der Folterkammer. Das Ensemble arbeitet auch in seiner Gesamtheit auf hohem Niveau; Standing Ovations gibt es am Ende dafür aber keine. Den größten Schlussapplaus erhält die Lupita Nyong'o dieses Abends: Marie-Christiane Nishimwe, eine Sängerin, die aus dem Komparsen-Ensemble des Burgtheaters stammt.

 

Die Krönung Richard III.
von Hans Henny Jahnn
Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Martin Wuttke, Ignaz Kirchner, Fabian Krüger, Jasna Fritzi Bauer, Oliver Masucci, Marcus Kiepe, Hermann Scheidleder, Dirk Nocker, Sophie Rois, Markus Meyer, Marc Hosemann und Moussa Baba, Azamat Chabkhanov, Jovita Domingos-Dendo, Robin Furlic, Simon Jung, Anasiudu Kenechukwu, Tobias Margiol, Bernhard Mendel, Adam Nakaev, Marie-Christiane Nishimwe, Christoph Prochart, Philipp Schwab.
Spieldauer: 5 Stunden 45 Minuten, zwei Pausen

www.burgtheater.at

 

Eine Reise zu den Wurzeln des Kapitalismus unternahm Frank Castorf bereits im Sommer 2013 – als er in Bayreuth Richard Wagners Zyklus Der Ring des Nibelungen inszenierte. Hier die Nachtkritiken dazu: Teil eins: Rheingold, Teil zwei: Walküre, Teil drei: Siegfried, Teil vier: Götterdämmerung.

 

Kritikenrundschau

Wer bei der Premiere am Tag nach dem Knall eine besondere Aufregung oder Geschwätzigkeit im Foyer oder sonstige Aufgekratztheiten einer Katastrophenstimmung erwartet hatte, wurde in dieser viel zu sensationslüsternen Erwartungshaltung gleich mal heruntergedimmt, schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (14.3.2014). Castorf lasse es sich natürlich nicht nehmen, beim Wildern in Jahnns Schreckenskosmos auf die aktuelle Situation am Wiener Haus zu rekurrieren. In den besten Momenten klaffe in seiner Inszenierung tief und schmerzvoll die Wunde Welt, betrachtet durch die Lupe eines politisch nüchternen Geschichtspessimismus. "Es wird auch mit afrikanischer Freude gefeiert. In den schwächeren Momenten gibt es klapperndes Laien- und Ritterspiel mit Klohäusl-Witzen und einer Gummipenis-Kastration. Schlag Mitternacht ist der Spuk in Castorfs Geisterburg zu Ende. Er kommt einer heilsamen Austreibung gleich. Eine neue Zeit fängt nun an."

Ein überzeugendes Statement für die Kraft gedankenreicher Inszenierungsarbeit liefere Castorf, so Ronald Pohl im Standard (14.3.2014). "Immer unklarer verläuft die Grenze zwischen den Geschlechtern. Immer seltener rafft sich der Abend auf, das Ritterdrama weiterzuerzählen. Die beiden Prinzen im Tower müssen um ihr Leben bangen. Die Lords in Sadomaso-Masken brüllen aufeinander ein. Die Höflinge sitzen zwischen kokelnden Tonnen herum. Der König hat Streit mit der schwangeren Gemahlin." Hinter allem lauere Frank Castorfs teuflische Intelligenz. Wie ein verrückter Professor schraube er das Spielzeug der Moderne auseinander. Er sieht zu, wie die Spiralfedern der alten Autoren über die Bühne hüpfen. Die vorvorletzten Worte an diesem wunderbaren, freundlich akklamierten Abend gehören Heiner Müller. "Unsere Firma steht nicht mehr im Handelsregister." Und: "Ich entlasse uns aus unserem Auftrag." Das war auf die Burg gemünzt. "Castorf wünscht dem Haus die Anarchie. Das ist, mit Blick auf die Kunst, der einzig richtige Ansatz."

"Castorf tut sich schwer mit seiner sechsstündigen Hans Henny Jahnn-Version", findet dagegen Karin Cerny in der Welt (14.3.2014). Das Unterste werde nach oben gekehrt, "weshalb es bei Castorf auch eine Fäkalien-Dusche gibt, der Dreck verfängt sich herrlich in den extremen Langhaarperücken, die sich Bert Neumann ausgedacht hat". Bühne und Kostüme seien überhaupt das Tollste an diesem Abend: Bert Neumann habe eine riesige schwarze Ritterburg gebaut, die wie eine Vergrößerung aus einem Kinder-Überraschungs-Ei aussieht. Fazit: Grausam lang, ohne sonderlich kathartisch zu wirken, "die vielen Abschweifungen tun dem schwülstig-expressionistischen Text nicht wirklich gut, man verliert zu oft den Faden."

"Der Regisseur Frank Castorf setzt seine Phantasien um, völlig frei und bloß irgendwie auf der Grundlage von Hans Henny Jahnns Text", so Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.3.2014). Nach fünfeinhalb Stunden des quälend langen Abends scheint Castorf offenbar gar nichts mehr eingefallen zu sein, "also nimmt er Bezug auf die am Dienstag ministeriell erfolgte Absetzung des bisherigen Hausherrn Matthias Hartmann. Sophie Rois reklamiert die Burg für sich, Martin Wuttke will das Haus eher nicht leiten müssen, aber vorsichtshalber werden noch ein paar Möbelstücke herumgeworfen." Ob sich "Die Krönung Richards III." für die Bühne überhaupt eigne, erfährt man in dieser Nacht nicht mehr. Es war vom Stück auch nichts zu sehen.  

Dass dieses Drama bei Castorf nicht im Biologismus erstarre, ist den Schauspielern zu danken, "Jasna Fritzi Bauer, Ignaz Kirchner, Marc Hosemann, Rois und Wuttke: lauter große Hemmungslosspieler", schreibt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (14.3.2014). "Der gesamte, glatt sechsstündige Abend: auch eine Demonstration der Differenzen, die Spiel und Welt, Mensch und Mensch trennen." Und Selbstbeherrschungsentzug sei dabei vor allem Spielbeherrschungsverlust. "Im ersten Akt: Martin Wuttke peitscht auf die Worte ein, als wolle er sie für ihre Neigung zum Bedeutungstragen strafen. Im zweiten Akt: als würde er von den Sätzen verdroschen. Am Ende: Er redet noch, aber die Sprache geht durch ihn hindurch als wisse er nicht mehr, wozu das Wortemachen erfunden wurde." Dass Castorf Passagen von Antoine Artaud und Heiner Müller einbaut, um uns zu verkünden, "das Theater der weißen Revolution ist zu Ende", dass er dabei das Moment "des Afrikanischen" bei Jahnn durch afrikanische Schauspieler zu beglaubigen versucht – alles einleuchtend, spielerisch jedoch bald erschöpft. "Macht nichts: Jubel kurz nach Mitternacht in Wien."

Es sei immer wieder eine Freude, Martin Wuttke und Sophie Rois bei all ihren Exaltiertheiten, bei ihren akrobatischen Stimmkippern, bei allem aus der Rolle fallen zuzuschauen, so Sven Ricklefs auf DLF Kultur heute (14.3.2014). "Und auch der Regisseur hat alles zwischen Grand Guignol und Pathosposse aufgeboten, um nur keine Langeweile aufkommen zu lassen und zugleich den kaum erträglichen Sprachschwulst Jahnns zu konterkarieren." Das sei oft wahnwitzig furios, zumal sich viele Sätze an diesem Abend nach dem unehrenhaften Rauswurf von Hartmann doppeldeutig lesen lassen und auch gelesen werden, "dann wieder ist manches auch einfach nur Kindertheaterhaft banal." Fazit: Frank Castorf kann nicht verhindern, dass sich Hans Henny Jahnns Sprachungetüm auch in der Wiener Burgtheaterinszenierung "wie ein verstiegener Monolith vor einem auftürmt, ohne sich wirklich preiszugeben".

"Im Laufe der sechsstündigen Inszenierung von Frank Castorf geht es immer mehr um das Hier und Jetzt, und nicht um die Figur des Königs Richard und seiner Ritter", findet Gernot Zimmermann im Morgenmagazin von Ö1 (13.3.2014). Viele Plätze im Burgtheater seien schon von Anfang an leer geblieben, "und auch in der ersten und zweiten Pause waren Menschen gegangen, aber man darf wohl sagen, sie haben wirklich etwas versäumt." Der Kritiker sah "ein Statement zum Hier und Jetzt, aber auch eine Hommage an Hans Henny Jahnn mit großen poetischen und theatralischen Momenten, vielleicht eine der besten Inszenierungen von Frank Castorf überhaupt." Fazit: "Insgesamt ist die 'Krönung Richard III.' ein überaus imposanter Abend geworden, der auch die Ratlosigkeit widerspiegelt, in die die erste Bühne des Landes in den letzten Wochen gefallen ist.

Castorf biete "altmodisches Bildungstheater" meint Barbara Petsch in der Presse (14.3.2014). "Er ist ein Erzieher in Politik und Ästhetik, hier mit Elementen, Zitaten von Bataille, Artaud, Canetti, Marx, Heiner Müller. Besucher müssen aufpassen, sie werden reich belohnt, sogar mit einer Art Katharsis. Wer Castorf mag, für den sind seine Inszenierungen ein theatralisches Wellnesserlebnis, sogar ein Jungbrunnen." Auch Castorfs "Richard" sei "trashiges großes Welttheater" und insgesamt ein "bildender, zeitweise nervender, oft entzückender Abend, dessen Kürzung, speziell im Mittelteil, um 30 bis 40 Minuten kein Nachteil gewesen wäre."

 

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