Die Tücken des doppelten Bodens

von Martin Krumbholz

Düsseldorf, 14. März 2014. Krieg lässt sich auf der Bühne schwierig darstellen. 185 täglich sterbende Menschen in Syrien, 6,5 Millionen Menschen auf der Flucht – das sind abstrakte Zahlen, Statistiken, die man zur Kenntnis nimmt. Und selbst ein einziges, herausgegriffenes Schicksal würde im Theater nur hilflose Betroffenheit auslösen. Der chilenische Autor Guillermo Calderòn, der im Auftrag des Düsseldorfer Schauspielhauses ein Stück über den syrischen Bürgerkrieg geschrieben hat, weicht also aus. Ohnehin ist der Chilene nicht in Syrien gewesen, sein Text beruht auf Fern-Recherchen. Calderón liebt das Spiel im Spiel, die Verschränkung zweier Ebenen. Der Titel "Kuss" deutet es an: Hier findet eine dramaturgische Fluchtbewegung statt.

In der Manier des syrischen TV-Melodrams

In einer schlichten, realistischen Wohnzimmerdeko sehen wir eine junge Frau vor dem TV. Es klingelt, ein junger Mann tritt ein, man ist zum gemeinsamen Gucken einer Fernseh-Soap verabredet. Die beiden anderen Gäste sind noch nicht da. Der Mann, Youssif, nutzt die Gunst der Stunde, Hadeel eine Liebeserklärung zu machen, die die Frau nach einigem Zögern erwidert. Dummerweise – oder abenteuerlicherweise – handelt es sich bei Youssif nicht um ihren eigentlichen Partner; der trifft später ein und macht einen Heiratsantrag, den Hadeel auch nicht schnöde zurückweisen möchte. Bana, ihrerseits die betrogene Freundin von Youssif, vervollständigt das Quartett.

kuss1 560 sebastianhoppe uBeim Fernsehabend mit Liebesverwicklung: Marian Kindermann, Simin Soraya und Gregor Löbel
© Sebastian Hoppe

Gespielt wird das Melodram nicht überzeichnend – Calderón inszeniert selbst –, sondern geradezu hingebungsvoll einfühlend. Man könnte das alles für "echt" halten, versteht aber doch: Soap gucken, Soap spielen ist ein und dasselbe. Nur: Ist das witzig? Die Frage bleibt schreiend offen. Dank der branchentypischen Absurdität der Verwicklungen kommt es naturgemäß zu Lachern, aber der Stil der Inszenierung scheint den Ball flach halten zu wollen. Der Zuschauer soll zunächst einmal auf den doppelten Boden hereinfallen, und das funktioniert nur, wenn die Schauspieler – Simin Soraya, Marian Kindermann, Gregor Löbel, Anna Kubin – das Spiel im Spiel todernst nehmen. Bis es dann, just in dem Moment, da Bana sich aus dem Fenster stürzen will, zu einem Bruch kommt und das Quartett unvermittelt auf die Meta-Ebene abhebt.

Auf der Meta-Ebene

Einem Beitrag im Programmheft ist zu entnehmen, dass es mit der syrischen Soap-Opera, der "Musalsa", eine ambivalente Bewandtnis hat: Einerseits ist sie ein Propaganda-Instrument des Assad-Regimes gewesen, andererseits hatte sie aufgrund ihrer straßenfegerhaften Popularität auch eine identitätsstiftende Wirkung. Aber erstens müsste man das wissen (also das Heft gelesen haben), um es entsprechend würdigen zu können, zweitens ist es mit subtilen Zweideutigkeiten auf der Bühne so eine Sache: Oft tragen sie nicht oder versenken ein Sujet ins Diffuse. So auch hier.

Im zweiten Akt erklärt Bana, die eigentlich Laura heißt, dass sie zugleich die Regisseurin des Abends sei und initiiert eine Internet-Schaltung nach Damaskus. Per Skype-Interview sind wir mit einer blonden, sonnenbebrillten jungen Frau verbunden, die wir für die Autorin des Melodrams halten sollen, bis sich herausstellt, dass sie nur deren Schwester ist. Die Autorin ist bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Gespielt wird die blonde Frau von einer syrischen Schauspielerin, Nadin Jaroubi, und inszenatorisch ist dieser Teil der stärkste des Abends. Wir Zuschauer lernen hier nun (endlich) etwas.

kuss2 560 sebastianhoppe uAm Boden: Gregor Löbel, Simin Soraya und Marian Kindermann. Stehend: Anna Kubin
© Sebastian Hoppe

So erhalten wir unverhofft eine Antwort auf die oben gestellte Frage nach dem Komik-Potenzial des Melodrams. "Das Stück ist geradezu witzig", stellen die deutschen Schauspieler fest, "war das die Absicht?" Und die blonde Frau in Damaskus antwortet ungerührt: "Nein." Das Geflecht von Anspielungen, das das Melodram enthält, wurde unzureichend transportiert: Wenn eine Frau zum Beispiel einen Hustenanfall erleidet, dann deswegen, weil sie einem Angriff mit chemischen Waffen ausgesetzt war; und wenn Bana unmittelbar nach ihrem Auftritt erzählt, sie habe einen Fremden "geküsst", kann man das so verstehen, dass sie vergewaltigt worden sei. So besteht der interkulturelle Dialog zwischen Düsseldorf und Damaskus aus einer Kette von Missverständnissen.

Es folgt dann noch eine Art Epilog, ein Sprung zurück ins Spiel im Spiel, zum "Alptraum" verschärft. Doch der ästhetische und politische Ertrag des Abends bleibt dünn. So kurz wie er ist, ertrinkt er in Zweideutigkeiten, Unschärfen und vagen Beschreibungen eines unheimlichen Zustands.


Kuss (UA)
von Guillermo Calderón
Aus dem Englischen von Marie Milbacher und Almut Wagner
Regie: Guillermo Calderón, Ausstattung: Anna Sophia Röpcke, Dramaturgie: Almut Wagner, Licht: Konstantin Sonneson.
Mit: Simin Soraya, Marian Kindermann, Gregor Löbel, Anna Kubin, Nadin Jaroubi, Katharina Leufen/Linda Marek.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist die Stärke des neuen Stücks von Calderón, dass der Chilene die Grenzen des Sagbaren auf der Bühne nicht direkt thematisiert, sondern die Macht des Mediums in Frage stellt, indem er Irritationen schafft, sie in die Anlage des Abends hineinkonstruiert", schreibt Dorothee Krings in der Rheinischen Post (17.3.2014). "So muss er den Zuschauer nicht belehren, sondern lässt ihn selbst erleben, wie Kunst, wenn sie nicht authentisch ist, Missverständnisse schafft, Vorurteile bestätigt, falsche Entlastung schafft." Doch so viel Freude es mache, dem Ensemble zuzusehen, zum Syrienkrieg selbst vermöge der Abend wenig zu sagen. "Er ist ganz damit beschäftigt, seine Skepsis gegenüber dem bloßen Versuch zu thematisieren." Dabei stelle doch zum Beispiel das aktuelle Dokumentartheater durchaus Mittel bereit, auf intelligente Weise vom Unsagbaren des Krieges zu erzählen, ohne zu verschweigen, dass solche Versuche immer nur Annäherungen an die Wirklichkeit sind. Menschen im friedlichen Europa bleibe nichts anderes, um sich ein Bild von der Welt zu machen. "Schade, wenn das Theater dabei nicht helfen will."

Marion Troja hat für die Westdeutsche Zeitung (17.3.2014) keinen großen, aber einen gut gemachten Theaterabend gesehen. Calderón spiele mit den Erwartungen der Zuschauer, wenn er – so wie in TV-Schnulzen – die Männer und Frauen in ihrer Wohnzimmer-Welt wenig originelle Liebesbekundungen aufsagen lasse. Später sei es komisch und tragisch zugleich, wie mit einem auf einer Leinwand übertragenen Fern-Gespräch vorgeführt werde, wie wenig sich die Künstler zwischen Düsseldorf und Damaskus verständigen können. "Was wissen wir vom Leben in Syrien? 'Ihr interessiert euch doch im Moment alle für die Ukraine', sagt die syrische Frau. Man fühlt sich ebenso ertappt in seinem Gutmenschentum, wie die um Erklärung ringenden Theatermacher auf der Bühne."

"Kunstvoll, aber auch künstlich und irritierend wirkt es, wie Calderón die drei Ebenen verschränkt und wie er den Zuschauer zunächst aufs Glatteis führt", schreibt Michael-Georg Müller in der WAZ (17.3.2014). Das gelinge den biegsam flinken Mimen wie Marian Kindermann (Youssif), Simin Soraya (Hadeel), Anna Kubiun (Bana) und Gregor Löbel (Ahmed). Zunächst lasse Regisseur Calderón ihnen freien Lauf, "sie machen ganz auf harmlos und gefühlvoll, mutieren dann zu nüchternen Interview-Partnern." Erst im Finale würden sie zu profilierten, kantigen Darstellern. "Doch trotz ihrer Präsenz bleiben am Ende viele Fragen nach ihren Motiven offen und Missverständnisse ungeklärt."

Calderón und seinem Team gelängen trotz kleineren Einwänden "eine schlagkräftige Inszenierung", so Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (21.3.2014): "eine kritische, selbstironische Reflexion über Möglichkeiten, Trends und Grenzen des Theaters als Ort politischer Auseinandersetzung". Das Ensemble finde den richtigen Ton: "leise, knapp und freundlich-irritiert die syrische Gesprächspartnerin, gespielt von Nadin Jaroubi; unbedarft und bemüht engagiert die deutschen Theaterleute".

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