Die Zeitentänzer

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 16. März 2014. Drei Schwingtüren, ein beflissener Kellner. Welche er auch offen hält, das herein tanzende Paar kommt akkurat durch eine der anderen. Das Leben geht eben ein wenig anders im Tanzpalais, aber das sind Marginalien und Aperçus. Natürlich ist das Treiben hier nicht losgelöst von der Welt. Die Protagonisten sind Kinder ihrer Zeit und umgekehrt. Das Draußen stolpert herein als ein unvermeidlicher Slapstick, manchmal erheiternd, manchmal bedrohlich. Die Moden ändern sich und mit ihnen der Tanzschritt. Was bleibt, ist die unlösbare Verlinkung zwischen realem Leben und Unterhaltung. Oder anders gesagt: Seiner Zeit davon tanzen zu wollen, ist eine zwar reizvolle Aussicht und sie beschert jeder Generation aufs Neue Lebensfreude – aber das Unternehmen ist so Lust spendend wie aussichtslos.

das ballhaus1 560 lupi spumaSchon ziemlich nah am Heute: Business im Ballhaus © Lupi Spuma

Der ungarische Theatermann Viktor Bodó hat 2008 mit seiner Inszenierung von "Alice" einen österreichischen Nestroy-Preis für das Grazer Schauspielhaus eingeheimst und seither hält ihm die dortige Schauspieldirektorin Anna Badora die Treue. Mit erheblichem Gewinn für beide Seiten. Jahr um Jahr profitieren ihr Haus und ihr Ensemble von der Zusammenarbeit mit Bodós freier Budapester Szputnyik Shipping Company, und der Regisseur ist längst nicht mehr nur in Graz weltberühmt. Mit Handkes überdimensionierter Regieanweisung Die Stunde da wir nichts voneinander wussten ging's zum Berliner Theatertreffen, und eben dafür gab es in Moskau auch eine "Goldene Maske" als beste ausländische Produktion 2010. Zuletzt Kafkas Amerika und Michail Bulgakows Der Meister und Margarita – Bodó sucht gerne nach Stoffen mit offenen Optionen, in denen er seine Fabulierlust ausleben kann.

Von der Monarchie in die Gegenwart

Diesmal also "Das Ballhaus". Wie es dort zugegangen ist in den letzten hundert Jahren, wird quasi archäologisch Schicht um Schicht gehoben. Aus Theater wurde Film, und daraus wird nun wieder Theater. Musik-, Tanztheater logischerweise. "Le Bal" war 1981 eine nonverbale Produktion der nicht mehr existierenden französischen Banlieue-Compagnie Théâtre du Campagnol. Ettore Scola hat daraus 1982 einen Film gemacht, der für den Auslands-Oscar nominiert wurde. Immer wieder erinnert man sich irgendwo an "Le Bal", der sich besonders gut eignet, wenn es gilt, Zeitgeschichte abzuarbeiten (2001 hat der Schauspieler und Kabarettist Steffen Mensching so die DDR im Wortsinn vorgeführt).

Viktor Bodó setzt sinnvollerweise auf Österreich-Ungarn, auf die Monarchie, auf Decadence und Auflösungstendenzen. Und dann geht es in assoziativen Sprüngen bis in die Gegenwart. Keine Angst, nicht didaktisch knöchern, da sind Bodó selbst und sein Team vor: eine aufeinander eingeschworene Crew, von den Dramaturginnen Júlia Róbert und Anna Veress über die Bühnenbildnerin Juli Balázs bis zu Bodós Hauskomponisten Klaus von Heydenaber, der diesmal logischerweise kreativ besonders gefordert war.

Beständiger brillanter Wirbel

Diesmal ist noch eine Choreographin dazu gestoßen, Eva Duda, ebenfalls eine Ungarin. Toll, wie es ihr gelingt, das Ensemble in Schwung zu bringen. Angeblich sind nur zwei professionelle Tänzer dabei, die anderen fünfzehn stellen das Grazer Schauspiel und die Szputnyik Shipping Company. Die beiden Profis sind kaum herauszufinden. Wie synchron man da wirbelt, zu einer (vorab aufgenommenen) orchestralen Musik, der Klaus von Heydenaber unter- und mittelschwellig nicht wenig Melancholie mitgegeben hat. Wie sie immer aufs Neue zu ihren Sitzen stolpern, angeschubst zum Beispiel von einer sich öffnenden Lifttür. Einer fängt den anderen, man bugsiert sich weiter zu anderen Partnern - ein beständiger Wirbel und ein Wunder, wie hundert Minuten lang eine jede und ein jeder in Bruchteilen von Sekunden zur Stelle ist. Das ist brillant.

Eine Totentanz? Nein, keine Spur: Ein Tanz nicht tot zu kriegenden Lebens (auch wenn es mal eine Folterszene gibt), in dem die Protagonisten nicht altern, sondern ihre Marotten stets in neuer Jugend ausleben. Oder in gleichem Alter, wie der altväterliche noble Rosenkavalier mit den gediegenen Umgangsformen. Seine Zeit war wohl immer schon vorbei.

Vielleicht lohnender als das Imaginieren von Geschichten, von Handlung, ist das genaue Beobachten von Charakteren. Die gewandte, zarte Zigarettenverkäuferin mit ihrem Bauchladen wird sich wohl immer irgendwie durchschlagen (auch wenn sie einmal an den Haaren weggezerrt wird, womöglich ins Separée). Da ist eine junge Blondine, erfolglos bewacht von ihrer Mutter, die Avancen der jüngeren Männerwelt genießt und der die Soldaten einmal übel mitspielen. Ihre Mutter landet nicht so gut bei Männern, eine gewisse Verhärmung versteht man gut.

das ballhaus3 560 lupi spumaWar da die Welt noch in Ordnung? Tango - und der Koch schaut zu. © Lupi Spuma

So könnte man sich also durch-beschreiben, eine um die andere Figur, die alle ein wenig verschroben und doch so sympathisch wirken. In ihren Gesellschafts-Korsetten stecken diese Leute nicht nur in Monarchiezeiten fest. Wer auftritt, geht gerne mal an die Rampe und kontrolliert vor einem imaginären Spiegel sein Outfit, das ist ein running gag. Aber dann kommt ein Musikus mit Hammondorgel auf die Bühne, plagt sich mit dem Hochzeitsmarsch. Der Eiserne Vorhang, vor dem erst jüngst ein Pass gegen Geld seinen Besitzer gewechselt hat, ist gefallen. Die Segnungen neuer Zeiten kommen daher: das erste Fernsehgerät, die Mikrowelle, die Pilzkopffrisuren und damit der Rock'n'Roll.

"Das Ballhaus", in dessen Geschichte da in der ersten Szene ein paar Handwerker mit Taschenlampen und einem Bauplan eingebrochen sind, ist ein Tollhaus bruchstückhaft erinnerter Geschichte. Historische Zitate in Kostüm und Geste, mit deftiger Bühnenfarbe kolorierte Wochenschau-Schnipsel. Die Spiegel im Tanzpalais mögen blind sein, die Erinnerung ist scharfsichtig.

 

Das Ballhaus (Le Bal)
Schauspiel ohne Worte nach einer Idee des Théâtre du Campagnol, Fassung für das Schauspielhaus Graz von Júlia Róbert und Viktor Bodó
Regie: Viktor Bodó, Bühne: Juli Balázs, Kostüme: Krisztina Berzsenyi, Musik: Klaus von Heydenaber, Choreographie: Eva Duda, Dramaturgie: Christian Mayer, Júlia Róbert, Anna Veress.
Mit: Isabella Szekely-Albrecht, Gerhard Balluch, Zoltán Grescó, Károly Hajduk, Péter Jankovics, Pál Kárpáti, Dániel Király, Steffi Krautz, Florian Köhler, Niké Kurta, Laurenz Laufenberg, Katharina Paul, Kata Petö, Stefan Suske, Péter Tóth, Beatrix Simkó.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com

 

Kritikenrundschau

Einen "unterhaltsamen Reigen mit Humor und Raffinesse aber auch weniger Tiefgang, als man ihn bei Bodó schon erleben konnte", hat Colette M. Schmidt für den Standard (17.3.2014) bei Viktor Bodós "Ballhaus" gesehen. "Die Choreografie von Éva Dudas, die tanzerprobten Ungarn und die Slapstickeinlagen der Grazer Schauspieler" griffen, so Schmidt, "kurzweilig und elegant und flink ineinander."

"Es wäre unseriös, die Kinoversion mit der Theateraufführung zu vergleichen, zumal Viktor Bodó ohnehin eigene Wege geht", meint Werner Krause in der Kleinen Zeitung (17.3.2014). Woran es "diesem an Musik, Slapstick, komödiantischen Einlagen und choreografischen Glanzstücken reichen Abend letztlich doch" mangele, sei "ein kleiner, feiner Handlungsfaden". Was geboten werde, sei "höchst präzise unterhaltsam, kostümreich dargeboten von einem enorm ambitionierten österreichisch-ungarischen Ensemble in idealer 90-Minuten-Länge. Was eindringlicher ausfällen hätte können, ist das zuweilen verzweifelte Bestreben, in einer gestern wie heute alles andere als intakten Welt einen zumindest halbwegs angemessenen Takt zu finden."

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