Stahl auf Stahl

von Falk Schreiber

Hamburg, 22. März 2014. Ein Konzert. Neun Notenständer sind an der Rampe im Hamburger Thalia Theater aufgestellt, Bierkisten als Sitzgelegenheiten. Im Hintergrund ein Gebilde, das sich im Laufe des Abends als riesiges stählernes Schlagwerk entpuppen wird. Ein Trompetensignal hebt an. Das Ensemble betritt die Bühne, gekleidet in neutrales Schwarz, stellt sich in Position, lässt seine Instrumente erklingen: seine Stimmen. Es ist ein Textkonzert, die Partitur ist Sprache.

Im Westen nichts Neues

Luk Percevals Koproduktion zwischen Thalia Theater Hamburg und dem NTGent "FRONT" ist eine Collage aus Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues", Henri Barbusses "Das Feuer" und Zeitdokumenten aus dem Ersten Weltkrieg. Sowohl Barbusse als auch Remarque beschreiben in ihren Romanen den Kriegsalltag 1914 an der Westfront und folgen dabei keiner Spannungsdramaturgie, sondern reihen Episoden aneinander. Dass Barbusse 1920 aus der Sicht eines französischen Soldaten schrieb und Remarque 1929 die Perspektive eines Deutschen wählte, ist dabei eher zweitrangig: Unter dem Krieg leiden beide Seiten – einem Krieg, dessen Sinn sie nicht verstehen und dessen Struktur sie nicht durchschauen.

front5 560 armin smailovic h© Armin Smailovic

Auf der Thalia-Bühne steht ein internationales Ensemble, die Texte sind Deutsch, Niederländisch, Französisch und Englisch – ein Sprachgewirr, das die Verwirrungen des Krieges verdeutlicht und dem Abend zugleich einen fragmentarischen Charakter verleiht. "FRONT" bietet eher Klangerlebnis, als dass eine Handlung vorangetrieben würde: Der Text ist eine Mischung aus tagebuchartigen Romanpassagen, Feldpost und assoziativen Gedankengängen, viel wird über die Rampe gesprochen, wenig agiert. Einzig Katelijne Verbeke darf als Mutter, deren Kinder nach und nach vom Schlachtfeld genommen werden, ein langsames Wahnsinnigwerden spielen.

"Allez!" Endlich Kampf

Die übrigen Darsteller – darunter Schwergewichte wie Bernd Grawert und Burghart Klaußner – üben sich hingegen in effektvollem Minimalismus und reihen monologisch Episode an Episode. Man hört vom Ekel im Schützengraben, von der kalten Bürokratie der Todesmeldungen, von Schmerzensschreien im Lazarett, und unmerklich baut sich im Hintergrund eine Geräuschkulisse auf, grollt der Donner im Bühnenbild. Bis ein befreiender Schrei ertönt: "Allez!" Endlich Kampf.

Wo sich die Inszenierung szenisch zurücknimmt, setzt sie auf die musikalische Ebene. Was die Schauspieler darstellerisch nicht zeigen können, legen sie in ihre Stimmen, bis man in den verschiedenen Idiomen eine Sprachmelodie zu hören glaubt. Einen Gesang, der grundiert wird durch den an- und abschwellenden Sound an Annette Kurz' Bühnenrückwand, deren Stahlplattenkonstruktion von Ferdinand Försch ausdauernd bearbeitet wird, mal knallend, mal schabend, einmal als ohrenbetäubendes Kreischen, Stahl auf Stahl. Das allerdings ist für dieses spröde Stück fast schon zuviel Effekt, schnell kehrt die Performance zurück zum Stolpern, zum Kriechen, zum unpathetischen Sterben.

Oberhalb der Fronten

Perceval macht viel richtig mit dieser musikalisch-textlichen Installation. Er umschifft die im Antikriegsgenre lauernden Klippen der indirekten Heroisierung, indem er seine Figuren mit respektvoller Distanz führt. Selbst den eigentümlichen Themenstrang um eine Krankenschwester (Oana Solomon), der auf eine Art libidinöses Verhältnis zum Krieg hinweist, lässt er nicht ausspielen, sondern deutet nur an, dass es da etwas gibt, das sich nicht so einfach begreifen lässt.

Nur die Entscheidung, das Stück mit Belgiern und Deutschen zu besetzen und so die Schützengräben von 1914 in einer gewissen Authentizitätsverwirrung zu doppeln, ist nicht ganz glücklich, weil sie den Unterschied zwischen Angreifern und Angegriffenen ignoriert. Die Inszenierung ebnet hier historische Differenzierungen ein zu Gunsten einer Art allgemeinmenschlicher Leidensorchestrierung, das kann man ihr vorwerfen – aber vielleicht darf solch eine Entscheidung tatsächlich ein Regisseur treffen, der in Flandern geboren ist, seit Jahren aber hauptsächlich in Deutschland arbeitet? Ein Regisseur, dessen Biografie ebenso Grenzen überwindet wie diese Inszenierung?

Die Vielsprachigkeit jedenfalls bietet sich an, im Gedenkjahr 2014 einen parteienübergreifenden Eindruck vom Weltkrieg zu geben. Das auch mit Bundesmitteln geförderte "FRONT" wird durch Europa ziehen, unter anderem nach Brüssel, Belgrad und Sarajewo. Perceval bietet keinen Kommentar, er baut Stimmungen auf, Langeweile, Angst, Abstumpfung. "Wer hier nicht den Verstand verliert, muss zumindest das Gefühl verlieren", heißt es an einer Stelle. Im Schlussbild stehen sich Steven van Watermeulen und Bernd Grawert gegenüber und sprechen jeder für sich einen Monolog, zweisprachig, zu verstehen ist nichts. Langsam geht Katelijne Verbeke von Notenständer zu Notenständer und löscht nach und nach die Lichter, und dann, in der Dunkelheit, erklingt nurmehr eine Frage, ein Verlustschrei ohne Antwort: "Marie?"


FRONT
nach "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque, "Le Feu" ("Das Feuer") von Henri Barbusse und Zeitdokumenten
Regie: Luk Perceval, Live-Musik: Ferdinand Försch, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Ferdinand Försch, Video: Philip Bußmann, Licht: Mark Van Denesse, Dramaturgie: Christina Bellingen, Steven Heene.
Mit: Patrick Bartsch, Bernd Grawert, Burghart Klaußner, Benjamin-Lew Klon, Oscar van Rompay, Peter Seynaeve, Steffen Siegmund, Oana Solomon, Katelijne Verbeke, Steven van Watermeulen, Gilles Welinski.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Auf Spiegel online (24.3.2014) nennt Anke Dürr die Textvorlage des Abends einen "dramaturgisch gut gemachten Zusammenschnitt". Perceval habe sichtbar viel Aufwand getrieben, um den Texten adäquate Bilder und Klänge zu finden. Am stärksten sei der Abend aber da, wo er sich ganz auf den Text konzentriere. Allerdings seien dann auch wieder nicht alle Textpassagen so stark – die beiden Frauenrollen etwa wirkten "wie nebenbei konzipiert". Katelijne Verbeke als flämische Bauersfrau bleibe in der Trauer um ihre Kinder auf das immer schriller zeternde Klageweib reduziert; "Oana Salomon als englische Krankenschwester muss viel Verständnis für ihren Geliebten zeigen, der sofort zurück ins Gefecht will, nachdem sie ihn gesund gepflegt hat – und darf dann nur noch verkünden, dass sie schwanger ist."

"Der Abend ist ein Erlebnis aus Stimmen und Klängen, kein Handlungsablauf definiert ihn", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (24.3.2014). Und trotzdem fühle man sich mitgenommen ins Kriegsgeschehen, ins allgemein menschliche Leiden. Perceval und sein multinationales Ensemble realisierten Stimmung und Atmosphäre von Einsamkeit und Verzweiflung, Bürokratie und Ausgeliefertsein. "Sie zeigen den Menschen als ein von mechanischen Gewalten getriebenes Etwas." Nüchtern und klar begegne die Inszenierung den bewegenden Zeitzeugnissen. "Merkwürdig, wie so ein düsterer, unheimlicher Abend zur Erhellung beitragen kann."

Im Zusammenklang von Sprachgewalt, apokalyptischen Geräuschen, die an den Metall-Sound der „Einstürzende Neubauten“ erinnern, und Bildprojektion gelängen "sicher eindrucksvolle Höhepunkte", schreibt Harald Gillen in der Nordsee-Zeitung (24.3.2014). Auf die Dauer der pausenlosen, zweistündigen Spielzeit freilich wirke die abstrahierende Gestaltung "eher wie eine abgehobene Fernsicht auf die in den Romanen gemachten erschütternd konkreten Erfahrungen".

"Eine nachtschwarze, lautstarke Totenmesse" hat Christine Dössel für die Süddeutsche Zeitung (24.3.2014) gesehen. Als Erzählung bleibe das Ganze bruchstückhaft, "ohne narrative Großrahmung". Als "Frontaltheater" sei es eine "Schmerzattacke auf unseren Humanismus". "Es ist aber auch ein manchmal fast ein wenig zu 'heilig' geratenes Requiem, ein Memento Mori von betörender Klanggewalt."

"Nichts wird hier wirklich gezeigt", sagt Michael Laages im Deutschlandfunk (23.3.2014). Sehr oft bleibe unklar, wer gerade spricht. "ES spricht; besser: ER. Der Krieg." Aber gerade weil sie sich so gründlich allem vordergründigen Spiel verweigere, könne Luk Percevals Inszenierung "überall zum Fanal von und für heute werden". Und so sei dies auch ohne alles "Theater" ein großer, bewegender Abend. "Er kann auch zutiefst traurig stimmen – angesichts der Beiläufigkeit, mit der gerade im Augenblick allüberall wieder nach dem Krieg gefragt wird; und manchmal ganz so, als wäre er nur ein weiteres Mittel der Politik."

"Front" zeige, was der Krieg mit denen macht, die in vorderster Front kämpfen, so Simone Kaempf in der tageszeitung (25.3.2014). Der Abend schieße aber "in seinem Mitteleinsatz weit über das Ziel hinaus". Er gerate "zum Kraftakt in düsterer Mollstimmung, die auf halber Strecke ins Monotone kippt. Man nimmt dem Abend die ernst gemeinte Trauer über das Leid ab, aber weniger Überwältigungsfuror wäre mehr gewesen."

"Front" vermeide die Peinlichkeit der fröhlichen Kriegsdarstellung in aller Ehrfurcht, so Peter Kümmel in der Zeit (27.3.2014). "Perceval will nicht darstellen, wie Soldaten von Kugeln getroffen werden; ihm geht es um den Moment, da die Kugel sich durch die Luft bewegt und die Menschen auf ihren Einschlag warten". Ein Impuls sei dem Abend anzumerken: zu unterrichten über die Verlorenen, den "unbekannten Soldaten" erstehen zu lassen. Auf die Moral des Abend können sich alle Völker verständigen können, "bei denen das Stück demnächst zu Gast sein wird, und das ist ein Problem des Abends: Man spürt so sehr den frommen Wunsch, der aus ihm spricht. Man will auch ästhetisch keine Fehler machen."

 

Kommentare  
FRONT, Hamburg: Mein kleiner Krieg
http://www.alexander-verlag.com/programm/titel/287-Mein_kleiner_Krieg.html
FRONT, Hamburg: mal was neues?
Was ich ja toll finden würde,wäre wenn irgendein Theatermensch mal was neues über die Kriegsjahre um 1914 zu sagen hätte.Illustriert worden ist das meiner Meinung nach bis zum Erbrechen!Aber was hat das mit uns gemacht .Das lebt doch fort,in der Sprache,in Rollenmodellen,in der Vorstellung davon was Stärke,Kraft,Macht ist.Da ist doch unser ganzes Denken von diesen Kriegern geprägt.
Ich finde diese buhu buhu Totenmessen fürchterlich nichtssagend.Da gibt es echt viel zu entdecken!Kommt man aber vielleicht nicht mehr auf alle Festivals.
FRONT, Hamburg: Lasker-Schüler und Mozart
jubelperser: manchmal hilft vielleicht besser ein schweigen, das zum begreifen führt. manchmal hilft, ein gedicht, eine sentenz ohne bühnenbimborium, das die verforgenen tiefen doch nur beschämt... z.b. lasker-schüler, die zu diesem thema, seinem vorher und seinen folgen bis ins heute ALLES sagt und zeigt, was es da zu zeigen und zu sagen gibt, ohnmächtig ihren gestorbenen, zerbrochenen, gefallenen freunden hinerher, von denen ihre welt um diesen krieg herum entleert wurde : WELTENDE und FRANZ MARC insbesondere 1. Abs. von „Der blaue Reiter“ bis „ihre unverstandenen Seelen.“, Abs. 2 von „Er ist gefallen.“ bis „,inseiner Hand.“ und
Absatzende von „Der blaue Reiter ist angelangt;…“ bis durchgängig Ende 3. Absatz „Das war alles vor dem Krieg.“Das abschließende Gedicht ist vom Schmerz zu lang geworden, ich würde empfehlen es einzukürzen wie folgt: Franz Marc, der blaue Reiter vom Ried,/Stieg auf sein Kriegspferd./(…)/Durch die Straßen von München hebt er sein biblisches Haupt/Im hellen Rahmen des Himmels./Trost im stillenden Mandelauge,/Donner sein Herz./Hinter ihm und zur Seite viele, viele Soldaten.“ Für den Rest sollte Mozarts Reqium, das unvollendete, genügen, ausnahmsweise und hilflos falsch gesungen von schauspielern… mehr bräuchte es nicht für ein gedächtnis von der bühne her – ihr post hat mich traurig gemacht um das theater heute, denn sie haben so recht…
Front, Hamburg: bin enttäuscht
Mit dem Dossier der ZEIT vom 20.03.2014 über die jungen deutschen Veteranen des Afghanistan-Kriegs im Hinterkopf sitze ich in diesem Theaterstück. Es passiert all das nicht, was ich mir von diesem Stück erhofft habe: ein In-Szene-Setzen, das nicht effektheischend illustriert, sondern durch mutiges Aufbrechen des Theaterraums über sich hinaus in unseren Gegenwartsraum verweist. Dieses Potenzial wird nicht genutzt, die Protagonisten verharren größtenteils vor ihren Pulten - eben "ohne alles Theater" (Deutschlandfunk). Und wenn sie sich aufmachen, dann für fragwürdige Aktivitäten wie Propeller spielen oder Football. So aber verbleibt das Stück in einem intellektuellen und hermetischen Guck- oder vielmehr Hörkasten, wie es Harald Gillen von der Nordsee-Zeitung ebenso wahrgenommen hat. Dabei sitzt und leidet doch einer der Afghanistan-Veteranen ums Eck, nicht weit entfernt in Scheeßel. Und andere in Afghanistan. Und womöglich morgen in der Ukraine. Ich bekomme das an diesem Abend nicht recht zusammen. Wenige Momente graben sich allerdings bei mir ein: z.B. dieser eindringliche langgezogene Ton - ein Heulen, ein Jammern, ein Wimmern? Es ist zugleich todesängstiges Verzweifeln des Soldaten im Lazarett und im nächsten Moment die Trauer um den toten Verlobten. Der abstrakte Ton vermag Assoziationen anzuregen und Verbindendes zwischen den Protagonisten offen zulegen. Den Kanonendonner und die Schreie teilen alle. Überhaupt schlägt einzig der Soundtrack die Brücke in meine Gegenwart: seien es die unterschiedlichen Sprachen, die man versteht, ein wenig versteht, gar nicht versteht. Und insbesondere die intensiven metallischen Klänge, dröhnend und krächzend, die durch Mark und Bein gehen. Es bleibt aber nicht beim Effekt, sondern hebt den Inhalt und das Geschehen auf eine abstrakte Ebene. Auf diese Weise können Grundthemen wie Leiden, Gewalt, Heldentum und physische Versertheit aufgezeigt und hinterfragt werden. Schade dass dieses Moment nicht durch eine schauspielerische Gestaltung unterstützt sondern nivelliert wird - es ist doch kein Hörspiel? Künstlerisch eindrücklicher waren für mich die Installation "The Repair" von Kader Attia auf der documenta(13), 2012, da hier unsere Position anhand des visuellen Eindrucks verhandelt wird; und unmittelbarer der Besuch des aufgerissenen Hartmannswillerkopfes im Elsaß. Ich bin enttäuscht und plötzlich auch ein wenig ärgerlich...
Front, Hamburg: was soll erzählt werden?
Wohlfeil ist so ein präzises Wort.Weil das sind inzwischen so viele Inszenierungen an den grossen Häusern.Produziert um gut auf dem nationalen und internationalen Festivalmarkt feilgeboten zu werden.Ein guter Slogan,ein simple leicht übersetzbare Botschaft und dann die Marketingmaschine in Gang gesetzt.Global Players am Werk.Nur was soll denn eigentlich noch erzählt werden?Und wem?Gibt es noch Geschichten oder nur noch flashig,schicke Oberflächen?
Front, Hamburg: Vorstellung eines Nicht-Theaters
Worte sind oft überhaupt wohlfeil und Schweigen teuer bezahlt. - Es war kein Vorschlag für eine Bühne, sondern eine Vorstellung von einem Nicht-Theater, das mir noch lieber wäre als ein behauptetes, das sich selbst nicht kennt... Solange das Theater - also die zeitgenössische Dramaturgie - denkt, dass es Echtzeit abbildende Geschichten, selbstgemachte Romanadaptionen oder Antike-Collagen für seine Zeitgenossenschaft benötigt, wird es zwangsläufig in der Illustration verharren, weil es sich selbst durch diese Erwartung den Spiel-Raum nimmt, mit dem es ins Heute ragen kann. -Herrgottwasredichhierfürgequirltescheiße
FRONT, Hamburg: Ekel
Was ich hier lese, erstaunt mich enorm: da ist also gerade eine Premiere und das Stück ist schon für so viele Auftritte an auswärts gebucht? Ist das alles nach der Erstbesichtigung, also sofort nach der Premiere, geschehen? Wie geht das? Werden Inszenierungen unbesehen nach Themen-Auswahl eingebucht? Kann man so etwas aushalten als Regisseur, ohne an sich selbst zu (ver)zweifeln? …
Das alles erinnert mich seltsamerweise an etwas, was ich am Theater abgrundtief hasse… Kommt man an ein Theater und Leute haben irgendwie den Eindruck, man könnte dem Theater etwas geben, dann geschieht folgendes (und man darf sich dann schon als privilegiert begreifen bitteschön!!!): „es interessiert uns, was sie denken, fühlen und wie sie das ausdrücken, deshalb lassen sie doch davon mal im o-ton was hören, sie haben dreißig sekunden, ab jetzt---“ Und dann wundert man sich an den Häusern, dass in ihnen die Geschichten abhandenkommen…
Und was geht da so im Großen?: „oh mann, das steckt ja so wahnsinnig voller emotionen so ein krieg, welchen nehmen wir denn da gerade – ah,ja 2014- 1. weltkrieg, 100jähriges!, da ist ja so wahnsinnig viel schmerz und so rauszuholen, das ist ja waahnsinn, wie das die leute überall beeindrucken wird, wo die doch alle 2014 an den 1. wk denken! – wat rollenbilder? einfluss der krieger und kalten krieger und kriegssehnsüchtigen krieger, die sich nur noch nicht so richtig trauen, wieder auszuziehen? auf uns? hier im theater? aus welchem stall kommst du denn, du musst nicht von hier sein, was? nein, du null, w i r sind beeindruckt und geben weiter, wie beeindruckt man sein kann, und zwar an das sinnlich unterprivilegierte publikum! das nennt man berufung, du sinnes-null“ – WARUM verdammte sch…, kann das Theater angesichts des noch gar nicht so weit entfernten Kriegs-Wahnsinns und seiner Opfer auf allen Seiten nicht einfach mal die politkorrekte Jetztzeit-Klappe halten? Denkt es, das Publikum braucht diese Art Betroffenheitserziehung? Oder Nachhilfe in sinnlicher Wahrnehmung? Muss es deshalb vielleicht damit herumreisen? Weil das Publikum an Ort und Stelle nämlich schon von ganz alleine denken und fühlen und betroffen sein kann und vom Theater zunehmend weniger erfährt, woran und warum und wovon? Wie z.B. man davon beim Alleinsein mit so einem Roman wie dem von Remarque erfahren kann. (romane werden aus zurückhaltung geschrieben. schreiben ist eine große diskretion. eine aus respekt vor einem publikum in gestalt eines einzelnen fühlenden, denkenden, sich mit sich selbst verständigenden lesers. ein romanautor, der noch lebt, sollte ein theater verklagen, wenn es unter umgehung seiner person seine sprache für handlungseffekte missbraucht!) Wie man auch z.B.im Elsass allein mit sich und dem, d i e s e m, Berg erfahren kann. Wie man ahnen kann bis ins heute hinein die akute Gefahr mit z.B. Alex Empire oder Hannin Elias bestöpselt im Ohr. – Einmal mehr weiß ich nicht, warum ich in dieses Theater fahren sollte oder in irgendein anderes.
Einmal mehr hab ich vor (müden?wuttränenden?) Augen, wie ein Publikum mit Kind und Kegel, Picknickkorb und Klappsesseln zum bequemeren Sitzen für die Altvorderen zu diesem kleinen Ort strömt, an dem so ein kleines Privat-Theater, immer auf Reisen sonst, am Heimatort spielt. Die Chefin ist eine französisch sprechende Russin, die mit einem spanisch sprechenden Portugieser oder Basken lebt, einem relativ kleinen, athletischen Mann mit einem rachitisch anmutenden Brustkorb. Sie sind insgesamt 5 oder höchsten 7. Alle großartige Schauspieler. Wenn sie die Möwe im Freien spielen und der Spielintensität wegen mal an der einen Stelle ins Russische oder Französische oder ins Spanische ausweichen, ist das immer organisch, nie aufgesetzt. Sie haben es nicht nötig, Internationalität zu präsentieren, weil sie verinnerlichte Selbstverständlichkeit ist. 5 Stunden offenbar notwendige Interviews eines neomigrantpositivistischen Theaters erledigen die mit einem einzigen Tschechow-Satz und ein paar Gesten… Und dieser kleine Mann, schon etwas älter, spielt sie alle: die Helden, die Liebhaber, die Clowns. Man konnte sie ihm immer abnehmen… Niemand musste dort wegen effektvoller Internationalität extra gecastet werden. Wo Internationalität selbstverständlich ist, genügt das Über- und Untertiteln als Entgegenkommen fürs Publikum. Oder eben die Unterhaltung mit dem Publikum in seiner Sprache. Oder eben der anteilig fremdsprachig gesprochene Text, wo er Weltliteratur ist und in Übersetzung dem französischen Schauspieler eben in Französisch geläufiger hier und dort, wo es mimetisch eben besonders schwierig wird –
Nein, ich versteh das Theater nicht mehr. Ich verstehe es nicht. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Ich bin zu dumm und/oder blind für es, oder es ist mir zu dumm und/oder zu blind. Zu respektlos gegenüber Publikum. Zu charakterlos gegenüber den Geschichten. Zu lieblos gegen das Leben… Ich wüsste gern, wie das geht, wie man das hinbekommt, „etwas ärgerlich“ deshalb zu sein, denn mich ekelt das nur noch an und das ist kein gutes Gefühl-
Front, Hamburg: Persönlicher Riss
Hhm. In dieser Diskussion sind serh viele sehr alllg. Meinungen über das Theater im Allgemeinen drin, denen ich teilweise unterstelle FRONT nicht gesehen zu haben. Weil eine neue Erzählweise in Bezug auf Kriegsdarstellung hat FRONT sicher anzubieten (@2) und die Internationalität ist bei Perceval sicher nicht aufgesetzt sondern im Sinne der von Dorit beschriebenen Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit der jeweiligen Szene sehr stimmig und ehrlich. Ich würde sagen, das ist eine der Qualitäten des Abends: Perceval kann diesen persönlichen Riss (Belgier und Deutscher ob seiner Arbeit) sehr gut vermitteln und der Krieg in seiner Gleichförmigkeit für beide Seiten wird deutlich.
Ich schließe mich eher der ZEIT an. Der Bezugund zur Gegenwart und damit meine Moglichkeit emotional anzudocken wird leider nicht ermöglicht, weil die Haltung des Abends so universal und für alle Menschen verständlich ist, dass man sich nicht positionieren kann. In meinen Augen rennt der Abend in teilweise (auch durch die Musik) so "richtig und korrekt anteilnehmenden" Stimmungen und Bildern alzu offene Türen ein. Es mag ja niemand mehr ernsthaft behaupten der erste Weltkrieg sei ein Ruhmesblatt der Europäischen Geschichte. Also benötige ich als Zuschauer etwas konkretere Bilder, Konflikte und Haltungen als nur "Der erste Weltkrieg war für alle Beteiligten ein großes Sterben und hatte keinen Sinn." so wahr das sein mag.
Als "Messe" funktioniert der Abend aber schon. Es ist faszinierend wie kurzweilig zwei Stunden fast reiner Text dann doch sen können. Aber um heute wirklich zu wirken, angesichts der angesprochenen Kriegs- und Veteranenkonflikte im Deutschland 2014 erst recht, ist der Abend zu konfliktscheu und eindeutig.
Aber bitte: schaut euch das doch an bevor ihr hier allgemeine Sachen zur angeblichen Theatermisere loslasst. Weil der Abend ist sicher nicht gefällig und dem gegenwärtigen Trend zur Romanberarbeitung und dem Zwanghaften Gegenwartsbezug folgend. Im Gegenteil. Aufrichtig spröde.
Und das man einen renomierten Regisseur wie Perceval bei einem mit Bundesmitteln geförderten internationalen Projekt schon vor der Premiere zu Gastspielen und Festivals einläd ist doch verständlich und normal. Die sind doch im Vorhinein an der Produktion beteiligt. Anders kommen solche Projekte doch gar nicht mehr zu stande. Es ist ja kein "Auswahlfestival" wie das Theatertreffen oder so dabei.
Also fahrt zu einem der Spielorte und schaut.
Front, Hamburg: Kritik an der Kritik
8: Okay, das kann man so annehmen als Kritik an der Kritik und sich Asche aufs durchschwurbelte Haupt streuen...
FRONT, Hamburg: sich dem Unbegreiflichen nähern
FRONT macht nicht den Fehler, den Krieg darstellen zu wollen, er nähert sich – und uns – dem Unbegreiflichen über die, die dabei waren – ihre Augen, ihre Worte, ihren Schmerz. Es sind Schatten, Schemen, längst Vergangenes, die hier sprechen und die sich der Vergangenheit nicht entreißen lassen. Und doch spricht dieser rhythmische Sprachfluss, dieser sich aus dem Wortmaterial herausschälende kollektive Klagegesang, der stets polyphones Zusammenspiel individueller – und auch als solche sichtbar werdender – Einzelstimmen bleibt, zu uns, ruft aus einer nicht vorstellbaren Welt herüber, die doch Teil des Fundamentes ist, auf dem wir heute stehen, mahnt nicht, sondern erzählt. Von denen die waren und vom Schmerz, der sich verdrängen lässt und der doch nicht enden will, solange wir die wunden immer wieder aufreißen. Perceval braucht keine Vergegenwärtigung, ihm reicht die banal klingende Erkenntnis, dass hier Menschen litten und verzweifelten und starben im vollen Bewusstsein der Sinnlosigkeit ihres Tuns. Unser Frieden ist gedüngt auch von ihrem Blut.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/06/06/der-blick-der-toten/
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