Echte Radikalromantik

von Matthias Weigel

Berlin, 28. März 2014. Es gibt zwei grundverschiedene ästhetische Entwürfe von Theater. Einerseits der Kunst-Diskurs, derzeit dominiert vom Nicht-Verstellen, dem Präsentieren und Zeigen. Die Welt und ihre Themen sollen demnach möglichst direkt und echt ins Theater geholt und diskutiert werden. Dazu gehört, nicht einfach über die künstliche Theatersituation hinwegzugehen, sondern deren Bedingungen mitzureflektieren. Demzufolge wird die politische Kraft des Theaters auch nicht unbedingt in der Äußerung konkreter Forderungen gesehen, als vielmehr in der Sprengkraft bestimmter (offener) Formen, spezieller Akteur-Zuschauer-Konstellationen oder in der Arbeit mit Schauspielern, die unseren Sehgewohnheiten widersprechen.

Und dann gibt es den anderen Weg, für den sich Jette Steckel mit seltener Konsequenz entschieden hat. Mit Sartres "Das Spiel ist aus" hat sie ein Drehbuch als Vorlage gewählt (1947 von Jean Delannoy verfilmt), dem sein angedachter Zweck deutlich eingeschrieben ist – durch temporeiche Parallelmontagen ebenso wie durch die hollywoodreife Story. 

Neues Spiel, neue Chance

Pierre und Eve, ein ermordeter Revoluzzer aus der Arbeiterschicht und eine vom intriganten Gatten vergiftete Oberschichtenlady, treffen sich als Tote. Sie können fortan ungesehen durch die Welt flanieren, aber auch keinerlei Einfluss mehr nehmen. Nichts wünscht sich das frischgebackene und unfreiwillig platonische Liebespaar sehnlicher als die Rückkehr ins Leben. Als sie schließlich die Chance erhalten, können sie doch nicht aus ihrer Haut und handeln wie zuvor, was wiederum ihr – zweites und endgültiges – Todesurteil bedeuten wird.

Es ist die andere Herangehensweise, das Theater als Gegenentwurf zur Welt und zum Alltag zu sehen, als einen besonderen Möglichkeitsraum der Verwandlung, des Weltenwechselns, des Verschwindens und Auftauchens. Aus der Beobachtung einer anderen Wirklichkeit sollen sich Erkenntnisse gewinnen lassen, die auch auf unsere Welt übersetzbar sind. Jette Steckel lässt ihre Schauspieler also mit voller Wucht und seltener Ernsthaftigkeit Sartres Rollen spielen, fühlen, sich überstülpen.

Hyperrealistische Verwandlungen

Die Einleitung sehen die Zuschauer, die diesmal auf der Bühne Platz nehmen, tatsächlich als aufwändig vorproduzierten Film (im Stile Adam Magyars). Doch dann setzt sich die Theatermaschinerie in Bewegung, es kreiselt schummrig, der Vorhang öffnet sich, und wie Gott sie schuf, finden sich die beiden Toten in den samtroten Sitzreihen des eigentlichen Zuschauerraums wieder. Hier ist ihr Zwischenreich, aus dem sie keinen Ausgang finden, die Zuschauer sind die Lebendigen, zwischen denen sie ungesehen herumgeistern können. Eve und Pierre treffen andere Tote und verbringen ihre Zeit, zuzuschauen, was ihre Hinterbliebenen so treiben.

19636 spiel ist aus 1171 560 arno declair h Rädchendreher in "Die Spiel ist aus", v.l.n.r.: Ole Lagerpusch, Alexander Khuon, Natali Seelig
© Arno Declair

Selten kann man Schauspieler so hemmungslos ernst beim Verwandlungsversuch beobachten, dass einem die Fremdschamesröte ins Gesicht steigen will. Da wird sich so richtig verliebt, da wird sich so richtig aufgeregt, da ist man so echt schüchtern. Ole Lagerpusch als Revoluzzer Pierre zerpfeffert vor Enttäuschung über den aufgedeckten Anschlag so richtig ein Rednerpult am Bühnenrand. Judith Hofmann als unglückliche Milizführer-Braut nestelt so richtig vor Schüchternheit an ihrer Halskette, als sich die beiden sich in ihrer zweiten Chance als Lebende wieder treffen. Hyperrealistisches Kameraschauspiel, das allerdings über die Hälfte der Zeit im Theater und ohne Naheinstellung stattfindet. Auch dass die Situationen und Reaktionen nicht immer realistisch und nachvollziehbar sind, führt zu vermehrt unfreiwilliger Komik.

Silhouetten im Gegenlicht

Die Fremdtexte, die Steckel einbaut, handeln von Freiheit und Entscheidungslast bzw. -macht, von Sterblichkeit, vom Sterben und vom Leben. In dem filmrealistischen Umfeld sind es schon fast irritierende Momente, wenn im privaten Streitgespräch mal so nebenbei noch eine philosophische Grundfrage durchdiskutiert wird. Doch das Dauerfilmmusikgedudel von The Notwist hält den Dampfer zusammen und geschmeidig am Laufen.

Ebenso brät einem die inhaltliche Übertragung derart eine über die Zwölf, dass man nicht weiß, ob man angesichts dieser Naivität weinen oder lachen soll: Die Milizführerfamilie wohnt im schicken Großstadtloft, der autokratische Regent ist der Kanzler, der die nächste Wahl gewinnen will. 

Dazu sich küssende Silhouetten im Gegenlicht, ein in den Nebel gezeichneter Lichttunnel, Kugelhagel aus Maschinengewehren, zusammensackende Körper. Allein der Fakt, dass in diesem großen Melodrama alle dermaßen ernst und konzentriert bei sich und der Sache sind, hält einen davon ab zu brüllen: Was zur Hölle macht ihr da?

Hollywood-Aphorismus

Der intellektuelle Erkenntnisgewinn der eingewebten Hollywood-Aphorismen, die es also anhand der Geschichte zu entschlüsseln gilt, hält sich in Grenzen. Ins Grübeln komme ich über etwas anderes: darüber, wie ungleich mehr mich diese unverdrossene Theaterromantik, diese Vehemenz der Verwandlungsbehauptung irritiert, als es ein nach allen Regeln der Postdramatik ironisiertes Diskurstheater tun würde. Vielleicht ist das mein persönliches Problem oder ein Großstadttheater-Problem oder auch gar kein Problem. Oder aber Filmrealismus wird gerade zum neuen Verfremdungseffekt in einer ironiegesättigen Theaterwelt. Jette Steckel wird man dann zu den Radikal-Theatermachern zählen müssen.

Das Spiel ist aus
von Jean-Paul Sartre, Deutsch von Alfred Dürr und Uli Aumüller. Für die Bühne eingerichtet von Peter Hailer, Andreas Schäfer und Claudia Grönemeyer
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Musik: The Notwist, Video: Alexander Bunge, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Judith Hofmann, Ole Lagerpusch, Alexander Khuon, Barbara Heynen, Natali Seelig, Elias Arens, Anne Wels, Till-Jan Meinen, Margitta Azadian, Mohammed Azadian, Martin Heise, Felix Hübner, Till-Jan Meinen, Karolina Nägele, Valentin Olbrich, Nina Philipp, Ray Reimann, Dieter Zühlke, Ilka Zühlke.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Mehr Sartre-Inszenierungen: Sebastian Baumgarten hat Das Spiel ist aus im Februar 2012 in Stuttgart inszeniert. Jette Steckel inszenierte Die schmutzigen Hände im Januar 2012 am Deutschen Theater Berlin.

 

Kritikenrundschau

"Jean-Paul Sartre hat 'Das Spiel ist aus' als deterministisches Denkspiel geschrieben: Wie viel Freiheit haben wir, zu leben, wie wir leben wollen? Wie 'echt' ist das Leben?", in der Fassung von Regisseurin Jette Steckel ist alles sehr echt, der Tod, das Drama, die Liebe sowieso, schreibt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (31.3.2014). "Mit großer Lust auf Pomp und Pathos pfeift sie auf Ironie und Verfremdung und setzt einen poetischen Budenzauber in Gang", so dass einem zwischen opulenten Filmsequenzen, einem nebelumdampften Lichttunnel und dem Drehscheibengekreisel bisweilen Hören und Sehen vergehe. "Übrig bleibt eine recht oberflächliche, aber immerhin hübsch romantisch bebilderte hollywoodreife Love-Story."

Weißer Nebel suppt in den Saal, eine lange Lichtröhre öffnet sich, in der sich zwei Silhouetten küssen, "das ist kitschig, aber das ist auch wunderschön. Theatermagie", findet Tobias Becker auf Spiegel online (31.3.2014). Allerdings gibt der Abend sonst nicht viel her, über das es sich zu sprechen lohne, denn die Regisseurin habe eine hohle Version von Jean-Paul Sartres 'Das Spiel ist aus' ins Deutsche Theater Berlin gestellt, so Becker. "Steckel interessiert sich für melodramatische Effekte: für Nebelmaschinen und für Scheinwerfer, für Kunstfilm-Projektionen und für Plastikschnee-Geriesel." Das Theater wird mit reichlich Bühnenzauber und ironiefreiem Innerlichkeitsgepose eingefangen, "was ja so falsch nicht wäre, wenn Steckel dabei den Text nicht aus den Augen verlöre"; halbherzig sei ihr Versuch, die Vorlage ins Heute zu übertragen.

Es gehe dieser Inszenierung um alles, "und alles, das ist: Leben, Tod und Liebe vor allem, aber auch das Recht auf Widerstand, die Rebellion, die Zukunft des gesellschaftlichen Miteinanders", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (31.3.2014). Es sei ein "unerhört ehrlicher, vielleicht naiver, seltsam berührend schutzloser" Abend. "Er stellt die Frage nach dem Sinn, dem Wozu und Wohin." Gemeinhin habe sich unsere Zeit abgewöhnt, sie derart direkt zu stellen; "es kommt ihr peinlich, unangemessen vor, als gehörte sie unter Erwachsenen nicht mehr erörtert." Dass er sie dennoch stelle, spreche nicht gegen ihn, "im Gegenteil". Es sei "hemmungsfreies Emo-Shooting-Theater". "Aber es ist auch ein Spiel mit den Effekten, das die Bühne wie eine große, bestaunenswerte Wundertüte behandelt, immer in der hehren Hoffnung, etwas zu fassen zu bekommen, mit dem sich das Spiel zur Wirklichkeit erlösen lasse." 

Ziemlich kurzatmig habe Steckel Sartres Text "als Verbotene-Liebe-Story zwischen weißblusiger Oberschichtstussi und coolem Lederjacken-Anarcho" ins Hier und Heute übersetzt, so Christine Wahl im Tagesspiegel (31.3.2014). Man müsse der Regisseurin zugute halten, dass schon Sartres Text "etwas hölzern zwischen Liebespathos, revolutionärem Auftrag und philosophischer Thesenillustration hin und her mäandert" und in den letzten 67 Jahren nicht frischer geworden sei. "Nur leider sieht er eben auch am DT –Perspektivwechsel hin, Modernisierungsversuche her – kein bisschen jünger aus, als er ist."

Das Schwadronieren über Klassenkampf, Freiheit, Volksherrschaft, Sein und Bewusstsein "mag uns postmodern Desillusionierten, trotz aller wohlfeil weltverbesserischer Träumerei, einigermaßen entlegen sein", findet Reinhard Wengierek in der Welt (1.4.2014). "Doch die Regisseurin Jette Steckel meint unglücklicherweise, nicht lassen zu dürfen von Sartres Theoriegeschwurbel, das auch an keiner Stelle klarstellt, ob Revolutionen den Fortschritt nun tatsächlich befördern oder eher nicht. In diesem Diffusen erstickt ihre Inszenierung, die sich nun flüchtet in Schlachten mit dem Material."

In der Süddeutschen Zeitung (2.4.2014) schreibt Mounia Meiborg, es gelänge Jette Steckel nicht, den Stoff in eine universelle Jetztzeit zu übertragen. "Sie vertraut dem Text offenbar selbst nicht. Jedenfalls werden zwischendurch Georg Büchner und Milan Kundera zitiert." Es sei "Bildertheater, das überwältigen will und dies ab und zu auch schafft. Das hat dann nichts mit Schauspiel zu tun. Sondern mit Licht, Nebel, Technik. Und die Filmbilder, eine hippe Mischung aus Film noir und Nouvelle Vague, zeigen, was am Existenzialismus heute noch dran ist: Er sieht ganz gut aus."

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