Mörderglück mit Rinderrouladen

von Dennis Baranski

Karlsruhe, 29. März 2014. Theaterprojekte, die sich der rechtsextremen Terrorgruppe NSU widmen, gibt es dieser Tage reichlich, doch was Rechercheaufwand und Materialfülle anbelangt, setzt das Badische Staatstheater Karlsruhe wohl Maßstäbe. Jan-Christoph Gockel und Konstantin Küspert sammelten ein knappes Jahr lang Fakten und Hintergrundinformationen, fanden historische Parallelen und Randnotizen, sprachen mit der Bundesanwaltschaft und Rechtsextremismus-Experten, besuchten Dachau und den laufenden Prozess in München – und vermengten all das zu ihrem nun uraufgeführten dokumentarischen Theaterprojekt "Rechtsmaterial".

Beate und die Uwes könnten auch Leo, Friedrich und Alexandra heißen
Im muffigen Studierzimmer auf Julia Kurzwegs Studiobühne diskutieren aber keineswegs Böhnhardt und Mundlos, sondern der politisch unbedeutende, später zum "ersten Soldaten des dritten Reiches" verherrlichte Terrorist Albert Leo Schlageter und sein Kommilitone Friedrich. Eben kämpften sie noch stolz fürs Vaterland, jetzt büffeln sie Nationalökonomie und erdulden mühsam die Schmach des verlorenen ersten Weltkriegs. Eine Perspektive können sie in der jungen Demokratie nicht erkennen. Der chronische Krisenherd ist indes schnell ausgemacht: die Wirtschaft. Kein Kraut sei gegen diese gewachsen, sondern "Notverordnungen, Leitzins und Rettungsschirme", unkt Thomas Halle rotzig mit Berliner Schnauze. Als Friedrich Thiemann brennt er für den Widerstand und poltert laut radikale Weisen, die eigentliche Gefahr gärt aber in seinem missmutigen Kameraden. Korrekt und zurückgenommen lässt Matthias Lamp seinen Schlageter verhasste Verhältnisse hinnehmen, überzeugt, größer angelegte Rachepläne von höchster Stelle seien bereits in Planung. Sie sind es nicht. Doch erst als Alexandra das Trio komplettiert, bricht sich seine wahre Gesinnung Bahn.

Schauspielerin Sophia Löffler entlarvt als überzeichnet einfältiger Idealtypus deutlich die propagandistischen Mechanismen der dramaturgischen Vorlage, die hier nachgespielt wird: Hanns Johsts antifranzösisches Stück "Schlageter", die der expressionistische Dramatiker Hanns Johst in glühendem Eifer Adolf Hitler widmete – und die an dessen Geburtstag 1933 uraufgeführt wurde.

rechtsmaterial3 560 felix gruenschloss uZeitebenen überschreiben Zeitebenen in "Rechtsmaterial"© Felix Grünschloß

Gockel und Küspert lassen erst jetzt hinter den offenbaren Parallelen Böhnhardt, Mundlos und Tschäpe palimpsestartig durchschimmern, noch bevor Zeitgeschichte allmählich formal und stilistisch die Weimarer Republik überlagert und Ronald Funke, Simon Bauer, Thiemo Schwarz und Daniel Friedel in weißen Tatortanzügen den Grundriss der "konspirativen Wohnung" – der letzte Unterschlupf des Terror-Trios in Zwickau – auf den Bühnenboden zeichnen. In wechselnden Rollen formieren die vier Mimen rechtsextremistische Netzwerke, die sich vom angesehenen Würdenträger bis zum kahlköpfigen Schläger durch unsere gesamte Gesellschaft ziehen, während auf einer eilig hingepinselten Leinwand Originalaufnahmen des Trios großformatig sowohl drei gelangweilte Jugendliche als auch den Ausgangspunkt einer beispiellosen Mordserie dokumentieren.

Unbekannte Dimensionen von Grausamkeit
Diese historischen Dokumente sind für das Projekt Segen und Fluch zugleich. Unbestritten ist hier ein gewinnbringender Theaterabend von Relevanz entstanden, der weit ausholt, um diese spezielle Ausprägung des Rechtsextremismus als Kontinuität der Deutschen Geschichte herauszuarbeiten – und das mit Erfolg. Beharrlich und genau graben sich Gockel und Küspert auf der Suche nach dem Ursprung des Hasses durch vergessene Verbrechen, Anschläge oder Ausschreitungen und finden dabei eindringliche Bilder, die gewiss niemanden kalt lassen werden. Wenn etwa das Trio in familiärer Einigkeit nach einem verübten Mord unerträglich friedlich Rinderrouladen speist, während die Übrigen Umrisse von zehn Leichen auf den Boden zeichnen, lässt das Stück ungekannte Dimensionen von Grausamkeit erleben.

Solche kraftvollen Momente können allerdings ebenso wenig wie ein durchweg starkes Ensemble verschleiern, dass das ehrgeizige Unterfangen unter der überbordenden Stoffmenge zusammenzubrechen droht. Sicher, die präzisen Prozessbeobachtungen schockieren, und um Stellung zum Versagen der Behörden zu beziehen, genügt die Einspielung eines Interviews von Helmut Roewer völlig, doch auch Heidegger, Seiters, Waigel, Rüttgers, Kupfer, Stoiber, Kohl oder Schlingensief – um nur einige zu nennen – kommen zu Wort. Trotz aller Bemühungen, diese riesige Materialsammlung übersichtlich zu sortieren, zerfasert der Abend unübersehbar. 

 

Rechtsmaterial (UA)
von Jan-Christoph Gockel und Konstantin Küspert
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüme: Sophie Du Vinage, Video: Florian Rzepkowski, Dramaturgie: Konstantin Küspert, Theaterpädagogik: Anne Britting.
Mit: Matthias Lamp, Thomas Halle, Sophia Löffler, Simon Bauer, Ronald Funke, Thiemo Schwarz, Daniel Friedl.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Mehr zum NSU auf deutschen Bühnen: In Frankfurt inszenierte Christoph Mehler Anfang Februar die Uraufführung von Lothar Kittsteins NSU-Stück Der weiße Wolf. Für das Deutschlandradio überblickte Elske Brault unlängst diese und andere NSU-Terrorverarbeitungen – hier unsere Presseschau.

Parallel zur Premiere eröffnete am Badischen Staatstheater auch die Ausstellung Opfer rechter Gewalt. Sie läuft dort noch bis in den Juni.

 

Kritikenrundschau

Das "an die Bühnenrückwand gebeamte Videomaterial" findet Elske Brault im SWR 2 (online am 31.3.2014) "genial gefunden und aufschlussreich". Rechtsterroristische Gesinnung von 1918 bis heute: "Als Geschichtsvorlesung wäre das interessant", so Brault. "Allein, wir sind im Theater, per Definition in einem Spiel, aber dieses Spiel findet in 'Rechtsmaterial' nie statt." Allerlei Schnickschnack wie Hakenkreuz-Handtäschchen oder ein Christoph Schlingensief O-Ton könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier nichts sei wie bei Schlingensief. "Der Text hat keine Substanz, die Inszenierung keine anarchische Kraft, und überhaupt wirkt Regisseur Jan-Christoph Gockel rettungslos überfordert beim Versuch, die Materialfülle zu ordnen und szenisch zu präsentieren."

Gegen das Vergessen nicht nur der NSU-Taten stehe diese Aufführung mit ihren "bemerkenswert verbundenen" Dokumenten, meint Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (31.3.2014). Die Schlussfolgerungen aus den präsentierten "Mosaiksteinen" überlasse die Aufführung dem Zuschauer – "nicht ohne ihrerseits das Problem des Schlussfolgerns zu thematisieren". Es sei dem "stark aufspielenden Ensemble" zu verdanken, dass man in all den Querverweisen und Assoziationen nicht den Faden verliere. Der Abend zeige insgesamt "eindrucksvoll", "wie anregend und vielschichtig sich Theater eines Themas annehmen kann, wenn es seine Formenvielfalt klug einsetzt."

Es sei ein Wagnis, die Geschichte des NSU auf die Bühne zu bringen. In Karlsruhe gelinge es, schreibt Jochen Neumeyer im Badischen Tagblatt (31.3.2014). Das "Heikelste an einem NSU-Stück" sei wahrscheinlich die Frage, wie man Zschäpe darstellt. "Sophia Löffler versucht gar nicht erst, der echten Zschäpe ähnlich zu sein." Die Figur werde überzeichnet, den Rezensenten überzeugt dieser Ansatz ebenso wie die Bühne von Julia Kurzweg und ihre "Lösungen, um den Bogen von en Rechtsterroristen der Weimarer Zeit in die 90er Jahre zu spannen".

"Rechtsmaterial" sei "ein typischer Fall von Überrecherche", so Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (1.4.2014). Trotz der Materialfülle gelinge es, "die dokumentarischen, historischen und literarischen Fragmente, Texte und Videos als überzeugende Collage aufzubereiten". Allerdings neige Gockel dazu, die Figuren zu karikieren; der ironische Duktus entschärfe die radikale Gesinnung. "Bemerkenswert ist der Abend dennoch wegen der Querbezüge und historischen Details. Wobei allerdings die Opfer aus dem Blick zu geraten drohen."

Die Inszenierung zeige "beklemmende Parallelen zwischen der Krisenhysterie der Weimarer und der Berliner Republik auf", so Dieter Bartezko in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.4.2014) – und scheitertere doch, weil sie zu viel wolle. Der Abend versuche, die Täter zu erforschen, schrecke aber vor der eigenen Courage zurück. "Bei derart steil gerecktem Zeigefinger stellt sich irgendwann die Todsünde des Theaters ein: Langeweile."

In der Frankfurter Rundschau (2.4.42014) schreibt Judith von Sternburg: "Die stärksten Szenen des Abends sind die, in denen das Gespräch zwischen den Johst-Figuren wie von ungefähr ins Heute wechselt. Im Ton muss sich da gar nicht viel ändern, eine Tradition scheinbar sachlichen Schwadronierens wird mühelos offengelegt." Die Tücken seien allerdings, dass der alte Text "unheimlich fade" sei, so konsequent dessen Verwendung auch sei. "Drittens ist die Materialfülle so groß, dass der Zuschauer droht, darin unterzugehen. (...) Das allgemeine Neonazitohuwabohu und auch die kinderfernsehhaften Erklärungen & Sortierungen, die sich zwischendurch auftun, muss hingegen der Theaterabend verkraften."

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