Vorbewusster Zustand

von Christian Rakow

Berlin, 4. April 2014. Warum eigentlich "Woyzeck III"?, fragte ich am Pressetisch vor der Premiere. Weil es im groben drei Teile gäbe (um es vorweg zu nehmen: sie wirkten wie einer, mit einem Exkurs), weil Woyzeck gewissermaßen in drei Figuren aufgespalten wäre (worüber man bei den vier männlichen Darstellern dann doch trefflich rätseln konnte) und auch weil "Terminator III" anklingen dürfte. Ah ja. Wenn damit ein Fingerzeig in Richtung Endzeitstimmung gegeben werden sollte, so hat er sich eingelöst. Wobei die Endzeitstimmung kaum von Urzeitstimmung zu unterscheiden war.

Regisseur Mirko Borscht und sein Team haben sich in ihrer Stückentwicklung "Woyzeck III – Magic Murder Mystery" (frei nach Georg Büchner) ganz in die – wie sie es deuten – archaische Disposition des Büchner-Helden vertieft. Die Kreatur Woyzeck ist triebhaft, die Kreatur muss morden. Und nicht nur sie. Denn: "So klein und belanglos unsere Morde auch sind, sie sind Gott gewollt. Es ist die Ur-Schuld, die wir wieder und wieder morden", so sagt es Falilou Seck, dem an diesem Abend die Rolle zufällt, in alttestamentarischer Besinnung von der Erbsünde zu künden.

Gewaltfantasien

Dunkel ist der Raum, Friederike Bernhardt streut vom Piano her finstere Moll-Akkorde ein. Inmitten von Totenkerzen (die das Publikum zum Einlass auf der Bühne platziert hatte) liegt eine Frauenleiche: Marie (Mareike Beykirch, die Augenränder auf verbrannt geschminkt). Seck (als Tambourmajor?) gesellt sich zu ihr, der Beischlaf mutet nekrophil an.

woyzeck 560 thomasaurin uZwei von drei Woyzecks: Tamer Arslan, links, und Till Wonka, rechts © Thomas Aurin

Tamer Arslan, unter schmuddeliger Langhaarperücke, als einer der Woyzecks, wird anschließend über diese Intimszene in einen Streit mit Marie geraten. "Ich will, dass du mich schlägst. Komm! Komm, schlag mich! Schlag mich!", brüllt Marie ihn an. "Du Lusche, bring mich um." Und Till Wonka, ein zweiter Woyzeck, ebenfalls mit Rockermähne, brüllt hinter dem Eisernen Vorhang: "Ja, bring sie um!" Während er brüllt und auch sonst, hackt er mit einem Beil auf nackte Frauenpuppen ein, die wie zu einem rituellen Kreis zusammengelegt sind. Man sieht es per Videobild.

Autorität der göttlichen Stimmen

Das alles ist in seiner fast schon hermetischen Ernsthaftigkeit, in seinen bohrenden Gewaltfantasien, in seiner wallenden Gothic-Düsternis durchaus stimmig, gleichwohl auch schrullig. Ein obskures Totenfest. Aber dann öffnet sich der Abend plötzlich unvermutet zum Publikum und bietet in einem gut zehnminütigen, bestechenden Monolog von Dimitrij Schaad einen kulturgeschichtlichen Abriss, für den Universitäten ganze Semester benötigen würden: Wie die "Stimmen der Götter" einst das Handeln primitiver Gemeinschaften strukturierten, vernehmen wir, und wie sie letztlich der Stimme des Bewusstseins wichen.

woyzeck 280a thomasaurin uDie tote Marie © Thomas Aurin Wie Sprache an dieser Bewusstwerdung Anteil hatte, und wie die Kunst von alters her die Sehnsucht nach den göttlichen Stimmen gepflegt und also daran gearbeitet habe, in den vorbewussten Zustand auszubrechen. Kein leichter Stoff, und doch mit aufbrandendem Szenenapplaus begrüßt. Hier ist der Beweis angetreten worden, dass man uns im Theaterpublikum durchaus auch mal etwas durchformulierte Theorie und Reflexion zumuten kann, nicht immer nur hingeworfene Wissenshäppchen. Allein dafür wird mir dieser Abend unvergessen bleiben.

Allerdings lernt man in dem Exkurs auch: Die Stimmen der Götter waren für die alten Menschen (mit denen Woyzeck zusammengedacht wird) genau genommen weiterklingende Handlungsanweisungen ihrer realen Autoritäten, der ersten Könige, der Imperativgeber der Gemeinschaft. Büchners "Woyzeck" führt solche Autoritäten bekanntlich in Figuren wie dem Hauptmann oder dem Doktor vor. Seine Schizophrenie hat eine soziale Grundierung. Bei Borscht und seinem Team verblasst diese konkrete Verankerung zugunsten einer ominös mythischen Allgegenwart einer unablässig beschworenen Rachegottheit.

Mit Kannibalismus-Touch

Und so verliert sich die Inszenierung wieder ins vergessbare Raunen. In ihrem langen Schlussteil verabschiedet sich die Live-Klaviermusik ins Elektro-Gefiepe, der Eiserne Vorhang öffnet sich, Nebel ziehen und alles sieht nach Grusel-Bunker mit Kannibalismus-Touch aus. Oben kreist eine Diskokugel. Es wird getanzt, geküsst, geraucht. Schaad (jetzt auch irgendwie ein Woyzeck) hämmert mit etwas eisernem Rotem, vielleicht einem Feuerlöscher, minutenlang auf den Schädel von Woyzeck Till Wonka ein.

Einen schönen Aphorismus gibt es noch, der gut zum Changieren zwischen Autoaggression und Sadismus in vielen der Beiträge passt: "Ich habe mich selbst umgebracht, aber gestorben sind immer die anderen." Gegen Ende, nach gut zwei pausenlosen Stunden, künden sie: "Ein jeder Ausweg ist gleich enttäuschend und sinnlos". Aber einen Weg raus aus dem Gorki Theater gab es an diesem Abend denn doch.

Woyzeck III
Magic Murder Mystery frei nach Georg Büchner
von Mirko Borscht und Ensemble
Regie: Mirko Borscht, Bühne: Christian Beck, Kostüme: Elke von Sivers, Musik: Friederike Bernhardt, Video: Hannes Hesse, Dramaturgie: Holger Kuhla.
Mit: Tamer Arslan, Mareike Beykirch, Friederike Bernhardt, Dimitrij Schaad, Falilou Seck, Till Wonka.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 


Kritikenrundschau

Ein "Woyzeck-Requiem", eine "schwarze Messe für die geschundene Triebnatur" hat Patrick Wildermann vom Tagesspiegel (6.4.2014) im Gorki erlebt. Als Höhepunkt und gedankliches Zentrum des Abends hebt der Kritiker Schaads "furios ausufernden Monolog als Express-Kulturgeschichte der Erkenntnisbildung" hervor. Der sei allerdings "auch ein seltenes Licht in der Diskurs-Gruft, die Regisseur Borscht hier einrichtet. Schon das Setting sieht schwer nach Psycho-Installation aus"  – eine Installation, in der das "Ensemble entrückt raucht und redet, meist eher banal als erhellend."

Borschts Inszenierung rücke "Woyzeck" in die "Bewusstseinsrückbildung und Entzivilisierung", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (7.4.2014). "Morden und Koitieren auf irgendwelcher Stimmen Geheiß ohne eigene Schuldgefühle" laute "die Devise, nach der die Woyzeck-Figuren irgendwelche ansonsten unverständlichen, von live eingespielter Vordergrund-Elektromusik (Friederike Bernhardt) übertönten Handlungen verrichten: schreien, nuscheln, schubsen, umfallen, kämpfen, knutschen und: rauchen, bis die Lunge glüht." Nun sei allerdings gerade Theater das Gegenteil von Bewusstseinsrückbildung. "Im Theater, das sich aus Götterdiensten, Kultfeiern und Orgien entwickelte und nach und nach die Trennung zwischen Publikum und Spielern herausbildete, fand der Mensch Abstand zu sich selbst, Bewusstsein von sich selbst und Verantwortung für sich selbst." Insofern: "Die Abschaffung des Bewusstseins kann also nur mit der Abschaffung des Theaters, zumindest des Publikums einhergehen. Was dies angeht, ist der Abend auf dem richtigen Weg."

"Ein wilder Abend", schreibt Dirk Knipphals in der taz (9.4.2014). Eine Lesart, "warum was auf der Bühne geschieht", falle ihm allerdings nicht recht ein. "Aber den Eindruck schildern, dass dieser in manchem geniekraftmeiernde Abend immer wieder zu ganz großartigen Momenten führt, das kann man schon." Es gebe in ihm "fast berghainhafte panästhetische Augenblicke von Sinnüberflutung", wozu verstrahlte Schauspielergesichter, gleißendes Scheinwerferlicht und die Musik (Friederike Bernhardt) beitrügen. Manchmal passiere auch minutenlang gar nichts. "Das sind vielleicht sogar die schönsten Momente an diesem Theaterabend." Wenn man einfach in ein Gleißen gucke, Schauspieler irgendwo herumständen und das Bühnenbild längst so in Trümmern liege wie der Gesamtzusammenhang. "Am Schluss stellt man sich aber doch die Frage, ob Büchner das nicht ganz gut gefallen hätte."

 

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