Die Kunden werden unruhig - Michael von zur Mühlen quetscht Johannes Schrettles Meta-Krimi in die White Box des Tübinger Landestheaters
Wir wollen nicht so tun als ob
von Kathrin Kipp
Tübingen, 4. April 2014. Es ist mal wieder kalt geworden in Deutschland. High-End-Kapitalismus, Finanz- und Sinnkrise haben uns im Würgegriff. Die Zinsen fallen ins Bodenlose. Die Sparer werden nervös. Die Angst geht um. Es kommt zu ersten Ausfallerscheinungen: die Bankomat-Phobie. Betroffene bekommen Pusteln und Atemnot, wenn sie einen Geldautomaten nur von weitem sehen. Die Folge: Sie ziehen sich vom Bankgeschäft zurück. Ignorieren ihr Konto. Werden zu sogenannten "Schläfern". Ein Bankberater (Kai Meyer) versucht, diese Finanzverweigerer wieder als aktive Kunden ans Unternehmen zu binden. Die Führungskraft (Britta Hübel) will das verhindern, schließlich hat sie die schläfrigen Konten für ihre kriminellen Transaktionen benutzt. Kurz bevor sie sich ins Ausland absetzen will, droht alles aufzufliegen. Ein kleiner Amoklauf muss her.
Alles miteinander verschwurbelt
Aber so einfach macht es uns Johannes Schrettle natürlich nicht, dass er uns einen schön systemkritischen Finanzkrimi mit Banküberfall, Sex und Crime vorsetzt. Es kommt natürlich noch jede Menge poststrukturalistischer Formalismus ins Spiel, bis keiner mehr weiß, wer er eigentlich sein will und wer hier wem was erzählt. Figuren, Darsteller, Theaterkunde (im doppelten Sinne), Regieanweisung, Erzählgott – alles ist miteinander verschwurbelt. Die Schauspieler sind personifizierte Textschleudern, keiner interagiert mit dem andern. Eine Rolle wird nicht mehr gespielt, sondern nur noch erzählt. Die Menschen wollen offenbar über sich stehen und verlieren trotzdem ständig die Kontrolle.
Ein gefundenes Fressen für Regisseur Michael von zur Mühlen und Ausstatter Christoph Ernst, die das Ganze zu einem durchaus anregenden Selbsterfahrungs-Happening verdichten, zu einer kleinen Supervisionseinheit samt Krimi und Anlageberatung. Eine Analyse der künstlichen Situation Theater ist im Preis inbegriffen. Mit allem, was ganz real nervt: Eingeschlossensein, Licht, Hitze, Musik, Geschrei, menschliche Unzulänglichkeiten. Leute, die ständig sagen und kommentieren, was sie nicht einmal tun: "Wir wollen nicht so tun als ob."
Keinen Menschen sichtbar machen
Die Zuschauer tun derweil so als ob. Sie sind eingepfercht in eine kleine, enge und heiße White Box, die Tür nach draußen hat keine Klinke. Hoeneß-Feeling macht sich breit. Und schon ist man mit sich selbst konfrontiert: Die Bühne ist ein großer Spiegel. Alles ist gedoppelt. Mit diesem Arrangement soll einmal mehr die übliche Theatersituation mit festgelegten Rollen aufgelöst werden, aber wie so oft sprengt man dann doch keine Grenzen: Keiner rennt hinaus und gründet eine antikapitalistische Widerstandszelle. Viel eher denkt man dann doch die ganzen Anlagemöglichkeiten durch, über die dieser Bankberater da so engagiert schwadroniert. Oder schnell heim und das Konto checken, nicht dass sich da irgendein ein Parasit festgefressen hat.
Doch während die Theaterkunden zwar unruhig, aber dennoch stumm bleiben, drücken die Darsteller kräftig auf die emotionale Tube, auch wenn man bei Kai Meyer nicht ganz genau weiß, wer da jetzt eigentlich so rumstottert, seine Figur, er selbst oder seine Erzähler-Figur. Und was er uns eigentlich damit sagen will, wenn er sich permanent ohrfeigt. Vielleicht will sich sein "nervöser Kollege" vor lauter Schlaflosigkeit endlich mal wieder spüren. Und auch wenn Meyer auf keinen Fall den "Menschen hinter dem nervösen Kollegen sichtbar machen" will, präsentiert er sich als dessen Erzähler immer plastischer. Beim Coaching soll er sein Banküberfall-Trauma bearbeiten, und redet sich dabei so in Rage, dass man ein wenig Sorge um den Darsteller hat.
Doch kein Traum ist vergebens
Die Führungskraft (Britta Hübel) wiederum ist reinste Oper: Drama, Orchester und epileptischer Anfall, exzentrisches Spiel und pure Erschöpfung. Und so werden trotz der ganzen Indirektheit Britta Hübel und Kai Meyer dann doch noch ziemlich konkret und die Inszenierung fast noch echt.
Während die Zuschauer noch über das Verhältnis zwischen Figur und Schauspieler, zwischen Kapitalismus, Kunst und Wirklichkeit sinnieren, entlarvt sich auch noch die so laute wie brüchige Personaltrainerin (Margarita Wiesner) als Hochstaplerin. Hier lügen doch alle. Womit wir wieder beim Bankenwesen wären. Oder beim Menschenwesen, je nach Sichtweise. Am Ende jedenfalls entpuppt sich die Erzählorgie trotz aller Meta-Ebenen als fast richtiger Krimi, mit Einzelschicksalen, Intrigen, Spannung und Gemetzel. Katharsis pur. Auch das Experiment endet wie immer ganz bürgerlich: Die Leute klatschen, die Darsteller verbeugen sich. Und Udo Jürgens singt: "Schau auf dein Ziel. Kein Traum ist vergebens".
Die Kunden werden unruhig
von Johannes Schrettle
Regie: Michael von zur Mühlen, Ausstattung: Christoph Ernst, Dramaturgie: Maria Viktoria Linke.
Mit: Margarita Wiesner, Kai Meyer, Britta Hübel.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.landestheater-tuebingen.de
"Eine Gesellschaft, die die großen Dramen nicht mehr kennt, erlebt im Banalen ihre Dramen", schreibt Heiko Rehmann im Reutlinger General-Anzeiger (7.4.2014). Das Stück beziehe seine Originalität daraus, dass es die übliche Erzählweise auf den Kopf stellt, indem es nicht die Handlung schildert, sondern die Inszenierung der Handlung. "Die Schauspieler changieren zwischen den Ebenen, mal beschreiben sie das Geschehen aus der Distanz, mal die Inszenierung des Geschehens und manchmal tauchen sie in die Figuren ein." Das Drama der Banalität ende, indem es sich in ein reales Drama verwandelt. "Nicht nur die Geschichte des Stücks endet so, sondern auch die des konventionellen Erzählend."
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