Im Räderwerk der Parteipolitik

von Jens Fischer

Schleswig, 6. April 2014. Passt gut hierher, Bertolt Brechts Parabelstück über die Dialektik von Anstand und Besitz "Der gute Mensch von Sezuan". Partysilbrig glitzert die Brechtgardine auf der Bühne im Schleswiger Slesvighus, mit ernster Miene benennen die Darsteller aktuelle Krisenplätze: Teheran, Istanbul, Sotchi und, ja, Schleswig. Denn auch am Premierenort sorgen Widersprüche zwischen Wollen und Tun, Reden und Handeln, Ansprüchen und Wirklichkeit für gute Politkomik mit bösen Folgen.

Wegen Einsturzgefahr geschlossen – das Theater in Schleswig

Wegen Einsturzgefahr ist das örtliche Schauspielhaus seit Juni 2011 geschlossen. Fledermäuse, so wird kolportiert, führen heutzutage in den modrigen Innenräumen ihre sonar gesteuerten Flugartistik-Shows auf. Menschen ist der Zutritt verboten. Damit der nebenan residierende Landestheater-Intendant Peter Grisebach trotzdem durchhält, erhielt er eine Vertragsverlängerung bis 2020. Und schimpft: "Verkommen lassen hat die Stadt die Immobilie." Für jeden sichtbar: Der bürgerliche Repräsentationscharme war längst abgenutzt, die Fähigkeit, Opernbühne zu sein, nie richtig ausgebildet.

Dann neigte sich der Bühnenturm, Risse tauchten auf, die Standsicherheit des 122 Jahre alten Mauerwerks ist nicht mehr zu garantieren. Keine Überraschung: Der Boden am Ufer der Schlei ist torfig-morastig, stabilen Grund haben Fachleute erst in 22 Metern Tiefe ausgemacht, das Theaterfundament aber auf 3,50 Meter. Eine historische Bausünde, kann passieren. Aber dann passiert das, was nicht passieren darf: nämlich nichts. "Wenn Probleme offensichtlich werden, spielt der Schleswiger Vogel Strauß", sagt Grisebach.

theater schlewsig xFür Fledermäuse geöffnet, ansonsten geschlossen: Das Theater im Lollfuß in Schleswig.
© Landestheater Schleswig-Holstein
"Unser Theater gehört in den Lollfuß", steht auf Plakaten an verdreckten Scheiben des Straßenzugs Lollfuß. Ehemals schicker und beliebter Verbindungsweg zwischen Schloss und Altstadt, ist er inzwischen durch Leerstände ähnlich verödet wie die Hausnummer 49, der klassizistisch anmutende Musentempel. Er bildete seit 1974 mit den ebenfalls ehemals selbstständigen Stadttheatern in Rendsburg und Flensburg die Produktionsstätten des Landestheaters Schleswig Holstein, das elf Städte im Norden und Westen der Region mit Angeboten des professionellen Mehrspartentheaters versorgt. Ein solches Mehrspartenprogramm bieten zwischen Hamburg und Dänemark ansonsten nur Kiel und Lübeck.

Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" in Castorf-Manier

Durch Gastregisseure wie Paul-Georg Dittrich für diesen Brecht-Abend werden auch aktuelle Themen in zeitgenössischen Ästhetiken diskutiert. Überbordend vor Ideen und teils auch unausgereift hektisch konfrontiert er die Schleswiger nun mit einem Brecht in Castorf-Manier. Gespielt wird der "Sezuan" in einer zum Publikum hin abgeschlossenen, mit Videokameras und Mikrofonen überwachten Containerwohnung. Stichwort Big Brother. Das häufig unsichtbare Geschehen wird aus den Zimmern auf die Bühne projiziert; eine leicht überforderte Technik versucht die Dialoge und Electropop-fidelen Liedeinlagen verständlich abzumischen. Ich-Inszenierungen extra für die Kameras, zur Schau stellen von Intimität durch brutales Heranzoomen, Ausstellen des eigenen Elends für die Medien, unsere Zuschauergier und -überforderung, bei all dem live dabei sein zu wollen usw. – das alles kann und soll bei diesem Regieansatz mitgedacht werden. Zum Verfremdungseffekte-Update gesellen sich: Mitmachtheater, Publikumsansprache, chorisches Sprechen von Regieanweisungen, Zuschauerführungen durchs Bühnenbild, Rollenwechsel auf offener Bühne durch Selbstapplikation eines neuen Namensaufklebers.

sezuan 560 henrikmatzen uBig Brother is watching you: politisches Theater mit Brecht in Schleswig © Henrik Matzen

Der Ansatz passt für dieses Stück gut, heucheln doch fast alle Figuren hier ihr Gutsein, um besser abkassieren zu können. Das gesamte Brecht'sche Arsenal an Machos, Bösewichtern, Tunichtguten wird karikiert und in seinem Egoismus demaskiert. Ausnahme ist die Protagonistin Shen Te. Die weichherzige Prostituierte kann niemanden hungern, leiden, wohnungs- oder arbeitslos sehen, versucht immer zu helfen. Dank dieser Güte bekommt sie etwas Kapital geschenkt als Grundstock für fortgesetztes Gutsein – und versucht sich an der Existenzsicherung mithilfe eines Tabakladens. Plötzlich Privatwirtschaft, Behauptungszwang. Shen Tes mangelnder Geschäftssinn fordert Schmarotzer und Betrüger heraus. So schlüpft sie zuweilen in die Rolle des erfundenen Verwandten Shui Ta, der als böser Schutzengel das Prinzip einer rein ökonomischen Vernunft vertritt und so das Überleben sichert.
Friederike Butzengeiger glänzt dabei beherzt gerissen und mitfühlend selbstlos mit schnörkelloser Tatkraft. Sie vermengt die zwei Egos ihrer Figur: Wo Shui Ta erbarmungslos durchgreift, bleibt der Schmerz gegenwärtig, den Shen Te durchleidet. Daher findet auch keine Verkleidung statt: Butzengeigers Stimme wird fürs Mannspielen per Microport ältlich harsch verzerrt. So gekonnt lässt man sich Brechts finessenreiche Dialektik gern vorführen: Kapitalismus als System gewordene Schizophrenie, wer hier schenkt muss da ausbeuten. Gestern in Schleswig, morgen in Husum, dann Heide, Rendsburg, Niebüll, Flensburg ...

Ausweichspielstätte mit Wettbürocharme: das Slesvighus

Das solche Aufklärungstouren in Sachen Theatermoderne eine Zukunft haben, darum bangen derzeit alle Landesbühnen-Spielorte. Und damit um 320 Stellen, die sich derzeit 380 Menschen teilen. Denn bis heute, fast drei Jahre nach der Schließung, konnten die Schleswiger die Zukunft ihres Theater nicht sichern. Damit droht der Standort von der Theaterlandkarte zu verschwinden, was das Ende des Bühnenzusammenschlusses bedeuten könnte. Um Regressforderungen der Landestheater GmbH vorerst abzuwenden, der eine Spielstätte in Schleswig vertraglich zugesichert ist, wurden Notbehelfe initiiert. Sinfoniekonzerte finden im dänischen Gymnasium statt, der A.P. Møller Skolen. Wer Musik- oder Tanztheater erleben will, wird kostenlos mit Bussen nach Flensburg chauffiert, dem Sitz dieser beiden Sparten sowie der zentralisierten Bühnenbild-Werkstätten. Maske und Kostümabteilungen sind an allen drei Standorten ansässig. Schauspielproduktionen entstehen in Rendsburg und Schleswig.

Dort werden diese, wie der "Sezuan", nun im Slesvighus aufgeführt, dem Kulturzentrum der dänischen Minderheit. Eine zehn mal acht Meter kleine Spielfläche ist hier nutzbar, keine Bühnenmaschinerie, kein Schnürboden, kein Orchestergraben. Das Foyererlebnis: heftiges Gedrängel und höfliches Geschubse auf einem schmalen Gang vor der Garderobe. Das Pausen-Café hat die Aufenthaltsqualität eines Wettbüros ohne Fernseher. Statt 500 Plätzen im alten Haus gibt es nur 300. All das habe Folgen, rechnet Grisebach vor. Die Zahl der Abonnenten sei seit der Theaterschließung von etwa 1000 auf 600 gesunken, die Zahl der Schleswiger Aufführungen von 204 auf 126 pro Saison und damit die der Zuschauer von 40.000 auf 24.000 in der Spielzeit 2012/13. Das bedinge Mindereinnahmen von jährlich 200.000 Euro. "Wenn das so weitergeht, haben wir bis 2017 unsere Eigenkapitaldecke aufgebraucht und sind insolvent." Zudem sei die Nutzung der Slesvighuses nur bis 2016 möglich. Klare Planungsvorgaben also. Und 2018 hätte man 400 Jahre Theatertradition in Schleswig feiern können.

Vom fairen Angebot zur Provinzposse

Jüngst initiierte die aus der Nähe stammende schleswig-holsteinische Kulturministerin Anke Spoorendonk (SSW, Südschleswiger Wählerverband) noch ein Konzept, die 90 an der Schlei beheimateten Landesbühnenarbeitsplätze zu erhalten. Das ehemalige Militärgelände am etwas abseits der City gelegenen Hesterberg wird seit den 1990er Jahren für ein Volkskundemuseum genutzt. Es sollte umziehen, um das gesamte Areal für Verwaltung, Proberäume, Studiobühne, Werkstätten, Fundus, Kinder-/Jugend- und Figurentheateraufführungen umbauen zu können.

Ergänzt um einen Theaterneubau hätte so, laut einer Machbarkeitsstudie, für 15 Millionen Euro ein multifunktionales Kulturzentrum entstehen können. Dank Landeshilfe und Investitionsfonds der Kommunen sollte der Kostenanteil der Stadt auf 5 Millionen begrenzt werden. "Ein faires Angebot", urteilte die Lokalpresse – und charakterisierte es als "Provinzposse", da all das im Dezember 2013 mit einem Patt (13 Ja-Stimmen von SPD und SSW, 13 Nein-Stimmen der CDU, FDP, Grünen und zweier Wählergemeinschaften) von der Ratsversammlung abgelehnt wurde. Auch in der Ratssitzung vom 27. Februar 2014 konnte sich die Bürgerschaft nicht zu einem Neubau durchringen (siehe Meldung).

Angst vor einer zweiten Elbphilharmonie

Im "Sezuan" werden nun die weltfremden, sich selbst beweihräuchernden "Götter" auch mit Nachnamen einiger Neubauverhinderer etikettiert. Sie befürchteten auf dem Hesterberg ein unkalkulierbares finanzielles Risiko, nahmen daher gern den Hinweis "Elbphilharmonie" in den Mund. Oder sie gaben sich als Anwälte der Traditionalisten aus, forderten das alte Theater an alter Stelle. Unbeirrt bezeichnet sich Schleswig online als "freundliche Kulturstadt". "Aber wir Theaterleute fühlen uns hier behandelt wie der letzte Dreck", schimpft der Intendant. Oder wie seine Schauspieler in der vorletzten "Sezuan"-Szene konstatieren, als die Hauptdarstellerin von der Bühne in die Freiheit ihres Lebens flüchtet und vor der Theatertür pitschnass wird: "Wir gehen nicht mit raus, wir stehen doch schon alle im Regen." Allein gelassen.

sezuan 560a henrikmatzen uAllein gelassen: die Spieler des Landestheater mit Brecht im Slesvighus © Henrik Matzen

Grisebach: "Die einen Politiker wollten sich grundsätzlich nichts aus Kiel vorschreiben lassen, andere eine Entscheidung gegen die Landesregierung (SPD/Grüne/SSW) herbeiführen, wieder andere haben der Kulturministerin nicht den Erfolg gegönnt, etwas nachhaltig für Schleswig und das Landestheater zu tun. Wir sind ins Räderwerk der Parteipolitik geraten." So nahm die Ministerin alle Finanzierungszusagen zurück, will nun den Hesterberg für Magazinräume der Landesmuseen nutzen.

Um weiteren Imageschaden abzuwenden, vereinte der parteilose Bürgermeister Arthur Christiansen Ende März die zerstrittenen Parteien mit einem neuen Vorschlag zum alten Theater: Bühnenturm, Wandelgänge, Garderobe sowie ein angrenzendes Haus abreißen und neu bauen sowie das Intendanzgebäude, die Fassade und den Zuschauersaal denkmalschutzgerecht sanieren. Allen Widrigkeiten des Baugrundes zum Trotz. "Diese Idee ist wenig realistisch und kommt zu spät. Bis daraus ein Plan wird, die Finanzierung neu aufgestellt wäre und die Umsetzung beginnen könnte, für die bisher immer drei bis vier Jahre angesetzt wurden, wird es das Landestheater in Schleswig längst nicht mehr geben", so Griesebach.

Planungen für eine Zukunft

Ein weiteres Problem: Die Gesellschafter des Bühnenverbundes, die Städte und Kreise der Spielstätten, sind keine solidarisch eingeschworene Gemeinschaft. "Alle streiten mit allen", so hat Grisebach die letzte Sitzung erlebt. Der Dithmarscher Landrat Jörn Klimant war so genervt, dass er als Aufsichtsratsvorsitzender seinen Rücktritt erklärte. Zudem beunruhigen Grisebach politische Stimmen, die die Gesellschafterbeiträge (insgesamt über 4 Millionen Euro) in der aktuellen Finanzkrisen der Kommunen für verzichtbar halten: Flensburg zahlt jährlich etwa zwei Millionen, Schleswig zirka 500.000 Euro. Das Land trägt mit gut 13 Millionen Euro die Hauptlast des Landestheater-Etats. Wie es weitergeht? Grisebach prüft Alternativen: "Wir müssen sehen, wie klein man mit weniger Zuschauern, Produktionen und Mitarbeitern werden kann, um noch überlebensfähig zu sein." Plan 1: Eine andere Theaterstadt des Verbundes hilft und ersetzt Schleswig, Itzehoe sei da im Gespräch. Plan 2: Rendsburg hilft und übernimmt komplett die Schauspielsparte sowie die Landestheaterverwaltung. Plan 3: Massenentlassungen und Spartenschließung müssten helfen.

"Das Land des Lächelns" heißt die Léhar-Operette, die Peter Grisebach gerade inszeniert. Wohl Ironie des Spielplanschicksals. Um zu verstehen, warum der Intendant den Schleswiger Bürgermeister einen Don Quijote nennt, gibt es eine Wiederaufnahme der entsprechenden Massenet-Oper. Das Schauspiel setze den "Untergang der Titanic" assoziationsträchtig auf den Spielplan – und legt nun mit dem "Sezuan" nach, um die finale Textzeile ratlos zu betonen: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu ..."


Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht mit Musik von Paul Dessau
Regie: Paul-Georg Dittrich, Musikalische Leitung: Friederike Bernhardt, Ausstattung: Pia Dederichs.
Mit: Friederike Butzengeiger, Thyra Uhde, Karin Winkler, Uwe Kramer, Lorenz Baumgarten. Reiner Schleberger und Simon Keel.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.sh-landestheater.de


Offenlegung: Die Übernachtung in Schleswig wurde dem Autor vom Landestheater Schleswig-Holstein bezahlt.

mehr porträt & reportage