Ich Wurst, du Kippe

von Dirk Pilz

Zittau, 25. Januar 2008. Die meistgenannten Klischees über Deutschland? Genau. Bockwurst, Dirndl, Gartenzwerg. Und über Polen? Schnauzbärtige Trainingshosenmänner, bunte Mariengipsfiguren und billige Zigaretten. Seien wir ehrlich: die Klischeevorstellungen halten sich hartnäckig. Und sie kommen an diesem kurzen Abend auf der kleinen Bühne des Gerhart-Hauptmann-Theaters alle vor.

Aber sie werden weder schlicht bedient noch billigerweise belächelt und schon gar nicht besserwisserisch bloßgestellt. Sie werden kenntlich gemacht und also ernst genommen, gerade in ihrer Langlebigkeit. Kenntlichmachen heißt hier: Auf der leeren Bühne schimpft und grummelt und schlürft ein schnauzbärtiger Trainingshosenmann mit polnischem Akzent, wird immerfort mit allerlei Bockwürsten hantiert und zwei feschen Mädels das unbekümmerte Dirndl-Tragen erlaubt.

Kenntlich machen, nicht Zurschaustellen 

Das alles aber so, dass es zwar wie parodistische Schaustellerei, nicht jedoch wie hämisches Vorführen aussieht, weil die Darsteller in ihrem Spiel das Wissen um die grobschlächtige Machart der Klischees gleichsam mitspielen. Man zeigt sie und zeigt zugleich das Zeigen. Ziemlich clever. Denn auf diese Weise ist’s der Inszenierung möglich, sich mit Aktualität aufzuladen, ohne von ihr verschluckt zu werden.

Es ist nämlich so: Zittau liegt tief im sächsischen Osten, also nah an der Grenze zu Polen; und da seit Ende Dezember 2007 das Schengener Abkommen auch für Polen gilt, ist das Nachbarland gleichsam noch näher gerückt. Das deutsch-polnische Verhältnis ist in Zittau nicht irgendein Thema, sondern tagtägliche Realität. Vor allem darauf will dieser Abend reagieren.

Kruszczyński macht Theater in der Bergarbeiterstadt

Und weil der Regisseur Piotr Kruszczyński ist, der als künstlerischer Leiter des Dramatyczny Teatr im nahen Wałbrzych ein kleines, einst verschlafenes Theater samt der depressionsbeladenen Bergarbeiterstadt aufzurütteln verstand, indem er die Lebenswirklichkeit der Menschen auf die Bühne holte, ohne sich ästhetisch anzubiedern, so dass man in Polen längst vom Wunder zu Wałbrzych spricht, weil also dieser Regisseur in Zittau nun mit dieser Inszenierung sein Deutschland-Debüt gegeben hat, worauf man am Hause mächtig stolz ist, bleibt das deutsch-polnische Miteinander keine bloße Behauptung, zumal die Beteiligten wiederum sowohl aus dem Zittauer Ensemble als auch aus der Bevölkerung vor Ort kommen. So gesehen gewinnt die Sache mit den Klischees noch eine sehr viel triftigere, auch brisantere Dimension.

Und dann der Text. Gespielt wird "Der Hungerkünstler geht" des ruhmreichen, 1921 geborenen Tadeusz Różewicz, der seltsamerweise auf deutschen Bühne kaum mehr vorkommt. Es ist ein über 30 Jahre altes Schauspiel nach Kafkas Erzählung vom "Hungerkünstler", das diesen nicht mehr sterben, sondern einfach abtreten lässt. Die Frage nach der Kunst (des Hungerns, sprich: des Verzichts), ihrer Funktion und Wirkmöglichkeit wird damit dezidiert offen gelassen. Der Hungerkünstler geht – und hinterlässt eine Leerstelle.

Wie schlägt man Kapital aus der Kunst?

In sie hat Kruszczyński den gesamten Komplex der Klischees eingetragen. Seine etwas hemdsärmelige Fassung des Stückes greift kräftig in die Vorlage ein, indem er sie auf die lokalen Gegebenheiten Zittaus überträgt. Deshalb hockt der Hungerkünstler (zittrig, entrückt und rollengerecht dünn: Benjamin Petschke) hier in einem alten, zum Leichenwagen umgemodelten Trabant, deshalb ist der Impresario (zupackend und rampenlüstern: Tom Keune), der aus der Hungerkunst Kapital zu schlagen sucht, jener Schnauzbart-Pole, deshalb sind die Hungerkünstler-Bewacher Lederhosen tragende Bockwurst-Esser. So weit, so einleuchtend.

Gleichzeitig aber mutiert in einer zentralen, gewagten Szene der Impresario zum Hitler (schöne Kabarett-Nummer immerhin) und der Hungerkünstler zum Märtyrer in Gefängnis- (oder KZ?) Kleidung; gleichzeitig muss eine Fernsehjournalistin (Christine Gabsch) von "TV Zittau" auftreten, wenn mit hübsch aufspielender Blaskapelle und schön satirischer Bürgermeister-Rede (Caspar Sawade, übrigens der Verwaltungschef des Theaters) der Hungerkünstler seine 40-tägige Hungerphase mit großen Brimborium beenden soll. Will sagen: mit dem Klischee-Spiel gibt sich dieser Abend keineswegs zufrieden.

Hunger in Zittau

Er tippt hier noch einen Aspekt an, lässt dort etwas vermuten. Es gibt auch die ernstlich verliebte, rätselhafte Frau des Impresario (sie zeigt dem zittrigen Künstler den blanken Busen), ein nuschelnd irritiertes Kind (das nicht begreifen kann, wozu das Hungern, also die Kunst dienen soll) und zum Schluss das große, per Video übertragene Fressen (bei dem auch der Künstler sich weidlich am Büfett bedient). Lauter im Text durchaus vorfindliche Deutungslinien, die wiederum weit über Deutschland, Polen und die Last der Klischees hinausführen.

Im Grunde sehr zu begrüßen, nur weiß man nicht recht, worauf der Abend am Ende dann eigentlich hinaus will. Er legt viele Spuren und verliert auch viele wieder. Man könnte das unentschieden, halbgar, inkonsequent nennen, oder dem Charme des Bruchstückhaften, der Poesie des Fragmentarischen zurechnen.

Womöglich drückt sich darin aber hinterrücks jene reale Fragilität des deutsch-polnischen Miteinander aus, die auch das hartnäckige Fortbestehen der Klischees erklären würde. Offensichtlich gibt es sie dort, wo das Vertrauen für echtes Begegnen erst noch wachsen muss. So gesehen wäre dies ein ehrlicher, mutiger und an Vertrauensbildung interessierter Abend.



Der Hungerkünstler geht
von Tadeusz Różewicz
Regie: Piotr Kruszczyński, Bühne/Kostüme: Mirek Kasczmare, Musik: Paweł Dampc. Mit: Christine Gabsch (Journalistin), Else Hennig (Ehefrau des Impresario), Sebastian Achilles (Zweiter Wächter), Tom Keune (Impresario), Benjamin Petschke (Hungerkünstler), Fred Schmidt (Dritter Wächter), Frank Siebers (Erster Wächter), Annedore Hopf (Maskenbildnerin), Caspar Sawade (Bürgermeister), Mira Fajfer / Luisa Meier (Monica), Marie Gulich / Anneke Pogarell (Zosia), Torsten Kaiser (Fernsehteam), Michaela Ullrich (Fernsehteam), Imke und Hartmut Dießner mit Richard Bähr/ Katrin und Stephan Hoffmann (Familie); Bläserquartett (in wechselnder Besetzung): Antonia Hausmann, Martin Zimmermann, Johannes Huth, Matthias Bogner, Tobias Kubern, Roman Altmann, Matthias Malt

www.theater-zittau.de

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