Unter rappenden Blutsaugern

von Steffen Becker

Ulm, 10. April 2014. "Wer kennt das Stück?" fragen die Schauspieler, bevor sich der Wellblechvorhang zur Aufführung von "Der gute Mensch von Sezuan" hebt. Viele Hände im Theater Ulm gehen hoch, klar, ist ja seit Generationen ein Klassiker des Deutsch-Unterrichts und so auch für diese Klasse 9 auf ihrem Theaterausflug. "Und wer mag das Stück?" Nicht mal die Hälfte der Hände bleibt oben. In Klasse 9 hat man vermutlich mehr Interesse am guten Leben – und keinen Bock auf die von Bertolt Brecht durchexerzierte Frage, was ein guter Mensch ist.

Regisseurin Antje Schupp hat Verständnis und lässt ihren guten Menschen daher nicht als pädagogischen Anti-Kapitalismus-Muffel über die Bühne schlurfen (uncool!). Bei ihr rauscht eher ein bunter Battle-Rap durchs große Haus. Gut sein oder gut leben? Fuck, wie soll ein Mensch sich da entscheiden? Gar nicht, bei Brecht geht es ja darum, dass die Verhältnisse solche Freiheiten gar nicht zulassen.

s sezuan 0275 560 martin kaufhold uG wie Gut: Christian Streit, Renate Steinle, Gunther Nickles, Christel Mayr und Raphael Westermeier im und am Gute-Menschen-Gerüst © Martin Kaufhold

Die Bühne von Mona Hapke findet dazu das schöne Bild zweier überdimensionaler Buchstaben, die als Konstruktion (Holz-und Rostgerippe) so unfertig sind wie als Wort. Es fehlt das U von GUT. Dekorativ rieseln gelbe Blätter von der Decke, als die drei Götter in Gestalt von Buddha, Vishnu und Gottvater meinen, den einen guten Menschen gefunden zu haben. Die Prostituierte Shen Te hat ihnen als einzige Unterschlupf gewährt, dafür statten sie sie mit einem Startkapital für ein Tabakgeschäft aus. In dieses lässt Regisseurin Schupp eine Art Familie Flodder einfallen, die zweifellos auch Neunt-Klässler gruselig fänden.

Die Menschen, denen sie Gutes tun will, stellen sich ausnahmslos als Blutsauger, rappende Taugenichtse und undankbares Pack heraus, das nur noch mehr will. Shen Te (Aglaja Stadelmann) klebt sich daher einen Schnurrbart an und wird zum Vetter Shui Ta, der die Flodders rausschmeißt, den ausbeuterischen Verlobten abserviert und aus dem kleinen Tabakladen eine florierende Fabrik aufbaut. Zwar um den Preis aufgegebener Prinzipien, aber dafür ist jetzt das Geld da, um die GUT-Bühnenkonstruktion rundzuerneuern und in blauem LED-Licht erstrahlen zu lassen.

Sanierung mit dem Geld der Götter

Die geringe optische Transformation geht einher mit einer Anlage der Hauptrolle, die abweicht vom Inszenierungsmainstream. Stadelmanns Shen Te/Shui Ta ist keine schizophrene Persönlichkeit, die vom Druck der Produktionsverhältnisse krank gemacht wird. In Schupps Inszenierung ist der Rollentausch eine bewusste Entscheidung zur Problemlösung. Und auch als Shen Te schwebt Stadelmann nicht naiv durch die Welt. Es umgibt sie die Melancholie einer Figur, die von vorneherein ahnt, dass ihr menschenfreundliches Handeln ihr zum Nachteil gereichen wird.

Umgekehrt ist ihr Shui Ta kein Unmensch, sondern ein rational agierender Geschäftsmann – den Gewissensbisse plagen. Stadelmann schafft es überzeugend, beide Figuren als Einheit darzustellen, deren Persönlichkeitsanteile nur jeweils in unterschiedlicher Intensität aufscheinen. Das entfernt sich natürlich von der Kapitalismuskritik bei Brecht – Schupp geht es weniger um die gesellschaftliche Zwangslage als um nutzenorientierte Entscheidungen und ihre Kosten. Schauspielerisch entfaltet dieser Ansatz einen größeren Reiz, bietet er dem Publikum sowohl Identifikationsmöglichkeiten als auch feinere Nuancierungen, die in der ansonsten lauten und knalligen Inszenierung fehlen.

Uhhh, Grauzone

Gegen den Brecht'schen Strich bürstet Schupp auch die Musik von Paul Dessau. "Wir dürfen keine Loops machen, aber Zeitlupe ist erlaubt", sagt der Mann an der E-Gitarre (Benedikt Brachtel). "Also machen wir Loops in Zeitlupe!" Uhhh, Grauzone. Man hängt allein vom guten Willen der Urheberrechtsinhaber bei Suhrkamp ab. Den will man lieber gar nicht erst auf die Probe stellen, also bitte nicht drüber schreiben. Sorry, passt so gut ins Gesamtbild, da ist der Autor sich selbst der nächste. Das muss drin sein. Die Inszenierung spuckt schließlich auch keine leisen Töne. Dazu gehören etwa trashige Videoclips, die die ohnehin als Witzfiguren angelegten Götter in schlecht animierter Umgebung beim Trampen bloßstellen.

s sezuan 2997 560 martin kaufhold uDer Vorhang weg und alle Fragen offen: Aglaja Stadelmann (vorn) als Ökonom Shui Ta
© Martin Kaufhold

Richtig Tempo macht Regisseurin Schupp in Sachen Rollentausch. Jeder Schauspieler übernimmt mehrere Rollen, was zu teils rasanten Spielwechseln führt. Am Bühnenrand steht praktischerweise ein Kleiderständer, der den Switch erleichtert. Manchmal gönnt sich die Regisseurin auch den Spaß, das gleiche Kostüm zweimal vorzuführen, an unterschiedlichen Darstellern, die aber die gleiche Rolle spielen.

Dieses Spiel mit dem Publikum klappt jedoch erstaunlich gut, das Ensemble ist offenkundig gut eingespielt und heiß auf etwas Schabernack. Besonders tun sich Raphael Westermeier als Fast-Ehemann und opportunistischer Widerling und Christian Streit als wuseliger Wasserverkäufer und Shen Tes Fürsprecher bei den Göttern hervor. Eines vermögen sie jedoch nicht zu geben: Eine Antwort auf die Frage, was denn nun einen guten Menschen ausmacht. Da ist Schupp wieder ganz bei Brecht. Immerhin lässt sie die Schauspieler die Moral von der Geschicht' außerhalb ihrer Rollen reflektieren. Einer hält eine Geschichte aus dem Philosophie-Magazin "Hohe Luft" hoch – unter dem Konterfei von Uli Hoeneß steht da "Warum gut sein?" Wahrscheinlich ist das im Vergleich zum Wie ohnehin die entscheidendere Frage.


Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht mit Musik von Paul Dessau
Regie: Antje Schupp, Bearbeitung der Komposition Paul Dessaus und musikalische Leitung: Benedikt Brachtel, Bühne und Kostüme: Mona Hapke.
Mit: Christel Mayr, Aglaja Stadelmann, Renate Steinle; Alfredo Miglionico, Gunther Nickles, Florian Stern, Christian Streit, Raphael Westermeier.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater.ulm.de

 

Kritikenrundschau

Bert Brechts eher bewegungsarme Parabel bekommt in der respektlosen Ulmer Version für Markus Golling von der Augsburger Zeitung (12.4.2014) "mächtig Drive". Doch bei aller: eine Persiflage ist as dem Abend  aus Sicht des Kritikers trotzdem nicht geworden. "Er gibt vielmehr Brechts Kapitalismus das Gesicht der modernen Konsumgesellschaft. Und die Inszenierung stellt neue Fragen – welche die Schauspieler auch mit dem Publikum diskutieren: Ist ein guter Mensch, wer Gutes kauft? Oder: Darf man 'Der gute Mensch von Sezuan' überhaupt so zeigen? Die Antwort muss 'ja' heißen, wie auch der große Applaus am Ende bewies. Einige Zuschauer hatten das Haus aber schon vorher erzürnt verlassen."

In der Südwest Presse schreibt Magdi Aboul-Kheir (14.4.2014), die Inszenierung spiele im "Überall und Heute" und setze auf "beliebte Verfremdungseffekte aus Brechts epischem Theater: Einblendungen, Songs, Sprünge, deklamierendes Sprechen. Die Zwischenspiele sind hier Videofilmchen." Aber Schupp verfremde das Verfremdungstheater. Sie "treibt Brecht mit Brecht aus - oder sie hat Spaß mit ihm". Sie steigere das Rollenwechseln ins "ulkige Extrem", nehme sich "textliche Freiheiten" und lasse die Schauspieler damit kokettieren. Auch Paul Dessaus Musik werde "durchaus interpretiert". "Vitales Theater, stringent und kurzweilig erzählt."

 

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