Der karnevaleske Charme der Bourgeoisie

von Georg Kasch

München, 26. Januar 2008. Nein, eingestaubt ist hier nichts: Zu Prokofjev-Musik, die an eine Spieluhr erinnert, verschwindet das große Tuch, das anfangs die Szene bedeckte, im Bühnenboden. Sie sitzen auf ihren Stühlen, als täten sie seit hundert Jahren nichts anderes, erwachen mit einem Lichtwechsel aus ihrer Starre und konversieren, als wär’s ein Stück von Ibsen.

Da ist er wieder, der diskrete Charme der Bourgeoisie: Unter der blanken Oberfläche tost und braust das wilde Blut der Ahnen und bricht sich hier und da zerstörerisch Bahn. Aber nicht, um im John-Wayne-Duell zu enden, sondern in Hysterie; nicht Blut fließt, sondern Tränen und Speichel.

Mahnmal der Kunst: Die doppelte Brandmauer

Yasmina Rezas Reißer der Saison "Der Gott des Gemetzels" ist (nach Stationen u.a. in Zürich, Bochum und Köln) am Münchner Residenztheater angekommen, inszeniert vom Hausherrn Dieter Dorn in Starbesetzung: Sybille Canonica und Michael von Au spielen Véronique und Michel Houillé, die Eltern jenes Jungen mit dem "zerschmetterten Gesicht", Sunnyi Melles und Stefan Hunstein Annette und Alain Reille, die Eltern des "Schlägers". Es geht um zwei achtjährige Jungs, die sich prügeln und damit auf ein Ritual verfallen, das ihre Eltern längst überwunden zu haben glaubten. Aber zwischen schlichtendem Communiqué, Kuchen und zähem Geplauder lauern die eigenen Atavismen.

Jürgen Rose hat die drei eleganten Holzstühle und den Biedermeier-Sessel, den Glastisch mit den obligaten Kunstbänden und gleich zwei Vasen mit weißen Tulpen auf ein flaches Podest gestellt, das die Vorderbühne ausfüllt. Bis zur Brandmauer herrscht Leere; direkt vor der Brandmauer hängt eine Reproduktion ihrer selbst. Dieses doppelnde Zitat scheint ironisch auf Rezas Forderung "Kein Realismus" anzuspielen. Also Achtung: Was wir sehen, scheint real, ist es aber nicht, ist Abbild, Kunst.

Die Fetzen fliegen in Nuancen

Schauspielkunst. Wie sehr sich alle zunächst bemühen, jenseits des eigentlichen Themas Konversation zu betreiben, ohne sich etwas zu sagen zu haben, wird bei den vier Sprachvirtuosen besonders deutlich. Jeder Satz der ersten Viertelstunde ist eine Nichtigkeit, dürftig aufgehängt an einer vorhergegangenen Äußerung, kommt den Protagonisten aber bedeutungsschwanger über die Lippen.

Schon hier fliegen die Fetzen, noch allerdings in Nuancen: Wenn Michel über seine Frau sagt, sie sei Schriftstellerin "und arbeitet halbtags", dann betont von Au "und arbeitet" derart, dass von den Ambitionen seiner Frau nichts bleibt. Wenn Hunsteins Alain, immer eine Spur zu laut, auf das Angebot von Zucker zum Kaffee "Nein!" brüllt, als wäre die Frage eine Impertinenz, um die Ablehnung gleich darauf abzuschwächen; wenn Melles "Äpfel UND Birnen? Das hatte ich noch nie!" wie eine Anklage formuliert, ist der Zusammenbruch der bürgerlichen Fassade nicht mehr weit.

Des Röchelns ist kein Ende

Natürlich spritzt auch in München das Erbrochene, landet das Handy in der Blumenvase und fliegen Tulpen und Tasche durch die Luft. Aber all dies geschieht ausgestellt, eine Kleinigkeit zu laut, zu überdreht. Wenn Sunnyi Melles loskotzt, will das Würgen und Röcheln kein Ende nehmen, ist die ganze Spielfläche besudelt, auf der von Au panisch mit Küchentüchern rumwuselt. Wenn sie das Handy ins Wasser wirft, durchmisst sie zuvor demonstrativ die Bühnenfläche. Wenn sie sich auf die Tulpen stürzt, dann mit Emphase auf zuerst die eine, dann auf die andere Vase. Und wenn Véronique den Inhalt von Annettes Tasche auf der ganzen hinteren Bühnenfläche verteilt, dann brüllt Melles, als lägen dort nicht ihre Make-up-Utensilien, sondern die Einzelteile ihres Kindes.

Je länger der kurze Abend dauert, desto klarer wird, dass Vamp von Vampir kommen muss, so stechend schaut Melles, die anfangs doch so kindlich naiv schien, um sich. Da verstummt sogar Hunsteins Macholachen, hält der strickjackentragende von Au in seinem aufgekratzt anbiedernden Geräume inne, erstarrt die altjüngferlich-hysterische Véronique Canonicas. Wenn Blicke oder Wörtergrollen töten könnten... Tun sie aber nicht, und so verwandelt sich jede Spannung in alkoholisierte Albernheit und pointierte, aber im Grunde harmlose Boshaftigkeiten.

Das Publikum lässt die Wände wackeln

Ja, auf der Resi-Bühne geht es zu wie im Kindergarten. Jede Verletzung wird als kleiner Weltuntergang wahrgenommen, aber ebenso schnell, wie man sich verbale Steinchen an den Kopf wirft oder an den Haaren zieht, verträgt man sich auch wieder – vorübergehend. Das Publikum reagiert kindlich enthemmt, kichert, gluckst, kreischt, dass die Wände wackeln. Spendet Szenenapplaus für Annettes Erbrechen, nach ihrer Handyentsorgung oder der Feststellung Alains, er sei nun mal mit einem Männerbild à la John Wayne aufgewachsen. Klar: Männer sind vom Mars, und Frauen... Nein, dieses Theater verändert niemanden und wird kaum jemanden grübelnd nach Hause schicken. Aber es befreit, ist Bachtin'sches Ventil, ist Karneval. Helau!

 

Der Gott des Gemetzels
von Yasmina Reza
Deutsch von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Dieter Dorn, Ausstattung: Jürgen Rose. Mit: Sibylle Canonica, Michael von Au, Sunnyi Melles, Stefan Hunstein.

www.bayerischesstaatsschauspiel.de

 

Kritikenrundschau

Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen (28.1.2008) hat nicht nur die Münchner Aufführung vom Gemetzel-Gott begutachtet, sondern auch eine in Paris, die die Autorin Yasmina Reza selbst angerichtet hat – mit einer "sensationell oberflächentiefen" Isabelle Huppert als Véronique. Stadelmaier identifiziert die Figuren des Stücks als "unsere gefühlskriminellen Nachbarn": "Deshalb spielen sie uns zu Recht gerne und oft mit. In Paris leicht und nebenbei und unendlich traurig hinter allem Witz. In München grandios in Szene gehauen, unendlich schaurig vor allem Witz." Während in Paris eine "Konversationstragödie" ablaufe, "gesittet und geschmeidig", demonstriere Dieter Dorn in München "die Vernichtung der Sitten als groteske Wutprobe des theatralischen Bürgertums". Und Sunnyi Melles "als Medea-Medusa-Megära" scheine "sowieso alle und alles vernichten zu wollen. Wie sie den toten Hamster zu ihrer Sache macht, Michel des Hamstermordes anklagt, das hat die Größe des Furors einer Erynnie".

Auch Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (28.1.2008) war in Paris und weiß zu berichten, dass Yasmina Reza bei ihrem Stück "so subtil wie souverän" Regie geführt habe. Dieter Dorn in München dagegen "trägt dick auf, vor allem aber: demonstrativ." Von Beginn an herrsche in seiner Inszenierung Hochdruck: "Die Münchner Pointen knallen wie Bomben ins Parkett, wo Zuschauern wie Zuschauerinnen reichlich Zucker verabreicht wird. Rezas fein strukturierter Stoff erhält in der chargierten Darbietung einen leicht absurden Ionesco-Einschlag und wird zur artifiziell-deftigen Boulevardkomödie."

Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (28.1.2008) vergleicht: nicht München und Paris, sondern die beiden führenden Münchner Spielstätten in ihrem jeweiligen Blick auf Paris. Während sich die Kammerspiele mit Hass "um die offene Gewalt der Unterprivilegierten in den Banlieues" kümmerten, spüre das Staatsschauspiel "der verdeckten Gewalt der Privilegierten im 14. Arrondissement" nach. In "Hass" deeskaliere Sebastian Nübling "die jugendlichen Hasskappenträger zu virtuosen Clowns", im "Gott des Gemetzels" rede sich "eine comichaft überzeichnete Bourgeoisie in eine Gewaltspirale hinein". Dorns Gemetzel-Inszenierung erscheint Schmidt problematisch: Zwar habe er "das Stück formal perfekt zurechtgezupft", doch die "subkutanen Ströme, die zwischen den Schauspielern fließen, hat Dorn ... nicht anzapfen können." Sunnyi Melles etwa verteidige "ihre Pointen wie ein Gelege" und beiße ihre Mitspieler weg. "So blieb es beim ausgewalzten Boulevard mit bösen Schlaglöchern, und das Leichte wirkte schwer erarbeitet."

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