Eine Blume als Gegenwehr - Tilman Gersch inszeniert das Siegerstück der Essener Autorentage "Stück auf!" 2013
Tanz der Wörter
von Sascha Westphal
Essen, 25. April 2014. Sechs Personen suchen einen Ausweg und verrennen sich dabei mehr und mehr. Das lässt schon die beglückende und berührende Stummfilm-Slapstick-Choreographie erahnen, die Tilman Gersch seiner Uraufführungsinszenierung von Katja Wachters erstem Theaterstück voranstellt, mit dem sie 2013 den Autorenpreis des Essener "Stück auf"-Wettbewerbs gewann.
O grausam komische Welt
Die dystopische Komödie, die in einer nahen, nicht weiter benannten Zukunft spielt, beginnt in einer Welt wie aus einem Film der 1920er Jahre. Rechts und links hat der Ausstatter Andreas Auerbach jeweils drei kleine Tische mit Blumendecke und einer kleinen weißen Lampe darauf hingestellt. An jedem dieser Tische steht wiederum ein einzelner Stuhl. Wer in dieses Café kommt, ist alleine und wäre doch so gerne zu zweit.
Wie meistern wir nur dieses unsicher schwankende Leben? © Birgit Hupfeld
Als Erster betritt M (Tom Gerber) die Szene und kann sich prompt nicht entscheiden. Welcher Tisch soll es sein? Er geht nach rechts, dann nach links, schließlich wieder nach rechts. Endlich hat er seinen Platz gefunden. Nur ist inzwischen auch B1 (Jens Winterstein) eingetreten; und der hat, anders als der unsichere und stets schwankende M, keine Probleme damit, sich zu entscheiden. Er geht schnurstracks zu dem Tisch, den M für sich ausgeguckt hat, und kommt ihm natürlich zuvor.
Die Welt ist ein unendlich grausamer, aber eben auch ein umwerfend komischer Ort. Wie sehr die Menschen sich auch anstrengen, wie eifrig sie ihrem Glück auch hinterher haschen, irgendjemand wird ihre Pläne doch durchkreuzen ... und nicht selten sind sie das selbst. So scheitert M eher an seinem Zögern als an B1, während F (Janina Sachau) sich derart heftig nach einem anderen verzehrt, dass sie mit ihrem Überschwang letztlich jeden verschreckt.
Anonym wie im Internet
Nach etwa zehn Minuten endet dieses stumme, von Songs wie aus einem Film von Woody Allen untermalte Vorspiel ebenso abrupt, wie es begonnen hat. Auf die Choreographie der Körper, die in ihrer absurden Hilflosigkeit und Ungeschicklichkeit etwas Rührendes haben, folgt ein Tanz der Wörter. Und das kann man ruhig wörtlich nehmen. Gleich zu Beginn ihres ersten Theaterstücks lässt die Choreographin Katja Wachter die Sätze und Allgemeinplätze nur so herumwirbeln: "Sag schon, los, sag schon! / Ich sag's doch / ach, sag bloß", und so weiter und so fort. Zwei Frauen und vier Männer werfen sich diese Bruchstücke, die nichts sagen und dabei doch unendlich viel heraufbeschwören, gegenseitig zu. Wer spricht, ist unwichtig. Denn die Worte helfen diesen Vereinzelten und Vereinsamten schon lange nicht mehr.
Einsam im Netz © Birgit Hupfeld
Katja Wachters Figuren haben keine Namen. Nur ein Buchstabe und gegebenenfalls noch eine Zahl kennzeichnen sie. So bleiben sie anonym wie im Internet, wo jeder sich jeden erdenklichen Namen geben kann und doch nie aus seiner Haut herauskommt, oder wie in einer Fallakte. Und Fälle sind sie alle, auch die beiden Therapeuten, B1 und B2 (Ines Krug), die in einer ziemlich bizarren Einrichtung für psychisch Labile und Kranke den Leiden ihrer "Klienten" auf den Grund gehen wollen.
Jens Wintersteins B1 mag sich hinter seinen Witzen und seinem Glauben an die Mathematik, die mit ihrer Ordnung alles erklärt, verschanzen. Am Ende wird ihn E (Jörg Malchow), der in seinem Kopf die innere Stimme von M hört und anscheinend durch Wände gehen kann, trotz allem zur Raserei bringen. Wenn Gewissheiten zerplatzen und die Wirklichkeit nicht zu dem Bild passt, das man sich von ihr gemacht hat, dann bricht alles zusammen.
Blumenerde fällt vom Himmel
So geht es auch der kühlen, distanzierten Beobachterin B2. Ines Krug tritt den anderen immer mit einer Geste der Überlegenheit entgegen. Diese Therapeutin blickt auf alles und jeden herab, besonders auf ihre neurotische Schwester F. Die hat sich ausgerechnet in M verliebt, den sie für ihren Arbeitgeber, ein Marktforschungsinstitut, Tag und Nacht mittels heimlich in dessen Wohnung angebrachten Videokameras überwacht.
Begegnung unmöglich? © Birgit Hupfeld
Katja Wachter hat ihre Zukunftsvision dem Internet regelrecht abgetrotzt. So wie im Netz ein Klick zum nächsten führt, so reiht sie Szenen und Formen, Ideen und Emotionen aneinander. Selbstreflexive Kommentare à la "Heutzutage gibt es mehr Kunst über Kunst als Kunst an sich" stehen neben sarkastischen Seitenhieben auf die allgegenwärtige Überwachung des Menschen durch den Menschen. Tilman Gersch und sein sich immer wieder in abstruse Slapstick-Momente stürzendes Ensemble erden dieses Spiel mit Virtualität und Realität durch ihren dezidierten Low-Tech-Ansatz.
Letzten Endes ist die Zukunft doch nur die Wiederholung des Vergangenen. Also nimmt Gersch den poetischen Titel des Stücks ganz wörtlich. Blumenerde fällt vom Himmel, und jeder nimmt sich eine oder mehrere Blumen. Die spenden mit ihrer Schönheit nicht nur Trost. Wenn sie hoch genug gewachsen sind, kann man sich wie Janina Sachau und Jörg Malchow auch noch hinter ihnen verstecken.
Eine Blume als Gegenwehr (UA)
von Katja Wachter
Regie: Tilman Gersch, Bühne und Kostüme: Andreas Auerbach, Licht: Daniela Schulze, Dramaturgie: Anna-Sophia Güther.
Mit: Tom Gerber, Jens Ochlast, Janina Sachau, Jörg Malchow, Jens Winterstein, Ines Krug Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-essen.
Kritikenrundschau
Martina Schürmann schreibt auf Der Westen (29.04.2014), dem Online-Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: Am Anfang wähne man sich "beinahe in einem Woody-Allen-Stück". Wie da sechs Menschen ihren Platz im Leben suchten und vor "lauter Unentschlossenheits-Stolpern" kaum voran kämen, sei "beseelt und herzensblöd, slapstickhaft-komisch und klug choreografiert". Dieser "wunderbare Rhythmus" bleibe auch erhalten, wenn der Text einsetze. Tilman Gersch habe "genau die richtige Form gefunden, die Vorlage zum Blühen zu bringen". Alles befinde sich in "schönster Auflösung", bis die "atomisierten Textteilchen" und die Figuren, die Gersch und das ungemein spielfreudige Ensemble zu "lebensechten Charakteren" formten, "sich finden und zu tanzen beginnen".
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