Krieg ich nicht auch noch 'n Nagel?

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 2. Mai 2014. (Ai) Weiwei reimt sich nur fast auf Freiheit. Trotzdem hält sich der chinesische Künstler, Politaktivist und Architekt, in dessen Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau sich gerade die Massen vor mit Autolack besprühten alten chinesischen Vasen drängen, hartnäckig als oberster, universell einsetzbarer Symbolträger des deutschen Kulturbetriebs.

In dieser Funktion hat er wohl auch die Trophäen gestaltet, die beim diesjährigen Theatertreffen an die Regisseure der eingeladenen Inszenierungen überreicht werden – und deren Beschaffenheit das Hauptthema der Eröffnungsrede von Berliner Festspiele-Intendant Thomas Oberender war. Es handelt sich um bronzene Nachbildungen eiserner Armierungsträger, die Ai Weiwei nach einem schweren Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan aus den Ruinen von nicht erdbebensicher gebauten Schulen geborgen hat. Die noch nicht Vergebenen sind für die Dauer des Theatertreffens im oberen Foyer im Haus der Berliner Festspiele in einer aquariumsartig blau beleuchteten Vitrine ausgestellt.

Morgenröte

Oberender erwähnte außerdem einen gesellschaftlichen Umbruch, in dem wir uns gerade befänden, und rief das Theater als Leitmedium aus. Es fiel das Wort "Morgenröte". Im Theatertreffen-Programmheft antwortet Ai Weiwei auf die Frage "Was ist Ihre persönliche Beziehung zum Theater?": "Ich bin während der Kulturrevolution aufgewachsen. ... Durch das Theater konnten einfache Leute unbewusst beeinflusst werden, die sich sonst vielleicht nicht für Politik interessiert hätten."

zement5 560 arminsmailovic uSebastian Blomberg und Bibiana Beglau in "Zement" im Residenztheater München
© Armin Smailovic
Bevor die Bühne fürs Theater freigemacht wurde, beschwor Alexander Kluge die Geister von Heiner Müller und Dimiter Gotscheff. Gotscheffs letzte Inszenierung vor seinem Tod am Residenztheater München – hier die Nachtkritik  – tönt Müllers Bearbeitung des Post-Revolutionsromans von Fjodor Gladkow ganz in grau. Es gibt müde gemehlte und verzweifelt hoffende geölte Körper, außerdem die klare Stimme von Valery Tscheplanowa, die das Zerrinnen der Utopie musikalisch kommentiert.

Den Schlosser fragen

Der Applaus ist lang und dankbar – und nun wieder zu Ai Weiwei: "Krieg ich nicht auch noch diesen Nagel?" fragte Residenztheater-Intendant Martin Kušej Theatertreffenleiterin Yvonne Büdenhölzer, nachdem er bei der Siegerehrung im Anschluss an die Vorstellung schon eine riesige Urkunde bekommen hatte. Nein, "den Nagel" wollte Büdenhölzer nicht ihm, sondern dem Ensemble – stellvertretend für Gotscheff – geben. Das Ensemble in Gestalt von Bibiana Beglau zierte sich und rief Gotscheffs Witwe Almut Zilcher auf die Bühne. Sie nahm die Trophäe entgegen und gestand, dass "Mitko" einen ähnlichen Pokal zum "Totschläger" degradiert hätte; machte sich außerdem Gedanken darüber, ob man das Ding nicht teilen könnte, "da müssen wir mal unseren Schlosser im Theater fragen", und versprach, dass sie es zirkulieren lassen würde in der "Gotscheff-Familie". Zerteilen und zirkulieren, um zusammenzuhalten. Der dialektische Materialismus lebt.

 

Hier geht es zur Nachtkritik der Premiere von Zement am Residenztheater München. 

Zur Theatertreffen-Festivalübersicht mit Nachtkritiken und Kritikenrunschauen zu allen Premieren sowie Shorties zu den TT-Gastspielen.

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