"Wollt ihr die totale Interpretation?"

von Sabine Leucht

München, 3. Mai 2014. Führt man die ersten mit den letzten Worten dieses Abends zusammen, mutieren die zwei Stunden dazwischen zum Beweis dafür, dass die Kunst ein Scharlatan ist und "der künstlerische Raum bloß ein unfruchtbarer Boden", der einen vor der Auseinandersetzung mit der Realität bewahrt. So schallt es aus einem neunmalklugen Audioguide namens "Gott" ganz am qualvollen Ende von Eyal Weisers erster Inszenierung außerhalb seiner Heimat Israel.

Zu Beginn von "Nystagmus – Eine große deutsche Kunstausstellung" sprach "Kurator" Anton Ehrlich noch von der verqueren Wertschätzung der (Bildenden) Kunst durch die Nazis, die 1937 die ihrer Meinung nach "Entartete Kunst" in einer gleichnamigen Ausstellung an den Pranger stellten und mit einer "Großen Deutschen Kunstausstellung" trotzig dagegenhielten. Was derart bekämpft werden muss, wird offenbar für wirkmächtig gehalten. Und Ehrlich beschwört nun in einem ganz ähnlichen Duktus und mit entgegengesetzter Stoßrichtung die Kunst als "den einzigen" gesellschaftlichen Raum, in dem noch Mut und Freiheit regieren.

Ein Meister hyperkomplexer Fiktionen

Dann bekommt man dieses Mutige und Freie zu sehen: Filme, Bilder, Skulpturen, vor allem aber Performances, die so tun, als entstünden sie einzig für diesen Moment, denn der hinter der als "Vernissage" deklarierten Premiere im Münchner Volkstheater stehende Regisseur ist ein Meister im Kreieren hyperkomplexer Fiktionen, die sich als "echt" ausgeben. 2013 war Weiser mit Mein Jerusalem erstmals beim Radikal jung-Festival im Volkstheater zu Gast, wo die Unterschiede zwischen den geteilten Städten Berlin und Jerusalem ebenso kongenial verschwammen wie die zwischen Theater und Wirklichkeit. Und in This Is the Land, zu sehen bei der diesjährigen Radikal jung-Ausgabe, beschritt Weiser den schmalen Grat zwischen jüdischer Religion, israelischer Nation und Nationalismus. Seine Reaktion auf den 2011 vom israelischen Kultusministerium ausgerufenen "Zionist Creation Award" war ein Mini-"Festival", das die abgelehnten Arbeiten dreier Künstler zeigte, die der Jury zu kritisch, zu militant oder zu sehr auf die Opferrolle fokussiert waren.

nystagmus2 560 arno declair uMax Wagner spielt den Deutsch-Israeli Uriah Rein-Merchay, der Fäden zwischen seiner Familiengeschichte und der großen Geschichte spannt. © Arno Declair

Als angekündigtermaßen "zeitgenössische Reaktion" auf die Nazi-Ausstellungen hatte man sich eine ähnlich systematische Auseinandersetzung erhofft und Einbußen zwar erwartet, weil Weiser ja diesmal mit den ihm fremden Akteuren des Volkstheaters zu tun hat. Doch dass der Abend sich derart im Tumb-Provokativen verrennen würde, war nicht zu vermuten.

Anderes Sehen

Dabei setzte der erste Teil der nach einer Augenbewegungsstörung benannten Produktion spannende Akzente in Richtung "anderes Sehen": Max Wagner spielt darin den Deutsch-Israeli Uriah Rein-Merchay, der seine Familiengeschichte mit der großen Geschichte zusammendenkt. Beginnend mit der im Dritten Reich ermordeten "schizophrenen" Tante über einen opportunistischen Großvater, der vom Ostfront-Ausputzer zum Staatsanwalt zum Stasi-IM wurde und dann auch im medizinischen Sinne Alzheimer bekam, bis zu einer Mutter, die aus Idealismus und Auflehnung gegen die Eltern in ein Kibbuz ging, sich verliebte und den Mann kurz nach der Geburt des Sohnes im Libanonkrieg verlor, spannt Rein-Merchay den Faden von den dreißiger Jahren bis in die Gegenwart. In dieser keucht er ganz in Weiß gekleidet überlaut in ein Mikro, poliert gänzlich uneffektiv einen Glaskasten von innen – und spannt tatsächlich auch einige leibhaftige Fäden: über Nägel an der Wand, auf der das riesenhafte Profil seiner Tante entsteht. Und in einem Film, in dem der Künstler als seine eigene Mutter in einem weißen Raum zu sehen ist, den schwarze Schnüre wie die sichtbar gemachten Sensoren einer Alarmanlage durchkreuzen.

Witzig, peinlich, platt

Uriahs Selbstinszenierung als Hypersensibler ist ästhetisch interessant und hinreichend rätselhaft. Sie eröffnet Assoziationsräume, die die folgenden Performances jedoch rasch zuschütten. Die Zwillings-Derwische mit ihrem zunehmend sexuell konnotierten Werbe-und Merkspruch-Medley mögen noch ganz witzig sein. Die "site-specific séance", in der der Geist eines weiland von Hitler bejubelten Oberammergauer Jesus-Darstellers in das von einer aus Oberammergau stammenden Darstellerin gespielte kapitalismuskritische Medium fährt, ist nur peinlich.

nystagmus1 560 arno declair uDie Kunst, sie sah an diesem Abend sehr unterschiedlich aus ... © Arno Declair

Doch wenn Jean-Luc Bubert in einem unmöglichen Berg von einem Kostüm gegen die Ecken seines Kunst-Gefängnisses pisst, von modernden und anderen Muschis palavert und sich von seiner "Wollt ihr die totale Interpretation?" grölenden Partnerin als greinendes Riesenbaby abführen lässt, reibt man sich die Augen: Ist das wirklich so platt? Soll der Nazi im unverbesserlichen Deutschen sich jetzt "diese Art Kunst" verbitten? Oder macht sich Weiser über den Kunstmarkt selbst und über die jedes aufgeblasene Nichts zu einem Wunder an Weltdurchdringung stilisierende Kunstprosa lustig? Es ist fast egal, denn beides ist billig. Und wenn man es mit dem Anlass dieses Abends in Beziehung setzt, ist es noch schlimmer als das.

Die Kunst mag heute hierzulande im Korsett aus vielerlei Abhängigkeiten und Moden zappeln und sich mitunter selbst aus den Augen verlieren. Der Vergleich mit den Instrumentalisierungen und Zwängen, denen sie zur NS-Zeit ausgesetzt war, hinkt jedoch auf ganzer Linie.

 

Nystagmus – Eine große deutsche Kunstausstellung
Autor und Regie: Eyal Weiser, Visuelles Konzept: Rami Maymon, Dramaturgie: Natalie Fainstein, Kilian Engels, Kostümbild und Requisiten: Tamar Levit, Licht: Günther E. Weiß.
Mit: Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Johannes Meier, Oliver Möller, Leon Pfannenmüller, Lenja Schultze, Max Wagner, Mara Widmann, Magdalena Wiedenhofer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

Auf dem Internetportal der Abendzeitung München schreibt Gabriella Lorenz (4.5.2014), zuerst folge man der Inszenierung noch willig und suche nach "der Verbindung von heute zur Kunstrezeption im Dritten Reich". Die "esoterische Geisterbeschwörerin", die sich in Wdie Seele des Jesus-Darstellers der Oberammergauer Passion 1937W verliere, sei "einfach nur peinlich", noch peinlicher der dritte Teil, in dem ein "Proll-Fäkal-Künstler Bruno Spatz" ausgiebig sein "blankes Gesäß" zeige. Da gebe es "keinen Konnex" mehr zu 1937, es gehe nur noch um eine "billige Parodie des heutigen Kunstmarktes". Man vermisse eine Aussage. Die Zuschauer würden "vorgeführt und in die Falle gelockt": "Buhen sie, sind sie avantgarde-feindliche 'Nazis'. Jubeln sie, gehen sie der Provokation auf den Kunst-Leim." Man werde "verarscht".

In der Süddeutschen Zeitung (5.5.2014) schreibt Egbert Tholl
"Nystagmus" zeige "nur Weisers immerwährendes Dilemma, im eigenen Schaffen vom Holocaust loskommen zu wollen und dies nicht zu schaffen". Die erste der versammelten Performances sei faszinierend, wenn Max Wagner als androgynes Künstlerwesen mit einer Schnur die Umrisse eines Gesichts an die Wand zaubere, sei das ein schöner, flirrender, wunderbar assoziativer Moment. Danach werde es grob. Weiser kommentiere die Ausstellungen von 1937 nicht. Er variiere Bezüge zu ihnen, die aber weniger mit Deutschland als mit seinen Idiosynkrasien zu tun hätten. Weiser sei " nicht auf Sensation aus", er hantiere naiv und staunend, "verblüffend unintellektuell", wie es sich "hierzulande niemand" traue. "Doch sein Blick von außen ist irritierend trübe."

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