Das Lachen im Angesicht des Abgrunds

von Sascha Westphal

Marl, 7. Mai 2014. Festivals versprechen Aufbrüche zu neuen Ufern und Ausbrüche aus dem Alltag, den es im Theaterleben eben auch gibt. Ihre Programme laden zu aufregenden Entdeckungen und ungewöhnlichen Abstechern ein. Insofern fordern sie Reisemetaphern geradezu heraus.

Zeitlos schroffe Inseln

Mit ihrem Motto "Inselreiche", das sowohl wörtlich wie bildlich zu nehmen ist, greifen die diesjährigen Ruhrfestspiele Recklinghausen das Reise-Motiv ganz direkt auf. Das Programm mit seinen unterschiedlichen Schwerpunkten, die unter anderem Uraufführungen und Texten irischer Autoren gewidmet sind, scheint dabei selbst aus einer Gruppe von Inseln zu bestehen. Und in ihrer Mitte findet sich ein kleines Eiland, das einem einzigen Autor, Samuel Beckett, gewidmet ist.

eh joe 3 560 anthony woods uVon der unerbittlichen Kamera beobachtet: Michael Gambon in "Eh, Joe" © Anthony Woods

Becketts Werke hatten, um noch ein letztes Mal im Bild zu bleiben, schon immer etwas Insulares. Trotz ihrer Nähe zum absurden Theater und ihrer Wurzeln in der literarischen Moderne stehen sie letztendlich für sich, schroff und zeitlos. Wie einzigartig diese Texte auch heute noch sind, daran erinnern zwei Gastspiele vom Dubliner Gate Theatre, "Eh, Joe" und "I'll go on", die nun im Rahmen der Ruhrfestspiele erstmals in Deutschland zu sehen sind. Beide Produktionen basieren auf Texten, die ursprünglich nicht für das Theater geschrieben wurden. "Eh, Joe" war 1966 Becketts erste speziell für das Fernsehen geschriebene Arbeit, und "I'll go on" ist ein ungeheuer dichtes Kondensat aus den drei erstmals in den 1950ern erschienenen Romanen "Molloy", "Malone stirbt" und "Der Namenlose".

Stimme im Kopf

Eine durchsichtige Gazeleinwand nimmt bei "Eh, Joe" die ganze Bühnenbreite ein. Dahinter liegt ein nahezu leerer Raum, in dem sich nichts außer einem schmalen Bett und einem Wandschrank befindet. Das eine Fenster und die eine Tür nach draußen lassen sich genauso wie die zum Schrank von Vorhängen verdecken. So kann sich der alte, von Michael Gambon verkörperte Mann ganz vor der Welt verstecken.

Als sich Gambon nach einem kurzen Rundgang durch dieses Museum der Einsamkeit wieder auf sein Bett setzt, verändert sich das Licht. Er bleibt links in einem kleinen Lichtkegel sichtbar, während auf die rechte Seite der Leinwand sein Gesicht in Großaufnahme projiziert wird. Dazu ertönt die Stimme einer Frau (Penelope Wilton), die ihn mit Episoden aus seiner Vergangenheit konfrontiert. So konsequent er sich auch gegen alles und jeden abschottet, vor dieser Stimme in seinem Kopf gibt es kein Entrinnen.

Bis zum tiefsten Verzweiflungsgrund

Wie in dem von Beckett akribisch ausgearbeiteten Fernsehspiel vorgeschrieben, kommt die Kamera dem Mann in Atom Egoyans eindringlicher Inszenierung immer näher. Gambons Gesicht, der Mund, der sich immer wieder leicht öffnet, als wollte er der Stimme antworten, und die Augen, die sich mehr und mehr mit Tränen füllen, werden immer größer auf der Leinwand. Die Kamera ist ein unerbittlicher Beobachter, dessen Blick sich Gambon vorbehaltlos öffnet.

eh joe 4 560 anthony woods uMichael Gambon liefert in "Eh, Joe" keine nahezu regungslose Darstellung ab, wie sie Beckett für die Rolle eigentlich vorschwebte. © Anthony Woods

Damit weichen der irische Schauspieler und der kanadische Filmemacher Egoyan deutlich von Becketts Vorstellungen ab. Dem schwebte eine nahezu regungslose Darstellung vor, genau wie die Deryk Mendels, der den alten Mann in Becketts eigener, 1966 für den Süddeutschen Rundfunk entstandener Inszenierung gespielt hat. Egoyan rückt dieses Szenario eines von Schuldgefühlen und bitteren Erinnerungen geplagten Lebens dagegen in die Nähe seiner Kinofilme. Wie in seinen teils verschachtelten Melodramen und Thrillern arbeitet er sich zusammen mit Michael Gambon bis zum tiefsten inneren Grund dieses Verzweifelten vor und entreißt ihm dabei seine Geheimnisse.

Grandiose Studien des Verfalls

Der rätselhafte Landstreicher Molloy, der auf den Tod wartende Malone und der sich nach der Stille, dem ewigen Verstummen verzehrende Namenlose könnten durchaus ein und derselbe Mann sein. Die Ich-Erzähler der drei Romane verbinden nicht nur der Hass auf ihre Mutter und der Wunsch, nie geboren zu sein. Sie sind zudem auch Versehrte, die nach und nach die Kontrolle über ihre Körper und ihr Leben verloren haben.

Der Ire Barry McGovern, der im englischsprachigen Theater als der ideale Beckett-Darsteller gefeiert wird, entwickelt aus diesen drei Facetten einer archetypischen Figur grandiose Studien des Verfalls. Seit mehr als 30 Jahren steht er nun schon mit diesem dreiteiligen Monolog, den er gemeinsam mit Gerry Dukes und dem Regisseur Colm Ó Briain erarbeitet hat, auf europäischen und amerikanischen Bühnen. Aber das merkt man weder ihm noch der Inszenierung an. McGovern stürzt sich mit einer schier überwältigenden und anscheinend auch unerschöpflichen Energie in diese enigmatischen und poetischen Texte. Selbst in Momenten tiefster Verzweiflung und größten Ekels angesichts eines verhassten Lebens scheint dabei noch Becketts sardonischer Humor durch. McGovern trifft dieses Lachen im Angesicht des Abgrunds, das so typisch für Becketts Schaffen ist, perfekt.

 

Eh, Joe
von Samuel Beckett
Regie: Atom Egoyan; Bühne: Eileen Diss; Kostüme: Robert Ballagh; Licht: James McConnell.
Mit: Michael Gambon und der Stimme von Penelope Wilton.
Dauer: 30 Minuten, keine Pause

I'll go on
nach Samuel Becketts Romantrilogie "Molloy", "Malone stirbt" und "Der Namenlose"
Regie: Colm Ó Briain, Bühne und Kostüme: Robert Ballagh, Licht: James McConnell.
Mit: Barry McGovern.
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, eine Pause

www.ruhrfestspiele.de

 

 

Kritikenrundschau

In der Welt (7.5.2014) schreibt Stefan Keim, Gambons stummes Spiel sei ein Ereignis. In der zweiten Inszenierung kitzle McGovern bei "Molloy" aus Becketts Texten "die absurde Komik heraus, tempogeladen und gedankenschnell". "Malone" sei nicht nur eine Virtuosennummer, "denn im rasenden Taumel der Worte schimmert die Sehnsucht nach dem Schweigen durch, nach dem Tod". "Beide Aufführungen sind nahe dran an Becketts Denken und Fühlen, nähern sich ihm mit klaren Regiekonzepten, die völlig unterschiedlich sind und zusammen ein Ganzes ergeben." Beckett führe sein Publikum zu dem Moment, "in dem das Ich verschwindet und die Worte verstummen. Hier, so glaubt er, beginnt die Wahrheit. Michael Gambon und Barry McGovern vermitteln eine Ahnung davon. Mehr kann Theater nicht erreichen."

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