Im freien Fall

von Kai Krösche

Wien, 12. Mai 2014. Yasser Mroué wurde im Alter von 17 Jahren von einem Scharfschützen im Libanon in den Kopf geschossen. Teile seines Hirns wurden zerstört, sein Sprachzentrum dauerhaft beschädigt, wie durch ein Wunder hat Mroué den Anschlag überlebt. Mit einem Mal: Sprachkenntnisse auf Grundschulniveau, Schwierigkeiten, Menschen und Gegenstände auf Bildern wiederzuerkennen, Lähmung einzelner Körperteile. Vorbei die angestrebte Karriere als Musiker, stattdessen ein mühseliges Neuerlernen von Sprache, ein Neuerkennen der ihn umgebenden Welt.

Kampf gegen die Sprachlosigkeit

Heute steht Yasser Mroué, mittlerweile über 40, auf der Bühne: Sein älterer Bruder, der libanesische Regisseur Rabih Mroué, hat ihn gleichsam zum Thema wie Protagonisten seines neuen Stücks gemacht. Mroué erzählt aus seinem Leben (oder besser: aus jenem Leben, das ihn sein Bruder in Form von vorverfassten Texten erzählen lässt), spricht von dem einschneidenden Punkt in seinem Leben, berichtet vom ersten Sex nach der Verwundung, von den unverständlichen Sprachrudimenten, mittels derer er sich kurz nach dem Krankenhausaufenthalt zu verständigen suchte, von den Rückschlägen, aber auch von den Fortschritten, zum Beispiel davon, wie er mit Hilfe einer Videokamera wieder zu abstrahieren lernte.

ridingonacloud1 560 joenamy uYasser Mroué auf der dunklen Bühne © Joe Namy

Es ist dieselbe Videokamera, mit der Yasser Mroué über die Jahre hinweg über 100 kurze Filme drehte, von denen er im Rahmen des Abends in etwa 20 zeigt (eigentlich, so verrät er, hätte er gern alle gezeigt, doch sein Bruder, der Regisseur, wollte lediglich eine Auswahl). Eine DVD nach der anderen legt er in den Player, die Videos laufen über die Leinwand; mal zeigen sie die Schulzeugnisse des Grundschülers Yasser Mroués, gegenübergestellt mit seinem Zeugnis kurz vor dem Anschlag; mal eine Lenin-Silhouette über Mroués Gesicht, das lippensynchron eine Rede des kommunistischen Politikers mitspricht. Was die Videos eint, ist der persönliche Bezug zu Mroué, der oft parallel Texte spricht oder von Kassette einspielt, Texte, die aus seinem Leben erzählen und die auf diese Weise die gesehenen Bilder mit neuen Bedeutungen aufladen.

So geraten die verschiedensten Variationen rauschender Fernseher zum Sinnbild jener Unverständlichkeit und Leere, die Mroué in den ersten Wochen nach seinem Erwachen aus dem Koma verspürte, vermitteln die mit unpassenden Worten untertitelten Bilder von Alltagsgegenständen jenes bedrängende Gefühl einer fehlenden Sinnhaftigkeit hinter dem Gesehenen. Rezeption ist lediglich ein erlerntes, vielleicht gar beliebiges, jedenfalls fragiles Gebilde, das ebenso schnell wieder zusammenbrechen und den Menschen in den freien Fall stürzen kann.

Seltene und berührende Leichtigkeit

"Riding on a Cloud" heißt der kleine und erfrischend unspektakuläre Abend. Der Titel ruft Bilder grenzenloser Freiheit wach, doch gähnt aus ihm ein düsteres Loch: Wer auf einer Wolke zu reiten versucht, wird durch sie hindurch in ein ungewisses Nichts stürzen. In dieser, bereits im Titel angelegten Ambivalenz liegt die Stärke des Abends; hier wartet der Abgrund hinter der Alltäglichkeit, ist der Schrecken spürbar, aber nicht auf, sondern (viel stärker noch) außerhalb der Bühne. Durch die Konzentration auf ein einzelnes, persönliches Leben (und Schicksal) erzählt uns der Abend über all das, was vielleicht auch denkbar gewesen wäre, stellt die Frage nach alternativen Möglichkeiten des Daseins, pflanzt dem Betrachter ein unbeantwortbares und umso bohrenderes "Was wäre, wenn…"  in den Kopf.

In "Riding on a Cloud" gibt es kein Richtig oder Falsch, kein Gut oder Böse. Durch die bewusst wertfreie Darbietung einer Lebensgeschichte mit Verzicht auf politische Statements zugunsten eines Schwerpunkts auf private, intime, persönliche Erfahrungen feiert der Abend das Leben selbst, mit all seinen Höhen und Tiefen, Rückschlägen und individuellen Wegpunkten. Wie zeitgleich wunderschön (und, als Folge des "Was wäre, wenn" im Kopf: ebenso furchtbar), wenn am Ende des Abends Yassers Bruder Rabih auf die Bühne kommt und gemeinsam mit ihm ein Lied auf der Gitarre spielt. Und dabei ganz von alleine, unbemüht und mit einer seltenen und berührenden Leichtigkeit, von der Absurdität des Krieges, von der Ungeheuerlichkeit des Todes und vom unschätzbaren Luxus des Friedens erzählt, während er all das nur als Fußnote erwähnt.

 

Riding on a Cloud
von Rabih Mroué
Text & Inszenierung: Rabih Mroué / In Zusammenarbeit mit Sarmad Louis.
Mit: Yasser Mroué.
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Mehr zu Rabih Mroué: Wir besprachen 33 rounds and a few seconds beim Steirischen Herbst. 2011 wurde ihm und Lina Saneh der Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreis verliehen. Im vergangenen Jahr gastierte er bei der "Großen Weltausstellung" des Berliner HAU auf dem ehemaligen Tempelhofer Flugfeld.

 

Kritikenrundschau

Thomas Trenkler vom Standard (14.5.2014) hat eine "beklemmende und doch nie anklagende, stellenweise sogar amüsante Performance" in simplem Setting gesehen. Dabei bestehe eine "Distanz zwischen Yasser Mroué und der Figur gleichen Namens". Die Erzählung sei außerdem "nicht linear, manches erschließt sich erst mit der Zeit". Eben darin liege "das Kunstvolle des 70 Minuten kurzen Abends, der mit einer berührenden Szene der beiden Brüder schließt".

Dies sei "keine Krankengeschichte aus der flotten TV-Serie 'Grey's Anatomy' oder andere gut gemachte Massenware für ein Publikum, das sich an schnellen Lösungen großer Probleme ergötzen möchte. Allein die Langsamkeit ist wohltuend", schreibt bp (vermutlich: Barbara Petsch) in der Presse (14.5.2014). Dennoch sei die Performance "atemberaubend dicht". Die Videos hielten in der Schwebe, was Yasser Mroué "tatsächlich erlebt" habe und "was er imaginiert", in einem "Ambiente, das so fragil und zart wie das Leben selbst ist. Wie wirklich ist das Dasein? Yasser kann zwischen Realität und Fiktion nicht unterscheiden, was im Theater geschieht, hält er für echt." Der Abend sei "eine überaus gelungene Fusion von Theater und bildender Kunst".

In Christine Dössels Auftaktbericht über das Festival "Theater der Welt" für die Süddeutsche Zeitung (27.5.2014) wird "dieser zutiefst persönliche, erkenntnistheoretisch humane Abend, der völlig unspektakulär wie eine private Video-Lecture-Performance daherkommt, und doch ungeheuer vertrackt und existenziell ist in der Art, wie er Wahrnehmung hinterfragt und Seinsfragen stellt", gewürdigt.

Eingehend lobt Katrin Bettina Müller für die taz (27.5.2014) in ihrem Auftaktbericht zum Festival "Theater der Welt" Mroués "Liebeserklärung an den Bruder, an familiäre Bindungen, an die Notwendigkeit, sich die eigene Geschichte wieder und wieder zu erzählen, wenn so vieles um einen herum zerstört wird". Denn: "Selten erfährt man so luzide, was Sprache mit dem Sprechenden macht und umgekehrt."

Als "Höhepunkt des Eröffnungswochenendes" des Festivals "Theater der Welt" in Mannheim gilt diese Arbeit Peter Michalzik in der Neuen Zürcher Zeitung (28.5.2014). Mroué entwickle "mit Videos, Liedern und einer Geschichte eine traurige und zugleich trockene Intimität, die im Theater zurzeit einzigartig ist. Es war nicht in erster Linie die Erschütterung über den Bürgerkriegstod, die diese einfache, bescheidene Arbeit so stark macht, es war das dunkle Nichts im Dasein und im Selbst, das hier sichtbar wurde."

"Lakonisch, aber trotzdem sehr berührend" erzähle Rabih Mroué davon, "was Politik und Krieg mit einem Menschen anstellen können", so Alexander Jürgs in seinem Theater der Welt-Überblicksartikel in der Welt (8.6.2014). Bemerkenswert sei, "dass Lilienthal einige Stücke nach Mannheim brachte, die – bei aller Vorsicht gegenüber solchen Begriffen – fremd und anders geblieben sind" – wie "Riding on a cloud".

Kommentare  
Riding on a cloud, Wien: postdramatisch alter Hut
Ich war leider nicht beeindruckt. Ich war betroffen vom Schicksal des Performers. Seine Geschichte über den Mordversuch eines Heckenschützen ist ungeheuerlich. Für mich blieb es allerdings bei dieser Erzählung. Dass der Bruder die Ebene der Konstruktion von Realität etablieren will, fand ich eher hilflos. Was soll ich damit anfangen? Gilt für alles im Leben und ist inzwischen ein alter Hut des postdramatischen Theaters geworden.
Riding on a cloud, Wien: ein liebenswerter alter Hut
Ob etwas ein "alter Hut" ist, ist mir erst Mal relativ egal. Das Theater selbst ist ja auch ein "alter Hut", ich liebe es trotzdem. Wenn es aber in der Geschichte schon darum geht, mit welchen Mitteln ein Mensch nach einer solchen Situation sich seine Realität wieder zusammensetzt, weil ihm wichtige Werkzeuge dazu aufgrund medizinischer Fakten fehlen, finde ich es nur richtig, das auch in der Struktur des Abends zu spiegeln. Was daran hilflos sein soll, erschließt sich mir beim besten Willen nicht.
Riding on a cloud, Wien: nicht einzigartig genug
Ich muss mir selber meine Vergangenheit durch Sprache, Schrift oder Fotografie täglich rekonstruieren oder auch konstruieren. Und auch die Gegenwart bleibt davon nicht verschont. Wenn in einer Aufführung aber nicht mehr passiert, als das Audio- und Bildträger in einen Player gesteckt werden und darüber gesprochen wird, dass ich aufgrund einer Verletzung zwischen Realität und Repräsentation nicht unterscheiden kann oder konnte - dann finde ich das hilflos. Ich empfinde die Inszenierung sogar als Missbrauch am Performer, dem Bruder des Regisseurs. Mroue untersucht in seinen Abenden schon lange das Thema des Archivs, der Repräsentation etc. - mit seinem Bruder kommt er zu gleichen Ergebnissen, und das ist mir nicht einzigartig genug. So einzigartig, wie die Geschichte des Bruders nämlich ist.
Kommentar schreiben