Der Mensch knarzt in den Angeln

von Simone Kaempf

Berlin, 14. Mai 2014. Welche Fülle an Augenrollen, Münder verdrehen, mechanisches Gliederschlottern! Eine Schauspielerin kreist minutenlang Augen und Zunge wie von einem Schlangenbeschwörer animiert. Ein Anblick, bei dem einem die Gesichtsmuskeln fast selbst zu schmerzen beginnen. Oder zwölf Spieler quetschen sich wie Däumlinge auf ein übergroßes Sofa, murmeln in einer unverständlichen Kunstsprache, pieksen sich in die Seite. Too much eigentlich, und das ist dann doch einer der Momente, bei dem man denkt, dass es auch langsam gut ist mit den grotesken Verstellungen, dieser Mischung aus Stummfilmgesten, mit musikalischen Scheppern unterlegten Bewegungen, Plastikperücken und überschminkten Gesichtern.

Lebens-Pantomime aus kindlich-spielerischem Geist

Nein, große Überraschungen hat Herbert Fritschs "Ohne Titel Nr. 1" beim Theatertreffen nicht zu bieten, kleine jedoch genug. Dazu ist sein Stil zu wiedererkennbar, aber auch unverkennbar gut. Erstaunlich, was ihm en détail immer wieder einfällt. Und was könnte man den zwölf Fritsch-Spielern schon übel nehmen? Denn ja, sie beherrschen den Fritsch'schen Slapstick ganz vorzüglich, und der funktioniert immer am besten, wenn kein Stück als Vorlage dient, sondern aus kindlich-spielerischem Geist Lebens-Pantomime betrieben wird.

ohne titel nr1 3 560 thomas aurin hSofa mit Liliputs: "Ohne Titel Nr. 1" @ Thomas Aurin

Fritsch beim Theatertreffen ist natürlich ein Heimspiel, weshalb die Aufführung auch gleich in der Volksbühne gespielt wird. Vor einem Publikum, das fröhlich Szenenapplaus gibt und den Regisseur mit Jubel empfängt. Sichtlich gut gelaunt erscheint Fritsch bei der finalen Applausordnung mit einem vor den Kopf geschnallten Brett. Seine zwölf Schauspieler recken wie Orgelpfeifen ihre Köpfe hinter dem großen Sofa hervor, ihr Rhythmus wird immer schneller, befeuert von den drei Musikern im Orchestergraben – eine allerletzte Szene, die den Mensch als eine Art Instrument zeigt.

Mit den Ritualen des Kunstbetriebs spielen

"Eine Oper" lautet der Untertitel der Inszenierung, die mit den Ritualen des Kunstbetriebs, ihrer Komik wie ihrem Schrecken, spielt. Die Schauspieler kreischen anfangs auf, wenn sie mit grauenverzerrten Gesichtern entdecken, dass sich im Raum auch Publikum befindet. Wolfram Koch versucht sich gestenreich am Vorführen von Zaubertricks, die natürlich Misslingen, was dieses Scheitern zur eigentlichen Shownummer erhebt. Die zwölf Schauspieler steigern ihr "a" beim Üben der Tonleiter orgiastisch in die Höhe oder sich wie zeitlupenlangsame Taktpendel hin und her, knarzen dabei wie alte Holztüren in den Angeln.

Die schönsten Szenen provoziert jedoch das übergroße Sofa, das die Spieler wie Liliputaner mühsam hochkrabbeln, wie eine Aussichtsplattform besteigen oder zappelnd mit dem Fuß in der Sofaritze hängen bleiben. Die Abarbeitung am zu Großen offenbart das existenziell Absurde – Fritsch hat daraus einmal mehr einen Abend gezaubert, der sich von so mancher Kunstanstrengung dieses Theatertreffens wohltuend abhebt.
      
Hier geht's zur Nachtkritik der Premiere an der Berliner Volksbühne im Januar 2014.

Unsere Theatertreffen-Festivalübersicht mit Nachtkritiken und Kritikenrundschauen zu allen Premieren sowie Shorties zu den TT-Gastspielen.

Kommentare  
TT-Shorty Ohne Titel: Antikunst-Anstrengung!
"Anti-Kunstanstrengung"? Man könnte auch sagen: Antikunst-Anstrengung.
TT-Shorty Ohne Titel: Formal und künstlich
Ich wüsste nicht, welches Theater zur Zeit formaler und künstlicher ist als das von Fritsch: Das ist also Kunst, auch eine Kunstanstrengung. Jetzt weiß ich aber nicht, welche sonstige Kunstanstrengung auf dem TT gemeint sein soll. Wahrscheinlich Castorf?
TT-Shorty Ohne Titel: Nichts ist dümmer und unterhaltsamer
Ich wüsste nicht, welches Theater dümmer und unterhaltender wäre, als das von Fritsch. Und die Reaktionen des Publikums erinnern in der Hysterie eher an den Sportpalast. Arme Volksbühne!
TT-Shorty Ohne Titel: Unterhaltung schlecht?
@3 Weil Unterhaltung ja auch per se nichts Gutes ist... auweia.
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