Ändere die Welt, nicht das Theater

von Klaus Völker

Berlin, 20. Mai 2014. Theater und Gesellschaft hängen voneinander ab. Und wie das Theater die Gesellschaft braucht, sich auf sie beziehen und reagieren muss, so braucht die Gesellschaft das Theater- als Spiegel, als "Gewissen", als Forum von Auseinandersetzung.
Wenn die Gesellschaft ein anderes Theater braucht, dann kann der Mensch des Theaters auch eine andere Gesellschaft verlangen. Das andere Theater, das die heutige Gesellschaft braucht, die eine Netzgesellschaft ist, benötigt keineswegs eine "digitale Naissance des Theaters", die ihr Ulf Schmidt verordnen möchte. Vielmehr brauchen wir ein Theater, das der digitalen Diktatur, von der die Gesellschaft beherrscht wird, Widerstand leistet, den Menschen die Köpfe von dem Müll reinigt, der auf den Rhythmus ihres Lebens, ihr Denken und Fühlen so viel Einfluss nimmt.

Das Theater interessiert sich nicht für Figuren

Ob die Kritik zutrifft, die Gerhard Stadelmaier kürzlich in der FAZ gegen die "März"-Inszenierung von Johan Simons in der Spielhalle der Münchner Kammerspiele sowie gegen die Bühnenadaption von Heinrich Manns Roman "Die Jagd nach Liebe" von Barbara Weber im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels vorgebracht hat, kann ich nicht beurteilen, weil ich diese Aufführungen nicht gesehen habe; ihr Fazit allerdings kann ich bestätigen: viele Regisseure verhalten sich völlig lieblos gegenüber denen, die eigentlich ihrer Zuneigung, ihrer bewundernden Aufmerksamkeit und Fürsorge sicher sein sollten: den Elenden und Leidenden, den Außenseitern der Gesellschaft, die für verrückt, wahnsinnig, pervers oder zu eigenwillig gehalten werden. Sie interessieren sich in der Regel gar nicht mehr für die von Schauspielern zu verkörpernden Figuren, sondern vernichten sie, machen sich mit Effekten über sie lustig, veralbern sie, lassen sie schreien, turnen, aktionistisch ins Leere laufen. "Das Theater", schreibt Stadelmaier, "eigentlich dazu da, solche Figuren wie Claude und März, die ihren Schmerz, ihre Liebe, ihre Tollheit und Widerständigkeit im Übermaß verschwenden, zu feiern oder wenigstens zu verstehen, nimmt sie am Schlawittchen. Und tunkt sie ein ... Es interessiert sich nicht für sie. Es dreht sich nur um sich selbst. Und wird, wenn es so weitermacht, wohl irgendwann auch in sich selbst verschwinden."

Maerz2 560 JulianRoeder xInteressiert sich dieses Theater nicht für seine Figuren? Johan Simons' "März" an den Münchner
Kammerspielen, mit Sylvana Krappatsch, Sandra Hüller und Thomas Schmauser © Julian Röder

Von den Stücken, die sie gerne zu Anschauungsmaterial der in Zeitungen dokumentierten Wirklichkeit verkleinern oder den Romanen, die sie vorzugsweise dramatisieren, scheinen die Regisseure und Dramaturgen keinerlei literarischen Begriff zu haben, sie werden nur hemmungslos auf Effekte hin ausgeschlachtet, zu lachbaren Karikaturen demontiert oder zu monströsen Comics verformt. Das vorherrschende Regisseursprojektetheater, das in erschreckendem Maße auch schon an den Regieausbildungsinstituten und geradezu inflationär in der global vernetzten Off-Szene praktiziert wird, setzt aufwendige Theatermaschinerie und viel Videotechnik ein, haut laut und mit reichlich abgenutzten Pop-Elementen auf die Pauke – trifft aber selten einen stimmigen und schon gar keinen wahren Ton.

Wichtigtuerei statt gesellschaftlicher Bedeutung

Jede Form von Theater ist "performance", nur sind die von Aktionskünstlern wie Beuys oder Tim Ulrichs praktizierten Performances inzwischen, um aufwändige Installationen erweitert, zu Inszenierungsunternehmungen geworden, in der Stücke nur als Materiallager für alle möglichen Selbstdarstellungs- und Selbsterfahrungsexzesse von Darstellern, politische Bekundungen und theoretische Verlautbarungen dienen. Theaterwissenschaftler haben dafür gesorgt, dass ihre Diskursversessenheit zur Theaterpraxis geworden, die Funktion der Dramaturgie als "Kopf" des Theaters aber abgeschafft worden ist. Nachdem sich der Begriff des Postdramatischen für diese Theaterwissenschaftler erschöpft hat, proklamieren sie das performative Theater, damit dem exzessiven Regisseurstheater Vorschub leistend, jener Art von Theater, das kein Drama will, das keine Stückeschreiber mehr will, um Projekte zu kreieren und zu stützen, bei denen nur die Konzepte, Vorstellungen und Assoziationen des Regisseurs das Sagen haben, bei denen die Darsteller auch keine Rollen verkörpern, sondern Erfüllungsgehilfen des Regisseurs und ebenfalls ambitionierte Aktionisten sind, die mit vielen Kunststückchen paradieren und ihren persönlichen "Kram", ihren Frust, ihren Seelenschmus, ihre "Schwierigkeiten" als Nummern einbringen können.

Die Theater verdrängen mit Wichtigtuerei und pop-art-igem Lärm, dass sie keine gesellschaftspolitische Bedeutung mehr haben, ihnen keine mehr eingeräumt wird. Was sie für politisches Theater halten oder ausgeben, ist oft nur Wiedergabe der in allen Medien reportierten politischen Ereignisse und deren Erörterung und Zerreden in Talkshow-Formen. Die Qualität gelungener Aufführungen, die es ja gottseidank auch noch gibt, verschwindet in der Quantität unerheblicher Produktionen, in dem gleichmachenden Nebeneinander von tollen Inszenierungen mit professionellen, hervorragenden Schauspielern, von läppischem Regisseurtstheater (in dem wunderbare Schauspieler zwar viel artistisches Können zeigen, aber allen "Inhalt" oberflächlich "verspielen"), des Weiteren von Off-Bühnen mit Laienspielern oder Möchtegerndarstellern, von gebrüllten Lösch-Arbeiten und von exhibitionistischem Mitspieltheater.

mystery magnet 560 c reinout hiel 01"Pop-art-iger Lärm" einer exzessiven Ideologin des Performativen? Szenenfoto aus Miep Warlops
Performance "Mystery Magnet" – 2014 beim neukonzipierten Stückemarkt des Berliner
Theatertreffens, den von 1986 bis 2002 Klaus Völker geleitet hat. © Reinout Hiel

Gegenwelten statt Anpassung

Ich halte nichts von einem Theater der Netzgesellschaft. Theater muss die platte Realität, die jeder genügend um die Ohren geschlagen und zu sehen bekommt, nicht imitieren, es braucht Dichtung, eine verdichtete, durch sprachmächtige oder wenigstens sprachfähige Autoren "fremd" gemachte Realität und eine zur Kenntlichkeit gebrachte Welt. Und Theater muss Gegenwelten schaffen, auch utopischem Denken Raum geben. Theater muss sich nicht der Welt anpassen, kein Mitläufertum praktizieren, sondern widerständig reagieren.

Noch eine Überlegung, die in diesen hier erörterten Zusammenhang gehört: Brecht hat, als er seine Lehrstückversuche schrieb und auf die Bühne brachte, sich Theaterverhältnisse gewünscht, bei der nicht nur die so genannte vierte Wand abgeschafft wird, sondern auch die Trennung / Unterscheidung von Theatermachern und Zuschauer, er sagte von Produzent und Konsument, ganz aufgehoben ist. Unter den harten Exilbedingungen hat sich Brecht schnell von dieser Idee wieder verabschiedet, sie auch theoretisch nicht mehr weiter verfolgt. Und bei seiner Theaterarbeit am Berliner Ensemble auf diese Idee weder theoretisch noch praktisch zurückgegriffen. Er ahnte, fürchtete und hoffte, dass sein bestes Lehrstück "Die Maßnahme" eine Tragödie (mit möglicherweise utopischem Potential) war und mit der Musik von Eisler als eine Art neuer Bachscher "Matthäus-Passion" aufzuführen wäre. Theater muss nicht ständig neu erfunden, es muss nur am Leben erhalten und zu neuem Blühen gebracht werden. Ändere nicht das Theater, sondern die Welt, sie braucht es.

 

Bei diesem Text handelt es sich um ein Referat, das Klaus Völker im März 2014 auf der Mitgliederversammlung der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Bensheim hielt.

 

foto klaus voelker uKlaus Völker, geboren 1938 in Frankfurt a. M. 1969 bis 1985 leitender Dramaturg in Zürich, Basel, Bremen und am Schiller-Theater Berlin. 1993 bis 2005 Rektor der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin. 1986 bis 2002 Leiter des Theatertreffen-Stückmarktes. Autor und Herausgeber von Büchern über Brecht, Wedekind, Beckett, Jarry, Vian, Herrmann-Neiße, Fritz Kortner, Elisabeth Bergner, Hans Lietzau, Bernhard Minetti, Peter Zadek.

 

 

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