Wider den sozialen Druck des Konformismus

von Jacob Appelbaum

23. Mai 2014. Ich war neun Jahre, als mein Vater mich dafür bestrafte, dass ich blind anderen Kindern gefolgt war. Er forderte mich auf, zwei Theaterstücke zu lesen, und führte mich so an zwei meiner Lieblingswerke für die Bühne heran: Eugène Ionescos "Die Nashörner" und Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter". Beide Dramen ließen mich erkennen, wie gefährlich es ist, gedankenlos zu tun, was andere vorgeben. Sie vermittelten mir wichtige Erkenntnisse über die Konsequenzen des kollektiven Wahnsinns in der Gesellschaft, über Selbstgewissheit, Werte und Rechte, Macht und Gewalt, aber vor allem über die Treue zu Ideen, ohne die jeweils aktuellen Folgen zu reflektieren.

Die beiden Dramen und die Worte meines Vaters machten mir klar, dass es wichtig ist, Widerstand zu leisten, und dass dieser im Dienst einer größeren Menschlichkeit stehen muss. Damit wir eine Welt schaffen, die nicht nur von totalitären Gedanken geleitet wird, mit blindem Glauben an Flaggen, Führer, Bürokraten und ihre Lakaien, oder mit simpler Autoritätshörigkeit und blindem Gehorsam, der nur um der Autorität willen eingefordert wird.

Wir alle sind "legitime Ziele"
Das Theater hilft der Gesellschaft, die großen und kleinen Fragen des Lebens zu thematisieren. Es ist ein wichtiges Element der menschlichen Kultur. Wir leben in einer Zeit großer Umbrüche, in der wir lang gehegte Traditionen neu bewerten, in der wir die wahren Grenzen der Gesetze und die moderne Dynamik der Macht begreifen, die nun die Maschinen aushandeln.

JacobAppelbaum 560 WikipediaTobiasKlenzeCC-BY-SA3.0 uJacob Appelbaum © Wikipedia/Tobias Klenze/CC-BY-SA3.0

Dank dem mutigen Whistleblower Edward Snowden realisierten wir erst in jüngerer Zeit, dass der Westen uns in unvorstellbarem Maß überwacht. Seine Systeme werden für politische Morde eingesetzt, verübt durch fliegende Roboter, die wir als Drohnen kennen. Widerspruch wird zerschlagen, ein endloser Krieg wird geführt, in dem Verdächtige, die Gruppen im Visier und die Opfer als Untermenschen gelten. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass es nicht nur um Terroristen geht, sondern wir alle, selbst Angela Merkel, sogenannte legitime Ziele sind. Doch was bedeutet diese High-Tech-Information wirklich? Wie können wir diese Dinge begreifen und den Menschen selbst sehen, ohne die Details, Nuancen und die Bedeutung, die die Fakten vermitteln, auszublenden?

Korrumpierender Journalistenpreis
Vergangene Woche wurde mir eine große Ehre zuteil: Von den wichtigsten Journalisten Deutschlands erhielt ich den Henri-Nannen-Preis für investigativen Journalismus. Unser Team gewann ihn für eine Story, die enthüllte, dass die NSA nicht nur Deutschland, Europa und die meisten Regionen unserer Welt, sondern auch und insbesondere Bundeskanzlerin Merkel ausspionierte. Eine solche Auszeichnung von Kollegen entgegenzunehmen ist ein großartiges Gefühl. Eine derartige Anerkennung erhält man nur selten für ein so heikles Thema. Umso mehr als es hier um internationale Massenüberwachung geht, die angeblich betrieben wird, um uns vor Terror zu schützen. Diejenigen, die regelmäßig dazu recherchieren, werden allzu oft selbst dämonisiert, bedroht und verfolgt, um sie zum Schweigen zu bringen.

Allerdings muss ich mich äußern angesichts der Tatsache, dass Deutschlands wichtigster Pressepreis eine zweifelhafte Geschichte birgt. Ich beschloss, auch diese zu erkunden und mehr über Henri Nannen zu erfahren. Was ich herausfand, irritierte mich. Die Lektion, die ich dank meines Vaters gelernt hatte, der mir durch das Theater etwas Wichtiges mitteilen wollte, fiel mir wieder ein. Ich hatte nicht erwartet, dass wir den Preis gewinnen würden, wollte aber in jedem Fall diese Frage anschneiden, sollten wir die Sieger sein. Die Preisverleihung fand in der Kulisse eines Zirkus statt. Es sollte unterhaltend sein, witzig, eine Leichtigkeit im Umgang mit schweren Themen ermöglichen. Nannens Name erstrahlte in großen Lettern im Saal. Als ich zusammen mit meinen Koautoren im Smoking die Bühne betrat, überkam mich das Gefühl, dass das Verlesen meines vorbereiteten Statements eine Beleidigung wäre, und dass ich besser schweigen sollte. Ich spürte den sozialen Druck des Konformismus. Ich hatte gedacht, dass ich nicht im Schweigen gefangen sein würde, doch ich hatte mich getäuscht. In diesem Zirkus spielte auch ich meine Rolle. Ich griff nicht nach dem Mikrofon. Ich schäme mich dafür, aber ich brachte auf der Bühne kein Wort hervor. Ich spürte, dass ich eine begehrte Auszeichnung erhalten hatte, und gleichzeitig ein Stück von mir dabei verlor. Ich nahm die schwere Metallbüste – Henri Nannens Kopf – mit, und unser Siegerteam feierte, wie man einen solchen Sieg eben feiert.

Gegen jede Form von Propaganda
Ich bin investigativer Journalist und arbeite an sensiblen Themen. Ich präge die Kultur, indem ich mich auf die Suche nach harten Fakten mache und sie analysiere. Als ein engagierter Vertreter der Idee des wissenschaftlichen Journalismus, einer Idee, für die heute WikiLeaks und Julian Assange stehen, will ich durch meine Arbeit gewährleisten, dass ausnahmslos jeder Zugang zu den Fakten hat, und dass der Leser die Fakten selbst überprüfen kann, die wir in unseren Texten behaupten. Ich wehre mich gegen jede Form von Propaganda. Meine Arbeit ist Anerkennung der Tatsache, dass jegliche Vereinfachung von Fakten eine Version einer größeren Wahrheit ist, die sich am besten durch Originaldokumente in Verbindung mit ihrer Interpretation erzählen lässt.

HenriNannenPreis 560 uGute Miene zum bösen Spiel – Appelbaum (mit Nannen-Kopf) bei der Verleihung des Henri Nannen Preises am 16. Mai 2014 © www.henrinannenpreis.de

Ich bin stolz darauf, dass meine Arbeit von vielen großen deutschen Journalisten gewürdigt wird. Gleichzeitig jedoch schäme ich mich dafür, eine Auszeichnung anzunehmen, die den Namen Henri Nannens trägt.

Und hier sind ein paar Fakten über Nannen: Er trat in Leni Riefenstahls Film über die olympischen Sommerspiele 1936 – Olympia – auf. Er spielte in beiden Teilen des Films eine Rolle. Er trat auch beim "Fest der Völker" auf, als Sprecher für die Eröffnung der Olympischen Spiele. Er schrieb bewundernd über Hitler, und das vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Bei Kriegsbeginn arbeitete er für eine Propagandaeinheit der Nazis in Italien; man könnte sagen, dass er einer der ersten "embedded journalists" war. Das liest sich wie ein Theaterstück, doch handelt es sich leider um historische Erinnerungen.

Henri Nannen: ein zweifelhaftes Symbol für die freie Presse
Nannen war Leutnant der Reserve der Deutschen Luftwaffe. Anfang 1944 wurde er mit dem Aktivpropagandazug der Luftwaffe, Stabskompanie, AOK 10, Italienfront, in Italien stationiert. Dort ging seine Einheit in dem neu gegründeten Waffen SS-Unternehmen Südstern auf. Genauer gesagt war Nannen Mitglied der "Südstern II", einer SS-Einheit, die am 1. Juli 1944 von Hans Weidemann in Florenz aufgebaut und anschließend nach Bevilacqua (Verona) verlegt wurde.

Nannen wurde damit nicht automatisch Mitglied der Waffen SS. Ein Foto einer Weihnachtsfeier aus dem Jahr 1944 zeigt ihn nach wie vor in seiner Luftwaffenuniform. Offiziell blieb er Leutnant der Reserve der Deutschen Luftwaffe. Doch die Fakten sprechen für sich: Er war Propagandist der Waffen SS-Einheit "Südstern".

Nach dem Krieg war Henri Nannen am Versuch beteiligt, der Öffentlichkeit die Hitlertagebücher als echt zu präsentieren. In einer kürzlich erschienenen Publikation in einem Dossier der ZEIT ist nachzulesen, dass er an wichtigen Treffen teilnahm, bei denen die Entscheidung zur Veröffentlichung der Hitlertagebücher getroffen wurde. Was in diesem Zusammenhang häufig vergessen wird, ist die Tatsache, dass die Tagebücher tatsächlich ein Versuch waren, Hitler weiß zu waschen. Sie präsentieren ihn als jemanden, der gegen die Kristallnacht war, Frieden mit England wollte und sich gegen den Holocaust wandte. Das sind klare und offensichtliche Lügen.

Nannen-Skulptur umschmelzen
Nannen ist für den Versuch, einen der größten faschistischen Massenmörder der Geschichte als unschuldig darzustellen, mitverantwortlich. Er steht damit nicht für die Ideale des Journalismus, den wir anstreben sollten. Er darf gewiss nicht für sein ganzes Leben verurteilt werden. Doch wir müssen sichergehen, dass wir wichtige Details nicht vergessen oder schlimmer noch: diese uminterpretieren. Nannen war nicht einfach ein Mitläufer, sondern eindeutig ein Mitgestalter.

Mein Vater drängte mich einst, nicht zu vergessen, dass die Nazis wollten, dass jemand wie ich nicht leben kann. Er war daher fest davon überzeugt, dass ich mein jüdisches Vermächtnis niemals verbergen dürfe, selbst wenn mir das Prügel oder Schlimmeres einbringen würde. Selbst als der Atheist, der ich wurde. Und selbst wenn ich, wie heute, in Berlin schreibe.

Als ein Mensch jüdisch-amerikanischer Herkunft konnte ich den Kopf eines Mannes, der im Krieg als Nazi gekämpft hatte, nur unter bestimmten Bedingungen annehmen. Ich kann durch ihn nicht den Namen einer Person ehren, die für eine solche Geschichte steht – gleichgültig, wie die Details sich darstellen. Dabei geht es nicht nur um meine Familie, sondern um alle Familien, egal wo sie herkommen. Niemand von uns hat heiliges Blut, und wir dürfen nicht der Vorstellung anheimfallen, dass manche aufgrund ihrer Rasse oder ihres Glaubens oder aus sonstigen absurden faschistischen Gründen über anderen stehen. Daher werde ich mit einem Metallarbeiter in Berlin zusammenarbeiten und die Skulptur einschmelzen, um sie zu einem passenderen Kopf zu formen. Dieser Kopf wird dann die wichtigste Figur des investigativen Journalismus darstellen: die anonyme Quelle. Ich weise das Votum der Jury nicht zurück. Aber ich lehne es ab, den Namen zu tragen und den Kopf eines Mannes zu präsentieren, der Propaganda für die Nazis gemacht hat.

Schweige-Verweigerung
Ich lehne auch nicht die Kollegen ab, die mich auszeichneten. Aber ich weigere mich, mich an dieser Kooptation des Namens von Egon Erwin Kisch für eine untergeordnete Kategorie des Henri-Nannen-Preises zu beteiligen. Kisch war ein bedeutender Antifaschist, der damals, wie ich heute, im Exil schrieb. Sollte es noch ein Preisgeld geben, werde ich es zwei antifaschistischen Gruppen (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten und das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin) spenden, die den Kampf fortführen.

Durch das Theater verstand ich, warum ich heute diesen Text schreiben muss. Ohne das Theater hätte ich geschwiegen. Ich verweigere mich aber dem Schweigen, weil mir mein Vater die Bedeutung des Theaters nahe brachte. Mein Vater, der als Autor, Dramatiker und Regisseur meine Moral und meinen Charakter prägte, und mir diese Werte durch die Bühne vermittelt hat.

Kultur – Musik, Malerei, Fotografie, Literatur, Tanz, Programme, Kostüme, Film, Theater und viele andere künstlerische Formen – lässt uns die Dinge erforschen und danach streben, sie zu verstehen. Durch unsere Kultur wollen wir Konflikte beilegen, und mit Technologie und Gesetzen wollen wir die Ergebnisse unserer Erkundungen als neue gesellschaftliche Normen festschreiben. Wir wären gut beraten, die Lektionen zu erinnern, die uns die Vergangenheit lehrt, und jene zu ehren, die uns helfen wollen, die Welt von heute zu begreifen. Auch das ist ein Schritt auf unserem Weg in eine gerechtere Zukunft.

Asyl für Snowden!
Angesichts der eigenen Geschichte des Faschismus und der Überwachung hat Deutschland eine moralische Autorität, die wir nutzen können, um das Leben eines jungen Mannes zu retten: Ich spreche von Edward Snowden. Deutschland sollte nicht blind anderen Ländern folgen. Deutschland kann einen wichtigen Weg einschlagen, auch wenn es diesen allein geht.

Es ist an der Zeit, Edward Snowden sicher nach Deutschland zu holen, um vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages über den größten Überwachungsskandal der Geschichte zu sprechen, der viele Länder – nicht zuletzt mein eigenes – betraf und betrifft. Es ist an der Zeit, dass sich der Bundestag nicht durch vage juristische oder wirtschaftliche Drohungen meiner Regierung einschüchtern lässt. Zusammen mit vielen anderen fordere ich Deutschland auf, Edward Snowden Asyl und eine sichere Reise zu gewähren.

Edward Snowden ist Zeuge von Verbrechen, die an uns allen verübt wurden. Öffnen wir den Vorhang auf der Bühne der Welt für ein Drama, von dem die gesamte Menschheit profitieren kann, das Nationen überwindet und persönliche Interessen hinter sich lässt: Asyl für Edward Snowden, damit es Gerechtigkeit für alle geben kann. Hier in Deutschland und überall in der Welt.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian-Astrid Geese

Find the original English version of the speech here.

Jacob Appelbaum, Jahrgang 1983, ist Hacker, Internetaktivist und Journalist. Er gehört zu dem kleinen Kreis der Vertrauten des Whistleblowers Edward Snowden und wertet die Datenmassen mit aus, die Snowden aus dem Archiv der NSA entführt hat. Um der Verfolgung durch die US-Behörden zu entgehen, lebt Appelbaum im Exil in Berlin. Die vorliegende Rede hielt er am 23. Mai 2014 zur Eröffnung des von Matthias Lilienthal kuratierten Festivals "Theater der Welt" in Mannheim.

 

mehr porträt & reportage