SPAM - Roland Schimmelpfennigs magisches Passionsspiel umkreist am Hamburger Schauspielhaus die Smartphone-bedingte Ausbeutung der Armen
Das Drama an unserem Ohr
von Michael Laages
Hamburg, 23. Mai 2014. Tief und tiefer scheint sich der Dramatiker Roland Schimmelpfennig hinein graben zu wollen ins Herz der kolonial-kapitalistischen Finsternis. In seinen Stücken aus jüngerer Zeit, etwa Die vier Himmelsrichtungen oder Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes, spiegelt der ebenso fleißige wie viel gespielte Dramatiker Elend und Verzweiflungen der ehemals "Dritten Welt" in den Geschichten derer, die an eben diesen Dramen verdrängter und vergessener Welten heute und im alleralltäglichsten Sinne teilhaben und von ihnen profitieren; auch bei den jüngsten Schritten der industriellen Revolution.
Wir tragen das Drama am Ohr – denn das Werkzeug dieser Abhängigkeit der Reichen von den Armen und der Ausbeutung der Armen durch die Reichen ist in diesen Fall das Mobiltelefon: Handy, Smart- oder iPhone. Ohne den Rohstoff Coltan, ohne das Tantal-Erz, beides abgebaut unter gefährlichen bis menschenunwürdigen Bedingungen in zentralafrikanischen Minen, geht bekanntlich nichts in dem kleinen Gerät, das längst die Welt zusammen hält.
Leichen in der Grube
Wobei kein Text von Schimmelpfennig vordergründig dokumentarischer Logik folgt. Der neue, uraufgeführt vom Autor selber am Hamburger Schauspielhaus im Bühnenraum von Wilfried Minks (der seinerzeit Peggy Pickit am Thalia Theater inszenierte), erzählt in (mindestens) drei Handlungssträngen um den Kern des Interesses herum. Zum einen folgen wir den letzten 50 Tagen im Leben eines weißen Grubendirektors; sie beginnen damit, dass einer der schwarzen Arbeiter beim Erz- und Gold-Abbau unauffindbar verschüttet wird. Die Frau des Toten weint am Schacht, ununterbrochen. Und der Chef wird magisch-tödlich angezogen von der jammernden Stimme. Er "verliebt sich" und will darum den Toten für sie ausgraben. Während er das aber versucht, stößt er zwar nicht auf die erhoffte Leiche, dafür aber auf 400 andere – und wie viel Magie in dieser Sisyphus-Arbeit steckt, wird immer wieder in den Wortmeldungen der Köchin kenntlich, die quasi die letzten Tage herunter rechnet. Jeder Tag hat besondere Bedeutung: ein Passionsspiel.
Der Grubenchef, ein "Riese" und eigentlich verbandelt mit der Kapitänin des Transporters, der allmonatlich Müll nach Afrika bringt und die Schätze aus der Grube mit zurück nimmt, vielleicht nach Hamburg, ist der Weinenden fundamental verfallen, ganz so, als habe sie Nadeln in eine Voodoo-Puppe gestochen. Und es kommt immer schlimmer: Der Riese verliert das (eh schon schwache) Herz. Ein neues wird ihm eingepflanzt, in blutigem Grand-Guignol-Spektakel – und wie in Heiner Müllers berühmtem "Herzstück" ist es ein Ziegelstein. Aber die Zeit schwindet. Fürs Sterben beschwört die magische Köchin als Traum und Alptraum eine Fahrt in der U-Bahn herauf: Der Chef und die vor lauter Weinen Blinde berühren einander, und der Zug explodiert. Das Gespenst des toten Arbeiters hat, unentwegt ins Handy quatschend, eine Splitterbombe gebaut.
Das Flimmern digitaler Welten
Der Traum von der Zugfahrt, die realen 50 Tage und unbändiges Handy-Gezwitscher (unter anderem wie zwischen Autor und Lektor über den "tollen Titel" des Stückes) sind eng verwoben und ziemlich schwer unterscheidbar, zumal reale Räume nur in Fragmenten beschworen werden. Die Zug-Szene findet an der Rampe statt, die Grube liegt als Loch etwa dort, wo früher die Souffleusen saßen, für die Operation am offenen Herzen gibt's einen Tisch. Am schönsten aber sind im wirklich grandiosen Raum von Wilfried Minks die rechtwinklig gestellten Glasflächen, auf denen – wenn die Drehbühne sie kreisen lässt – digitale Welten flimmern im Null-Eins-Modus. Dahinter hat Minks das berühmte Bild vom Turm zu Babel gehängt, aber wie bei Baselitz verkehrt herum: als virtuelle Grube, als Erdkilometer aus Kunst-Phantasie. Toll.
Und gelegentlich kommt Sehnsucht auf nach dichterer Verzahnung von Bild und Text – anders gesagt: nach Minks als Regisseur. Denn im Kontrast zu dessen Bilderkraft wirkt das Neben-, Mit- und Durcheinander der unterschiedlichen Sprech-Ebenen absichtsvoll unübersichtlich, wie ausgeklügelt und kunstvoll auch immer es gestrickt sein mag; als habe der Autor als Regisseur seiner selbst vor lauter Begeisterung am eigenen Text wenig, viel zu wenig Mut und Energie aufgewandt für mehr Klarheit und Gewichtung, womöglich gar Deutung. Und da eigentlich kaum je jemand mit jemandem richtig spielt im ewigen Fluss wechselnder Stimmen, markiert im Grunde nur die Zähl- und Erzählzeit der magischen Köchin Fortgang und Tempo der Geschichte. Von "Handlung" zu sprechen, wäre – von der Ziegelstein-Operation mal abgesehen – stark übertrieben. Und nur zuweilen, aber auch keiner zwingenden Logik und Strategie folgend, stehen Schlagzeug-Attacken, singende Säge- und Radio-Sounds am Übergang zwischen dem Gruben-Drama und dem U-Bahn-Traum, der am Beginn steht und zu dem die Figuren immer wieder zurückkehren.
Es ist für niemanden leicht, Profil zu gewinnen in diesem Nicht-Spiel: nicht für Aljoscha Stadelmann als Grubenchef und nicht für Jan-Peter Kampwirth als Stellvertreter, für Katja Danowski als verlassenen Kapitän nicht, nicht für Lina Beckmann als Weinende und für Paul Herwig als toten, schwarz-schlammigen Wiedergänger und geschwätzigen Bombenleger. Nur Elizabeth Blonzen als magische Köchin (und Regenmacherin) Elena gewinnt etwas mehr Stärke, weil sie unsere Fremdenführerin ist. Die Welt, besser: die Welten, durch die sie uns führt, bleiben voller Rätsel und Schleier. Mehr Annäherung an den Kriegsschauplatz des kolonial-ausbeuterischen Kapitalismus der Gegenwart hat der Autor nicht gesucht.
SPAM – Fünfzig Tage
von Roland Schimmelpfennig
Uraufführung
Regie: Roland Schimmelpfennig, Bühne: Wilfried Minks, Kostüme: Lane Schäfer, Musik: Hannes Gwisdek, Dramaturgie: Michael Propfe, Licht: Susanne Ressin.
Mit: Lina Beckmann, Elizabeth Blonzen, Katja Danowski, Paul Herwig, Jan-Peter Kampwirth, Aljoscha Stadelmann.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
Armgard Seegers deutet im Hamburger Abendblatt (26.5.2014) die Gefühle, die sie an sich selbst während der Premiere wahrnahm: es sei "kein gutes Zeichen", wenn während der Vorstellung "die Gedanken allzu weit abschweifen. Die Auswüchse des globalen Wirtschafts- und Menschentransfers beschäftigten Schimmelpfennig in "SPAM". Kausale Verbindungen gäbe es nicht, nur assoziative, die erschlößen sich dem Publikum nicht. Die Figuren gewönnen keine Kontur oder Leichtigkeit, die Geschichte fessele nicht. Auch die eigentlich hervorragenden Schauspieler könnten nichts retten. Unglaublich schön sei dagegen Wilfried Minks' Bühnenbild. Die Inszenierung aber als ganze sei "misslungen".
Schimmelpfennigs "als magische Tiefenbohrübung in Sachen böse Kommunikation und böser Kapitalismus" angepriesenes Stück lese sich "schon auf Papier wie ein ungut müffelnder Kunstkrater, in den mutwillig allerlei Stollen, Windungen, Irrgänge und surreale Abzweigungen gerammt wurden", ätzt Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.5.2014). "Wie leer und tot und finster es um das Werk aber tatsächlich steht", das zeige „sich in der Unfähigkeit des Autors, als sein eigener Regisseur im eigenen Stück so etwas wie Substanz zu finden." Auf die Nennung der Schauspieler in diesem "zwangskritisch, zwangspoetisch und, ja, zwangskitschig" anmutenden Theaterabend verzichtet der Kritiker "aus Pietät".
In früheren Stücken habe Schimmelpfennig "beispielhaft einen Weg gefunden, von Gewalterfahrung und Schrecken zu erzählen, die man nicht selbst erlebt hat, ohne sie der Kunstgewerblichkeit preiszugeben", schreibt Simone Kaempf in der taz (27.5.2014). "Spam" sei dagegen "schwächer, es geht um viel zu vieles, die gute Absicht ist immer erkennbar, aber die Inszenierung wird dem Thema nicht gerecht." Was der Text an Andeutungen zur Gefahr der Technologie für die Gesellschaft setze, werde auf der Bühne "plan wegerzählt".
Schimmelpfennigs neues Werk bestehe "aus nichts anderem als Müll, und zwar Müll unterschiedlichster Art: Kommunikationsmüll, Beziehungsmüll, Facebook-Müll, Musikmüll, Politmüll", schreibt Oswald Demattia im Standard (27.5.2014) durchaus anerkennend: Es sei ein "ungeheuer kunstvoll, rhythmisch suggestiv komponierter passionsoratorischer Abgesang auf den Menschen als einem Wesen, das die Fähigkeit besitzt, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen und sich redend und verstehend die Welt anzueignen". Leider fehle dem Regisseur "der Mut, dem verstörenden Sound des eigenen Textes zu vertrauen und ihn als das zu inszenieren, was er eigentlich ist: eine Tragödie des Erzählens und Zuhörens."
Im "Allegorien-Stau" sieht Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (28.5.2014) den Stücktext versinken. "Schimmelpfennigs Neo-Hauff ist eine krude Mischung aus Joseph Conrads Afrika-Grauen und einer flotten Handysprech-Satire, aus Friedrich Dürrenmatts 'Der Tunnel' und dem Film 'Being John Malkovich', aus Voodoo und Splatter, überladen und wirr." Und in seiner Inszenierung gelinge dem Autor und Regisseur "mit seinem absurden Stückgerüst das Kunststück, sich mit immer neuen Einfällen ständig zu wiederholen."
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Aber es war nun mal sehr langweilig, weil undurchschaubar und geschwätzig.
Ein Starensemble allein macht noch kein gutes Theater.
Wurde an diesem Abend erneut unter Beweis gestellt!
In einem nachgeschobenen Kommentar etwas doof finden, was man in seiner Kritik zuvor noch fast mit Samthandschuhen angefasst hat, scheint mir dann aber auch etwas inkonsequent. Wie kommt der Wandel? Ein paar Buhs oder Berufsklatscher koennen das wohl kaum bewirkt haben. Zumindest hat das Hamburger Publikum heute bekommen, was es wollte. Auch wenn mir der hohe Ton der Schrader als Medea fast genauso unangenehm war, wie das redundante Gebrabbel von Schimmelpfennig.
Ja, der hohe Ton der Schrader!
Bin sehr erstaunt, dass der von der Theatergemeinde ohne weiteres akzeptiert wird und bedanke mich für die Bemerkung.
http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/urauffuehrung_schimmelpfennig_spamfuenfzigtage.php