Im Reich der Illusionen

von Kai Krösche

Wien, 1. Juni 2014. Wer mit ihm baden gehen könne, ohne nass zu werden, fragt im Verabschieden der Lehrer Semjon beim kläglichen Versuch, einen Witz zu machen. Der Witz misslingt, die Antwort auf die gestellte Frage jedoch – sein Schatten! – erzählt auf nonchalante Weise etwas über das Wesen der Kunst: Das illusorische, verzerrte Abbild einer Wirklichkeit (der Schatten) erscheint vielleicht echt, nass hingegen wird nur der wirkliche Körper.

So sind es auch die großen Illusionen, denen sich die Figuren Anton Tschechows in "Die Möwe" hingeben, die sie letztlich zerbrechen lassen und ins Unglück stürzen. Ob der vom jungen Autor Kostja heißersehnte künstlerische Erfolg, die Sehnsucht seiner Mutter Irina nach ewiger Jugend, Ninas Jungschauspielerinnen-Traum vom Spiel auf der großen Bühne oder die stets nach dem Unerreichbaren sehnenden Liebeshoffnungen aller: Bei Tschechow wird der Traum zur gefühlten, weil unerfüllten Wirklichkeit, die an die Stelle eines leeren, sinnlosen Nichts tritt.

Ahnungen und Gewissheiten

Bei Regisseur Jan Bosse wird wiederum das Theater, stellvertretend für die Kunst im Allgemeinen, zu einem Mittel, das uns diese Träume bringt und mit seinem utopischem Potential in unsere Köpfe pflanzt. Hier verschachteln sich die erzählerischen und räumlichen Ebenen bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander: Vor der Wand des Akademietheaters steht eine weitere Wand, auf die die Wand des Akademietheaters gemalt wurde. Vor diese Wand wird sich im Laufe der Zeit noch eine Wand schieben, die ein üppiges Trompe-l'œuil–Essensbuffet vor eben jener Wand zeigt und davor wird sich noch einmal eine Wand schieben, auf die die Wand, die vor der echten Wand steht, projiziert wird. Ist etwa all that we see or seem but a dream within a dream?

moewe1 560 reinhardwerner uWand-Projektionen in "Die Möwe" © Reinhard Werner

Daniel Sträßers Kostja jedenfalls wird seinem Traum bis zum verfrühten (Frei-)Tod nachhängen: Schon zu Beginn gibt er den von glühender Unrast getriebenen jungen Künstler, wenn er mithilfe des echten, rote Lichter schwenkenden Akademietheaterpublikums die Aufführung seines bedeutungstriefenden Theaterstücks, mit dem Scheinwerfer in der Hand, auf die Bühne bringt. Zum Leidwesen seiner überkritischen Mutter Irina, von Christiane von Poelnitz zwischen boshafter Ignoranz und gequälter mütterlicher Fürsorge schwankend interpretiert. Der schleichenden Ahnung, ihre beste Zeit als Schauspielerin schon lange hinter sich zu haben, wirkt sie durch ihre Beziehung zu dem erfolgreichen Schriftsteller Boris Trigorin entgegen, selbst dann noch, wenn sich dieser mit der großen Liebe ihres Sohnes, der jungen Schauspielerin Nina, aus Langeweile davonmacht.

Leiden am Nichts

Michael Maertens zeichnet diesen Schriftsteller als Leidenden von diabolischen Ausmaßen. Im einen Augenblick scheint er zynisch über den Dingen zu stehen, um im anderen Augenblick vor innerer Getriebenheit schwitzend und brüllend innerlich zu zerreißen. Wenn dieser Trigorin in einem egozentrischen Anfall ungeheuren Selbstmitleids den zerrissenen Künstler gibt, von dem Zwang zu schreiben jammert und dabei nicht nur mit Worten, sondern buchstäblich auf sein ihn bewunderndes Gegenüber einschlägt (und es zeitgleich verführt), entlarvt er die Absurdität hinter der Wahrhaftigkeit und Dringlichkeit künstlerischen Schaffens (und damit menschlichen Strebens).

moewe2 280 reinhradwerner uAenne Schwarz und Daniel Sträßer als
Nina und Konstantin
© Reinhard Werner
Hier schauen wir einem Menschen beim so erschütternden Leiden am Nichts zu, dass sich die Tragik ins Lächerliche, die Bestürzung ins Lachen verkehren muss (auch das lehrt uns dieser Abend: dass Grauen und Gelächter nur zwei Seiten ein- und derselben Medaille sind). Und auch die Nebenrolle der heimlich und unglücklich in Kostja verliebten Masha, von Mavie Hörbiger mit unumstößlicher Folgerichtigkeit und damit umso tieferer Tragik gezeichnet, macht den unerreichbaren Traum ihrer erfüllten Liebe zur Quasireligion, der sie sich, einem Martyrium gleich, selbstverloren, wütend, suchend und leidend hingibt.

Schuss ins Weiß

Immer wieder klingt wie von weit weg eine leise Klaviermelodie, deutet die Möglichkeit einer anderen Welt an, in der die Menschen einander auf Augenhöhe begegnen, bevor sie wieder ganz in sich selbst und ihren solipsistischen Traumwelten versinken. Doch zu einem Miteinander kommt es nicht. Gestorben wird alleine. Am Ende, wenn lautlos der Schuss fällt (es ist "nur" Theater und damit nur der Schatten eines Schusses!), mit dem sich Kostja, mittlerweile als Autor erfolgreich, aufgrund einer zweiten, unerfüllten Leidenschaft (der Schauspielerin Nina) das Leben nimmt, gleitet die Projektion, die zuvor noch das Ensemble an verschiedensten Plätzen in Wien vor der künstlichen Akademietheaterwand zeigte, in ein gleißendes Weiß.

Plötzlich: Leere, Nichts. "Art is what makes life more interesting than art", ruft uns das Programmheft in handgekritzelten Lettern entgegen – vielleicht, so die Ahnung, hört mit dem Ende der Illusion auch alles andere auf zu sein, sind die Illusionen das einzig Wahre inmitten der Lächerlichkeit des Daseins. Ist das tröstend? Oder ist das schrecklich?

Die Möwe
von Anton Tschechow, Deutsch von Andrea Clemen
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno P. Kraehahn, Video: Sophie Lux, Anna Bertsch, Licht: Felix Dreyer, Fotografie: Reinhard Werner, Dramaturgie: Gabriella Bußacker.
Mit: Christiane von Poelnitz, Daniel Sträßer, Ignaz Kirchner, Aenne Schwarz, Johann Adam Oest, Barbara Petritsch, Mavie Hörbiger, Michael Maertens, Martin Reinke, Peter Knaack.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Mehr zur MöweLeander Haußmann inszenierte Tschechows Stück im Februar 2014 am Thalia Theater Hamburg, Róbert Alföldi, Ex-Intendant des ungarischen Nationaltheaters, brachte es in Eggenfelden auf die Bühne, Viktor Bodó im September 2013 in Basel und Andreas Kriegenburg im Mai 2013 am Schauspiel Frankfurt.

 

Kritikenrundschau

"Ein derart fragiles Flugobjekt wie 'Die Möwe', von Tschechow als Komödie bezeichnet, kann auch in falsche Hände geraten", meint Ronald Pohl im Standard (2.6.2014). Es seien "Regie-Hände wie diejenigen Jan Bosses, die das Stück, das sie gekonnt zu kneten meinen, kaputt drücken. Bosse quetscht an der Möwe herum. Sie soll komisch wirken. Als vertraue er Tschechows geduldiger Diagnose nicht, lässt er hinter jeden Satz ein Ausrufezeichen setzen." Es schmerze, so Pohl, "dass man am Burgtheater offenbar die Kunst verlernt hat, die Stücke aufmerksam zu lesen."

Ganz anders hat die Inszenierung auf Barbara Petsch in der Presse (2.6.2014) gewirkt: Manches wirke zwar "allzu exaltiert, insgesamt aber ist dies ein großer Abend geworden", was "besonders erfreulich" sei, "weil sich dieses Stück, das bei der Premiere 1896 durchfiel, seit Jahren besonderer Beliebtheit bei Theatern erfreut – und oft exzellent gelingt" (sic!). Bosse lasse "eine Art Wiedergeburt des psychologischen Theaters feiern, illustriert aber das Stück mit Videos, die wie ein Roadmovie wirken oder auch mit einer traurigen Popballade". Alle Figuren würden "heutig" wirken "und nicht wie sonst oft bei Tschechow elegisch oder fade, jede Nuance ist durchdacht. In dieser Freak-Show der Künstler bildet sich deren, aber auch das allgemeine Gesellschaftsspiel der Pleiten, Pech und Pannen, so komisch wie tragisch ab."

Es werde "hier zu viel Theater gemacht", meint Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (2.6.2013). "Das liegt an Bosses Konzept, in dem nicht nur die Szene am Beginn, sondern auch der Rest des Stücks durch die Theater-Brille gezeigt wird. Die Figuren sind zugleich Theaterbesucher, die Auftritte erfolgen meist aus dem Zuschauerraum. Aber was am Anfang überzeugend ist, wirkt danach (…) aufgesetzt". Ohne Manierismen aber "hätte das ein großer Abend werden können; die überambitionierte Inszenierung hat nämlich etliche Attraktionen zu bieten", worauf Kralicek einige Schauspieler – allen voran Ignaz Kirchner als "schmerzhaft komischen" Sorin – lobend hervorhebt.

Laut Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (2.6.2014) spielen sie an diesem Abend "nicht Tschechows 'Möwe', sie spielen, dass sie 'Die Möwe' spielen. Sie stopfen ein Theater mit ihren Macken, Marotten und Kostümen aus. Aber man ist hier keineswegs im neuen, kommenden Kostja-Theater, sondern im uralten jungen Theater, dessen lustigster Hallodri-Vertreter der nun auch schon bald fünfzig Jahre alt werdende Regisseur Jan Bosse ist." Tschechows Figuren seien hier "plump ranschmeißerische Nähe-Kumpel, denen die Regie gönnerhaft auf die Schulter klopft, die gegenwärtige Kleider tragen, aber dann doch lächerlicherweise nach Pferden verlangen, die ihnen der Gutsverwalter nicht gibt. Wieso nehmen sie nicht den Dienstwagen des Regisseurs? Es ist alles so dumm anachronistisch, aber aufgekratzt gestrig falsch an diesem Abend."

Der Weg, den Bosses Inszenierung immer wieder nehme, führe "haarscharf an die Ränder der Illusion", meint Michael Laages auf der Website des Deutschlandfunks (2.6.2014). Jan Bosse liefere damit allemal Schauspieler-Futter, "eine große, prägende und deutende Idee allerdings nicht; vernünftigerweise. Und das ist ja auch generell nicht seine Art." In den Details allerdings gehe der Regisseur recht weit. Trotzdem müsse niemand über diese "Möwe" staunen. Andererseits aber führten "Ambitionen, die mehr wollen, als in Wien zu sehen war, fast immer in die Irre."

"Als Theater-auf-dem-Theater-Spaß, der vom Rang bis zum Parkett das gesamte Akademietheater bespielt, kommt der Abend zunächst prächtig in Gang", meint Karin Cerny in der Welt (2.6.2014). Die Schwächen von Bosses Konzept aber "offenbaren sich erst im Laufe der Zeit." Das zentrale Problem sei: "Im Grunde spielen alle ihre Rollen in Anführungszeichen. Sie stellen deren Schwächen demonstrativ zur Schau und blicken ironisch von außen auf ihre Figuren. Über fast drei Stunden ist das etwas monoton, verhindert es doch jede Entwicklung. All die tragischen Liebesgeschichten, die sich in dem Stück abspulen, verpuffen, kein Schicksal geht einem auch nur in Ansätzen nahe." Ein bisschen wirke der Abend gar "wie eine Inszenierung von Matthias Hartmann, der dem Publikum viel zu selten zutraute, auch ohne permanentes Pointenfeuer wach zu bleiben."

 

mehr nachtkritiken