Gretes Geschichte

von Lena Schneider 

Berlin, 30. Januar 2008. Da sitzt er, der Faust, der berühmte Zweifler, der zwei-Seelen-ach-Mann, der von der Weisheit müde Wissenschaftler. Und glotzt. Sitzt im taghellen Bühnenlicht an seinem kleinen Schreibtisch, glotzt ins Publikum, sieht nicht im mindesten grüblerisch dabei aus und ist – auch das unorthodox – nicht mal allein in seinem Nichtstun.

Im "Urfaust" am Maxim Gorki Theater hocken gleich zu Anfang zwei weitere Gestalten an Schreibtischen mit auf der Bühne und glotzen ebenfalls. In einer Mischung aus Labor, Büro und Planetarium (Bühne: Steffi Wurster), die vom ausgehöhlten Globus bis zur halben Hirnschale alles mögliche sein kann, sitzen sie zusammen und haben nichts zu sagen. Eine Daseinsgemeinschaft am Ende.

Ausgewogenes Kräfteverhältnis 

Dabei ist es der Anfang. Schon der zeigt, wie es um die Kräfteverhältnisse steht. In diesem "Faust" bildet nicht der einsame Grübler den Mittelpunkt. Es ist auch kein Stück über den Pakt zwischen Gut und Böse, davon war in dieser Fassung aus den 1780er Jahren noch keine Rede: Goethe schrieb den Großteil des religiösen Diskurses – Prolog im Himmel, Osterspaziergang – erst später dazu. Im knapperen, von Felicitas Brucker nochmals verknappten "Urfaust" geht es ganz unmetaphysisch um den Versuch, eine Liebesgeschichte zu erzählen, die den einen (Faust) ins Leben führt und die andere (Grete) das Leben kostet.

Mephisto (Michael Klammer) ist in dieser Konstellation nicht Bösewicht, sondern Verbündeter Fausts (Roland Kuchenbuch), der mit allen Mitteln – singend, tanzend, grimassierend – versucht, Faust aus seiner anfänglichen Lethargie zu holen. Schließlich schafft er's – von Stäbchen gepiekt, springt Faust endlich vom Schemel auf und mit einem "Au!" statt in Auberbachs Keller Gretchen vor die Füße.

Grete entblößt das Reimen als männliche Schaumschlägerei   

Eigentlich ist Gretchen (Hilke Alkefrohne) hier die Bewegliche. Aus der idealisierten Halb-Heiligen, die sich bei Goethe ziert, windet und keusch den Annäherungsversuchen Fausts entzieht, macht Felicitas Brucker eine atmende, sich nach Nähe und Unkeuschheit Verzehrende. Schon den Satz vom "schönen Fräulein" kann Roland Kuchenbuch kaum zu Ende sprechen, da küsst Grete ihrem Faust die Worte vom Mund. Überhaupt erträgt Grete die Verse, die Faust mechanisch und mit rührender Beharrlichkeit herunter betet mehr, als dass sie sie bewundert. Und entblößt so männliche Deklamierlust als belächelnswerte Schaumschlägerei.

Dass Faust dabei nicht zum einspurigen Macho degradiert wird, sondern einen in seiner wortreichen Liebe überzeugten und auch überzeugenden Liebenden gibt, ist eines von Bruckers Kunststücken: Sie spielt mit den Charakteren, beackert durch Brechung, Wiederholungen und Pausen den Text, ohne den Figuren ihre Integrität zu nehmen, ohne Goethe aus den Augen zu verlieren.

Lebendig, widerspenstig, das Bühnenbild zum Krachen bringend 

Ein spielerischer Ausflug ins Dokumentarische verpasst dem alten Stoff dabei einen direkten Bezug ins heute. Gretchens Nachbarin Marthe wird von zwölf herausgeputzten Damen jenseits der 65 gespielt, die sich auf Stichwort aus dem Parkett erheben, aus ihren Biographien plaudern, von katholischen Schulen, Fallschirmsprüngen und falschen Männern, und dem armen Mephisto als unisono-Stimme ganz schönes Muffensausen machen vor so viel geballter Weiblichkeit. Wie auch Kuchenbuchs Faust, der so ergeben, so trottelig verliebt ist in sein Gretchen, dass er nicht sieht, wozu sie am Ende fähig sein wird. Zur Entscheidung gegen ihn.

Hilke Alkefrohnes Gretchen, diese lebendige, widerspenstige, sehnsüchtige, nölende Figur, die sich frech in Fausts Geschenkkästchen (eine Kiste aus Styropor) hockt, die das Bühnenbild zum Krachen bringt, wenn sie sauer ist, die trotzdem – trotz sich – in Faust verliebt sein darf – sie ist die großartige Errungenschaft des Abends. Die Regie hat diese Grete in den Urfaust hineininszeniert, als hätte es dort immer einen gleichwertigen weiblichen Counterpart gegeben. Wenn Faust Gretes keusches Zimmer beschnüffelt, lacht sie ihm ins Gesicht, wenn er zuviel redet, fällt sie ihm ins Wort, noch bevor er dran denkt, sie zu küssen, hält sie ihm die Hand dazu hin.

Brucker füllt die Lücke in Goethes Erzählung 

Endlich darf, muss Faust nicht mehr monologisieren, knallt ihm Grete Fragen vor die Brust, ungefragt! Mehr noch, Brucker lässt Gretchen selbst erzählen, wovon Goethe schweigt. Mit dem Rücken zum Publikum berichtet sie vom Tod ihres Kindes, während Mephisto und Faust vorne auf der Bühne pratschen. Mitwisser, die nichts wissen wollen – ein aktuelles Thema, heute wie damals. Brucker füllt so nicht nur eine Lücke in Goethes Erzählung, sondern macht aus der Geschichte von Faust die von Margarete. Eine, die wir schon längst hören wollten.

Urfaust
von Johann Wolfgang Goethe
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Steffi Wurster, Kostüme: Sara Schwartz, Musik: Arvild Baud. Mit: Hilke Altefrohne, Robert Kuchenbuch, Michael Klammer, Cornelia Buchrucker, u.a.

www.gorki.de


Kritikenrundschau

Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (1.2.2008) beschreibt den Abend als einen etwas mühseligen, aber eben auch suchenden: "Nein, sie hat sich nicht überhoben. Sie hat das Unfertige der Faust-Version, von der sich eine Abschrift im Nachlass eines Goethe-Groupies fand, als Textbruch und Experimentierfeld genutzt. Sie versucht gar nicht erst, die Lücken mit Handlung aufzufüllen, im Gegenteil, sie findet noch genug zum Weglassen (...)." Den Chor von einem Dutzend älterer Damen, die von gelebtem Leben erzählen, hält er für einen gelungenen Einfall: "Allein mit ihrer Anwesenheit ist bewiesen, dass mit Kompromissen zu meistern wäre, woran die zunehmend von ihrem Gegenstand gefangenen Forscher verzweifeln: das Leben." Hilfe Altefrohne als Gretchen sei "eine rücksichtslose Liebe-Sucherin und mutige Liebe-Verschenkerin". Insgesamt spiele Brucker mit Goethe, aber respektvoll: "Sie stellt Heinrich Faust gern auch mal auf den Kopf, aber sie rammt ihn nicht gleich in den Humus der eigenen Gedankenwelt und Ästhetik, wie zum Beispiel Michael Thalheimer im Deutschen Theater."

Kommentare  
Bruckers Urfaust: alles falsch, auch die Kritik
Waren wir tatsächich im selben Stück, liebe Lena Schneider?! Bist du mit der Regie verwandt, ist sie deine Schwester und fühlst du dich daher verpflichtet eine derart, die Tatsachen auf den Kopf stellende Kritik zu schreiben?
Du beschreibst quasi ausschliesslich das was eigentlich im Stück steht, was dort verhandelt wird, du schreibst so gut wie nichts über die Inszenierung von der Brucker und dem was gestern Abend im Maxim Gorki zu sehen war. Der Abend war dermaßen gräßlich, unerträglich belanglos, beliebig und geprägt von eben einer Nicht Regie, dass ich es kaum aushalten konnte. Der Abend ließ alles vermissen was man am Regie Institut schon bereits bei der Bibliothekseinführung lernt: Rythmus, Energie, Spannung, dem Abend eine Melodie verleihen, ganz zu schweigen vom Arbeiten mit dem Schauspieler oder dem Transportieren irgendwelcher Inhalte. Gestern sah ich nur verlorene und darüber hundeunglückliche Kreaturen, die belanglos zum zehnten Mal die Bühne aufräumten, sich lächerlich sinnentleert umzogen und zumeist völlig haltungsfrei Texte aufsagen sollten. Man konnte ahnen, sie hätten es alleine wohl besser gemacht. Offensichtlich, wieder mal ein Armin Petras Nachmach Abend, aber einer von den ganz erbärmlichen. So funktioniert das nicht; wie auch beim Schauspiel, so ist auch bei der Regie die Imitation von jemandem der seine Sprache für sich gefunden hat, das Ende.
Das nächste Mal solltest du auch ins Theater reingehen, also in den Raum wo gespielt wird, der mit der Bühne am einen Ende, nicht etwa in die Kantine oder im schicken Foyer die schicken Plakate mit der noch viel schickeren fritzi angucken....
Bruckers Urfaust: Lena Schneider antwortet Mitko
Mag sein, dass die „Melodie“ des Abends – jawohl, auch die gab es! – an Petras-Stücke erinnerte, aber ganz und gar nicht auf belanglose Nachmach-Art, sondern mit eigener Handschrift und einem eigenen, durchaus fühlbaren „Anliegen“ – auch das gab es nämlich. Wer in diesem Urfaust nur An-und Auszieherei und Bühnenumgeräume sieht, hat das freilich verpasst – schade drum. Den Faust als in seiner Lächerlichkeit berührenden Liebenden am Abgrund zu zeigen, der sich mit letzter, bewundernswerter Hingabe an seinem Text, dem Goethe-Fragment, festkrallt und salopp gesagt seiner Grete nicht das Wasser reichen kann; überhaupt, die Idee, den Grete und Marthe-Komplex in die Erzählung hineinzurücken und so die Struktur des alten Textes zu hinterfragen ohne sich völlig drüber zu stellen ist das in seiner Überdeutlichkeit schon fast wieder kritisierbare Anliegen, das diese Produktion von andern unterscheidet. Oder eines der Anliegen. Denn der das Ganze ist wie gutes Theater eben mehrfach deutbar. Vorrausgesetzt, man will denn deuten und nich nur maulen.

Wenn ich das nicht für reichlich blöd halten würde, würde ich sagen: Beim nächsten Mal, lieber Mitko, bleib nicht so naseweis an den Requisiten auf der Bühne hängen, oder an dem „Raum“ wo gespielt wird, sondern lass dich auf den Vorschlag ein, den die Regie zu einem Text zu machen hat. Mit wunderbaren Schauspielern übrigens, „hundeunglücklich“, ja, aber nicht über die Inszenierung, sondern über Sinnentleerung und Ausweglosigkeit, um die es im Stück ja immerhin geht.
Bruckers Urfaust: Gretes Kraft schafft Probleme
Womit die Nachtkritik Recht hat: Der Abend ist mit Grete überschrieben, nicht mit Faust. Hilke Altefrohne spielt die große Rolle, die Starke, Fordernde, Zupackende, so dass man zum Glück nicht eines dieser seltsam hörigen Geschöpfe mitansehen muss, die auf heutigen Bühnen oft so anachronistisch wie unerträglich daherkommen. Groß auch die Szene der Selbstmord-Selbstermächtigung am Ende. Vor dieser Frau schrumpft Faust zum Fäustchen, übrigens entgegen ihrer wiederholten Beteuerungen ein nicht allzu wackerer Mann und einen guten Viertelkopf kleiner als sie, was man durchaus im übertragenen Sinne verstehen darf. So weit so gut so grete.
Allerdings fragt man sich bei einem so groß gewordenen Gretchen, wozu Faust da noch Mephisto braucht (und was für ein Typ soll das in dieser Inszenierung eigentlich sein? Halt ein Kommilitonenkumpel?), da frau doch hier alles in die Hand nimmt und auch vom teuflischen Styropor-Schmuckkästchen gänzlich unbeeindruckt bleibt. Und was treibt diese Grete um Himmels Willen zum Kindsmord? Die 'Gesellschaft', etwa in Form der netten, älteren Marthe-Damen jedenfalls nicht, die überdies ziemlich zusammenhanglos (als bloßer Sympathie- oder Authentizitätsfaktor?) hineingeschnipselt wirken und dann in den Hintergrund abgeschoben werden. Und Michael Klammer im rosa Nachthemd kann in der Bärbelchen-Szene auch nicht sonderlich bedrohlich werden. Wieso also die Tragödie? Diese Grete gäbe doch auch als alleinerziehende Mutter eine prächtige Figur ab, oder?
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