Schlampige Zeiten

von Christian Rakow

Berlin, 5. Juni 2014. Zum zweiten Mal binnen Monatsfrist eröffnet ein Berliner Festival mit der Tscheka, der bolschewistischen Geheimpolizei: Anfang Mai das Theatertreffen mit den Revolutionsagonien des Zement von Heiner Müller, jetzt die Autorentheatertage am Deutschen Theater mit dem Diptychon "Tag der weißen Blume" des (nur im Ausland gespielten) Russen Farid Nagim, das in zwei Erzählsträngen die Sowjet-Ära nach 1917 mit dem Postkommunismus der Jahrtausendwende parallelisiert. Eine Koinzidenz der Festivalpläne, womöglich eine sprechende.

"Der Verdünnungsgrad der Dramatik erhöht sich"

Denn die Konfrontation mit historischen Konstellationen ermöglicht Dramatikern aus jenen Dilemmata auszubrechen, die der Alleinjuror der diesjährigen Autorentheatertage Till Briegleb in seinem luziden Eröffnungsvortrag benannte. Von den harten Produktionsbedingungen heutiger StückautorInnen war da die Rede, für ein Theater, das, wie die übrige ökonomische Wirklichkeit, auf beschleunigtes Wachstum und Neuheit statt Wert setze. Mit verheerenden Konsequenzen: Eine saturierte, wohlstandsgesellschaftlich blasse Gegenwartsdramatik, die stereotype Formen produziere und ihren tiefgreifenden Erfahrungsmangel mit grellen Versatzstücken aus fremden Medien kompensiere.

"Der Verdünnungsgrad der Dramatik erhöht sich", diagnostizierte Briegleb. Um dem entgegenzuwirken, brauche es Strenge in der Qualitätskontrolle, weniger Lob gegenüber Neulingen, verstärktes Ringen um Kontinuität. Mit seinem Motto für die Autorentheatertage "Innehalten", habe er entschleunigen wollen. Fünf für ihn persönlich herausragende Stücke aus den Autorentheatertagen der letzten Dekaden lud er zur Wiederbesichtigung ein. "Seien Sie streng, bitte", warf uns Briegleb zu. Wohlan.

Schreckliche Welt

Farid Nagims "Tag der weißen Blume" (uraufgeführt 2003 in Konstanz), das erste der fünf Comebacks, ist die Beschreibung einer russischen Stagnation, die diesen Zustand leider schonungslos an den Zuschauer weiterreicht. In regelmäßigen Wechseln sieht man eine Wetterstation auf der Krim nach der Revolution 1917, auf der eine Intellektuelle ihren weißgardistischen Bruder vor den Geheimpolizisten der Tscheka versteckt, und eine Moskauer Wohnung in der Gegenwart. Hier, in Moskau, versucht sich ein (erfolgloser) Romanautor mit seiner Schwester, die jüngst vom Lande zugereist ist, leidlich durchzuschlagen, während regelmäßig eine Mitmieterin Stunk macht und die Staatsgewalt an die Tür klopft. Der Polizist der Nachwendeära ist als Wiedergänger des bolschewistischen Geheimdienstoffiziers angelegt (und wird vom selben Schauspieler verkörpert).

tag der w blume 560.arnodeclair h "Where is my mind?" Am Schlagzeug: Felix Goeser, an der Gitarre: Benjamin Lillie.
Gesang: Heike Makatsch und Kathleen Morgeneyer  © Arno Declair

"Es ist schrecklich, die Welt mit offenen Augen zu sehen", sagt Rarik, der Romanautor in der Gegenwart, einmal. Nur leider erfährt man über seine Welt kaum mehr, als eine durchschnittliche Zeitungsnotiz preisgibt: Prostitution und McDonald's halten Einzug auf den Straßen von Moskau, und draußen auf dem Lande gehen die Bauern, die sich von der Genossenschaft losgesagt haben, an Kapitalmangel vor die Hunde (respektive in die Alkoholabhängigkeit). Ergo ist es eigentlich so, dass die Augen kaum geöffnet sind. Die Figuren leiden an einem Morbus Kitahara, der irgendwo mit Lenin einsetzte und mit Putin andauert. Weil in dem klaustrophobischen Setting gehaltvolle Erzählungen praktisch ausfallen und alles auf situative Reaktionen abgestellt ist, ergehen sich die Geschwisterpaare und die Nebenfiguren gestern wie heute in derber Expressivität: du Schlampe, du Sau, du Hure etc. Das ist hier so die Tonlage, auf der die Seelen tönen. Was sehnt man sich nach der elementaren, raumschaffenden Metaphorik eines Heiner Müller in "Zement", nach seinen unbarmherzigen Verdichtungen: "Ein toter Mann kann einer toten Frau das Sterben nicht verbieten unter Bürgern."

Bei Nagim gibt's Utopien auf Konfektionsgröße, wenn sich die Bürgerlichen in ihrer Enklave in reaktionären Anflügen des titelgebenden "Tages der weißen Blume", eines zaristischen Feiertags, besinnen. Sicher, diese fragwürdige Politromantik ist Figurendisposition. Aber dass der Autor Nagim dieser rückwärtsgewandten Verzagtheit seiner Figuren irgendetwas entgegenzusetzen hätte, lässt sich nicht sagen.

Emotion mit Rock-Songs

Stephan Kimmig hat für seine eineinhalbstündige Aufführung die in sich kreisenden einhundert Seiten kräftig eingedampft, leider stark auf die (fürs Publikum wohl als anschlussfähiger erachteten) Gegenwartsszenen abgestellt und ansonsten auf nominelle Brillanz und Prominenz gesetzt: Heike Makatsch (die zuletzt bei Sebastian Hartmann am Centraltheater Leipzig die Bühne für sich entdeckte) debütiert am DT mit charmanter Zurückhaltung in den Nebenrollen. Benjamin Lillie und Kathleen Morgeneyer stemmen die Geschwisterpaare und Felix Goeser die Polizeiauftritte. Es heißt, drei Wochen Probenzeit standen zur Verfügung. Sieht man.

Das Ensemble stellt in einem engen grauen Beton-Kabuff routiniert einfühlungsästhetisch die Konstellationen vor und rettet sich in Songs, wenn Emotionalität eingeholt werden soll. Where is my mind von den Pixies, singt Benjamin Lillie an der E-Gitarre (im Übrigen ganz wundervoll, dem Mann sollte man gleich mal einen Konzertabend reservieren). Wo ist mein Geist, mein Bewusstsein? Abhandengekommen, so wie die Welt, an der es sich hätte bilden können. Kurzum: Wird das eine veritable Wiederentdeckung, gar ein Repertoirerenner? Streng prognostiziert: Nein.

 

Tag der weißen Blume
von Farid Nagim
Übersetzung: Yvonne Griesel
Regie: Stephan Kimmig, Ausstattung: Merle Vierck, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Felix Goeser, Benjamin Lillie, Heike Makatsch, Kathleen Morgeneyer.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Was Farid Nagim im "Tag der weißen Blume" versuche – "eine Art Geschichtspanorama, das das Moskau der Jahrtausendwende in den historischen Ereignissen der Oktoberrevolution spiegelt und umgekehrt" – habe "tatsächlich Ausnahmecharakter in der tendenziell eher kleinteiligen zeitgenössischen Dramatik", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (7.6.2014). Und Stephan Kimmig trete mit seiner Inszenierung den Beweis an, "dass nicht nur Shakespeare oder Ibsen, sondern auch Gegenwartsdramatiker gutes Schauspielerfutter bieten." Insbesondere Kathleen Morgeneyer und Benjamin Lillie machten "aus dem Historienabend tatsächlich eine differenzierte Studie über Menschen in unterschiedlichen Anpassungszusammenhängen."

"Lenin, die Pixies, MacDonald's: überall dieselbe freiheitsverschlingende Logik. Ist das nicht ein bisschen grob gedacht?", fragt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (7.6.2014). "Es käme auf die Unterschiede an, um das Damals und das Heute begreifen zu können." Ob sich die Wiederentdeckung von Farid Naigms Text lohne, lässt sich für den Kritiker nach diesem "schnellschusseligen, schnappatmigen Abend" nicht sagen. Das Stück wurde "versenkt noch eh man es geborgen hatte".

Stephan Kimmig habe zum Auftakt der Autorentheatertage mit der Premiere "Tag der weißen Blume" beglückt, meint Stefan Grund in der Welt (7.6.2014). "Heike Makatsch und Kathleen Morgeneyer, Benjamin Lillie und Felix Goeser sprangen furios nahtlos zwischen mehreren Rollen und einem knappen Jahrhundert hin und her." Nagim ziehe "Parallelen zwischen den Revolutionswirren 1917 und dem Neu-Turbokapitalismus im Russland des frühen 21. Jahrhunderts", wobei Kimmig auch "dem lyrischen Grundton der Texte (…) in Sehnsuchtmomenten Raum" lasse.

Stephan Kimmig verabreiche "keine Geschichtsstunde. Er spielt eine rasche Skizze", sagt Peter Hans Göpfert auf dem Kulturradio des RBB (6.6.2014). "Bei Nagim geistern tatsächlich Buster Keaton mit weißen Blumen und ein mit federbesetzten Flügeln flatternder Rudolf Nurejew durch die Szenen. Kimmig verzichtet auf solchen platten Surrealismus." Er schaffe "sich seine eigene Surrealität, spielerisch und musikalisch." Zwei "ganz außerordentliche Schauspieler" machten "die Sache sehenswert". Kathleen Morgeneyer und der jungenhafte Benjamin Lillie seien "das körpersprachliche Kraftzentrum der Aufführung, pures gespieltes Lebensgefühl, traurig und komisch."

 

Kommentare  
Tag der weißen Blume, Berlin: Pfff.
laangweilig. augenkrankheiten, pff.
Tag der weißen Blume, Berlin: Realismus ohne Mehrwert
Khuons und Brieglebs Vorträge waren tatsächlich sehr gut und die unterschiedlichen Ansätze, mit denen die Berliner Institutionen versuchen, die Gegenwartsdramatik nach vorne zu bringen, sind aller Ehren wert. Fatal jedoch, wie viel von dem, was Briegleb kritisierte, sich gleich anschließend in dem von ihm ausgesuchten Stück und der Inszenierung von Stephan Kimmig wiederfand: Realismus ohne Mehrwert auf der Bühne(und irgendwann eine Waffe...), anscheinend zu kurze Probenzeit, Emotionen nur über Songs (ich stimme Herrn Rakow zu: Herr Lillie sollte viel als Sänger ran, da würde auch sein Tick, sich mit der Hand durch die schicke Frisur zu streichen, sicher gut passen) bzw. gestemmt von Frau Morgeneyer, unnötige Besetzung von Frau Makatsch für diese eigenartige Rolle(als Marketingmaßnahme?), eine eher läppische Regie, ein zerfleddertes Stück, das altbacken und überholt wirkte. Ein Stück, bei dem man sich - mit Briegleb - fragen muss, wie groß das wirkliche Interesse an ihm war, oder ob man es hauptsächlich interessant fand, weil die Krim darin vorkommt. Man solle vorsichtig und streng sein, bei der Auswahl und bei der Umsetzung der Stücke, um den Autoren gerecht zu werden und keine falschen Erwartungshaltungen in ihnen wecke. Mit der gestrigen Aufführung war aus meiner subjektiven Sicht leider weder dem Autor, noch dem Produktionsteam, noch dem Theater gedient. Ob Briegleb das wohl insgeheim auch so empfunden hat? Sympathisch, dass er in der Rede zumindest feststellte, dass er selbst zu dem von ihm ausgesuchten Motto "Innehalten" wenig geeignet sei.
Tag der weißen Blume, Berlin: gleichgeschaltet
Hauptsache, der russische Autor wettert gegen Putin und Konsorten, das hat er im Tagesspiegel auch weidlich tun dürfen und das gleichgeschaltete (ich weiss, was ich schreibe) Theaterunwesen dieses Landes ehrt ihn mit einer Aufführung. Das ist ein Teil der unsäglichen Kulturpolitik der ach so unabhängigen Kunstinstitutionen dieses Landes.
Tag der weißen Blume, Berlin: Misere der Theater
Der Befund, dass sich die Dramatik heutzutage verdünne, ist so originell nicht - das plappert heute schon jeder Kritiker nach. Und zudem steht die Frage im Raum, ob es denn überhaupt so stimmt. "Vielfalt, Dichte und Originalität" kann man durchaus finden: Palmetshofer, Wolfram Lotz, Katja Brunner und viele andere können dafür einstehen. Wenn es eine Misere gibt, dann liegt sie eher bei den Theatern, die die Uraufführung im Programm als schmückendes Beiwerk sehen, als Programmierungspflicht, die die Feuilletons ans Haus lockt. Es gibt eine Aversion, zeitgenössische Dramatik groß zu denken. Früher hat ein Peter Stein Botho Strauß uraufgeführt, ein Schleef Hochhuth. Heute kommen die neuen Stücke auf die Werkstattbühne, man spielt sie halt, weil der Betrieb es so will. Auch Kimmig, der immerhin ein großer Name ist, und das DT machen bei dieser Verkleinerung der Dramatik mit: drei Wochen Probezeit, schön den Text eindampfen - wie soll da ein Stück zum Ereignis werden? "Seien Sie streng!" würde ich so übersetzen: Ihr Theater, sucht euch Stücke, an die ihr glaubt. Und die gebt ihr dann nicht einem Assistenten, versteckt sie nicht auf der Seitenbühne, sondern spielt sie mit allem, was ihr zur Verfügung habt. Mit Herzblut, Fantasie und Anmaßung!
Tag der weißen Blume, Berlin: Dernièren-Bericht
Zur Dernière am 2. Juni 2015:

Diesen Service gibt es nur selten. Die vier Schauspielerinnen und Schauspieler begrüßen das Publikum am Eingang zu den Kammerspielen des Deutschen Theaters, wünschen eine schöne Vorstellung und weisen den Weg zu den Tribünen-Plätzen auf der Hinterbühne.

So freundlich bleibt der Grundton des Abends aber nicht. Farid Nagim zeichnet in “Tag der weißen Blume” ein düsteres Bild seiner russischen Heimat: zwei Geschwisterpaare (jeweils von Kathleen Morgeneyer und Benjamin Lillie gespielt) werden von der Willkür der Staatsmacht bedroht, die der glatzköpfig, bullig wirkende Polizist Omon (Felix Goeser) verkörpert. Trotz der politischen Umstürze hat sich nichts geändert: die Lage in Russland ist hoffnungslos, so die bittere These des Autors Farid Nagim. Das Individuum lebt in ständiger Unsicherheit und Angst. Die Handlung springt ständig zwischen zwei beiden Zeitebenen hin und her: 1918 unmittelbar nach der Oktoberrevolution und 2001, ein Jahrzehnt nach dem Untergang der Sowjetunion, als nach zehn Jahren Turbokapitalismus Wladimir Putin die Zügel wieder anzog.

Wie schon in einigen Rezensionen nach der Premiere angemerkt wurde, ist die Textvorlage ziemlich dünn. Die Grundthese ist plakativ, in eine tiefere Analyse steigt der Abend nicht ein. Für die Entscheidung, dieses Stück, das 2003 in Konstanz uraufgeführt wurde, zur Eröffnung der Autorentheatertage 2014 auszugraben, mag auch eine Rolle gespielt haben, dass neben Moskau die Krim als Ort der Handlung klar benannt wurde und vor Probenbeginn die weltweiten Schlagzeilen (Annexion, Referendum) beherrschte. Aber auch diese Fährte wird an dem Abend nicht weiter verfolgt.

Aber immerhin bietet Stephan Kimmigs Inszenierung den vier Akteuren die Chance, ihre Spielfreude auszuleben und mit überraschenden Fähigkeiten zu punkten: Kathleen Morgeneyer überzeugt als naives Mädchen vom Lande, das prompt auf die Hütchenspieler reinfällt. Ihr Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg und Glück endet in einem Kleid, das aus McDonald´s-Logos zusammengebastelt wurde, in der Sackgasse. Von diesem Abend werden außerdem die Auftritte von Benjamin Lillie als Rockgitarrist und Sänger in Erinnerung bleiben. Mit Elvis Presley-Parodie, Hiphop-Einlagen und dem Klassiker “Where is my mind?” setzt er der düsteren Botschaft des Textes eine angenehme Leichtigkeit entgegen, die sehr gut zur sommerlichen Stimmung dieses Dernièren-Abends passt.

Eine weitere Überraschung war, wie zurückgenommen Heike Makatsch, der prominenteste Name im Quartett und zum ersten Mal als Gast am DT, in ihren Nebenrollen agierte. Ein weiter Weg, den sie seit ihren Auftritten in den 90ern als überdrehtes Viva-Girlie und in den einschlägig bekannten Kino-Komödien zurückgelegt hat…

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25165-tag-der-weissen-blume-in-russland-konstatiert-die-lage-in-russland-ist-hoffnungslos.html
Kommentar schreiben