Der Tod als Lebenselixier

von Steffen Becker

Tübingen, 6. Juni 2014. Eigentlich ist doch der Tod das wahre Leben. Zumindest für das Umfeld der Toten. Die Emotionen kochen hoch, ungelöste Konflikte treten hervor, offene Rechnungen kommen zur Sprache. Thomas Melle macht sich das für sein Stück "Nicht nichts" zunutze und lässt in dem Auftragswerk für das Landestheater Tübingen eine bekannte Dramatikerin ins Gras beißen. Eine Zwischenruferin war sie im Angesicht von Missständen, eine mutige Kämpferin an der Schnittstelle von Kunst und Gesellschaft – was man halt so an Phrasen von sich gibt. Die oft ja nur geheuchelt sind. In Wahrheit würden Weggefährten es gerne so machen, wie es Regisseurin Maria Viktoria Linke vorführen lässt: Hose runter und aufs Grab urinieren – während man den Dank spricht für die enorme Inspiration, die die Verstorbene für einen war.

Mit Katalysator-Wirkung

Hier ist er kurz mal fast ganz zugeschüttet – dieser Graben zwischen Innenleben und Außenwelt, der den roten Faden liefert für das Stück von Melle. Er durchzieht den suizidgefährdeten Sohn, die vergeblich um authentische Trauer ringende Tochter, die erkrankte Kulturjournalistin und ihren prolligen Blockbuster-Produzenten-Freund. Lediglich die namenlose (aufs Grab pissende) "grauhäutige Autorin" (Susanne Bredenhöft) scheint äußerlich ganz bei sich zu sein.

Liegt aber auch nur daran, dass Regisseurin Linke sie in ein denkbares Outfit hat stecken lassen (Grufti mit wirrem Haar). Die anderen Figuren tragen Kostüme, die ihr Rollenbild karikieren – Conchita Wurst-Kleid für den Filmfritzen (Benjamin Janssen), der nach dem Respekt der Hochkulturszene lechzt, aber als Trash verachtet wird. Eine Marie-Antoinette-Perücke für den überkandidelten Pfarrer (David Liske), der Religion nur als Vehikel für die verpasste Medienkarriere betreibt. Für sie alle ist der Tod ein Katalysator.

Leichenschmaus

Melles Figuren werden plötzlich konfrontiert mit der Erosion ihrer Rollen. Nicht umsonst rutschen sie in Tübingen auf einer Bühne umher, die sich wie die erd-bestreute Hälfte einer Sargwanne ausnimmt, drapiert mit Blumen, die zur Selbstkasteiung verwendet werden können wie zur sexuellen Befriedigung. Der Sohn verliert mit der Mutter sein Opfer-Abo und die Berechtigung zum Selbstmitleid. Die Journalistin muss eine Chorea-Huntington-Diagnose verkraften, die ihr auf kurz oder lang die Perspektive raubt, den Verlauf von Promibeerdigungen mittels Name-Dropping aus der Theatergeschichte zu analysieren.

nichtnichts 560 patrickpfeiffer uUnter der Erde, aber nicht aus der Welt: "Nicht nichts" © Patrick Pfeiffer

Die Spaltung zwischen Selbstdarstellung und Eigenwahrnehmung inszeniert Linke überdeutlich als Ausgrenzungsoverkill. Es gehört zum Prinzip des Stücks, dass die Schauspieler neben ihrer eigentlichen Rolle auch andere Funktionen übernehmen. Während die anderen Darsteller sich etwa drohend Krankenhaus-Handschuhe auf die Haut fatzen lassen, wälzt sich Jessica Higgins als betroffene Huntington-Erkrankte verzweifelt-veitstanzend im Staub. Mit Verve, aber ohne emotionalen Eindruck zu hinterlassen.

Kommentar auf den Kulturbetrieb

Die Ruhe und die Zwischentöne, die nötig wären, um als Zuschauer zu erfassen, was es bedeutet, langsam und bei vollem Bewusstsein zu verschwinden, vertragen sich nicht mit der teils schrillen Inszenierung. Und schon im Text bleiben die Figuren eher eindimensional und unbestimmt – gerade, weil Melle sie nicht nur beim Leichenschmaus zeigt, sondern auch in lediglich Blitzlicht-artig eingestreuten Vor- und Rückblenden.

Hervorragend funktionieren Stück und Inszenierung jedoch als bissiger Kommentar auf den Kulturbetrieb – mit der "grauhäutigen Autorin" im Zentrum. Für diese ist der Tod ihrer früheren Konkurrentin ein Lebenselixier. Mit knorrigem Charme und lakonischem Witz verkörpert Susanne Bredehöft eine Figur, die oszilliert zwischen Verachtung für den Betrieb, der sie nicht mehr beachtet, und der Gier, doch noch eine Rolle zu spielen – oder zumindest interviewt zu werden, um der Verachtung Ausdruck zu verschaffen. Ins Abseits geschossen hatte sie sich durch ein Stück über einen netten Politiker ohne Fehl und Tadel, der eine Gartenparty gibt. Vorhang. Aus. Keine Tücken, keine Konflikt, "ein gelungenes Leben".

Tübingens Geist

Das wäre in etwa so, als würde man in Tübingen – dem selbst ernannten Hort des großen Geistes – laut kundtun, dass in der Gesellschaft alles in bester Ordnung ist. Man merkt, dass der Autor hier einst studiert hat (Philosophie). Sein Fazit: "Die Stadt hat etwas Engstirniges, und hinter diesen engen Stirnen schwang sich der Geist in absolute Höhen auf." Das Publikum fühlt sich jedenfalls gut getroffen. Es gibt viel "Ja, genau so ist es"-Lachen – und ganz besonders tief-geistige Gespräche auf der Premierenfeier.

Nicht nichts
von Thomas Melle
Regie: Maria Viktoria Linke, Dramaturgie: Armin Breidenbach, Ausstattung: Julia Plickat, Musik: Ulf Steinhauer.
Mit: Susanne Bredehöft, Patrick Schnicke, Christian Dräger, Britta Hübel, Benjamin Janssen, Jessica Higgins, David Liske.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.landestheater-tuebingen.de

 

Kritikenrundschau

Ein "wunderbares Boulevardtalent" bescheinigt Peter Ertle dem Dramatiker Thomas Melle im Schwäbischen Tageblatt (10.6.2014). Die Regisseurin habe aus de Text über lauter Kulturgrufties eine tragikomische Farce gemacht, die aus seiner Sicht "in ihren besten Momenten Marthalersche Komik und Breughelsche Szenarien baut".

Von einem Kuriosenkabinett voller schräger Figuren spricht Veit Müller im Reutlinger Anzeiger (10.6.2014) und resümiert: "Nicht nichts, aber auch nicht gerade viel." Da werde geschrieen und gezappelt, Bühnennebel ziehe auf, Blumen flögen durch die Gegend, "und wie so oft, sind dann aber wieder gerade die ruhien Momente der Inszenierung sehr anrührend, wenn die Figuren ihr krankes Herz öffnen."

 

Kommentar schreiben