Blicke über den Abgrund

von Sascha Westphal

Köln, 7. Juni 2014. Da sitzen sie nun in ihren halben weißen Kästen, die vielleicht einmal ein Raum, eine Bühne waren und es vielleicht auch wieder werden könnten. Aber erst einmal trennt sie ein Graben, in dessen Mitte vorne eine Straßenlaterne steht. Das ist die Lücke, der Riss, der durch dieses von Bühnenbildnerin Anne Ehrlich geschaffene Welt-Bild geht. Auf der einen, der linken Seite sitzen die Schauspieler, Simon Kirsch, Thomas Müller und Annika Schilling, auf der anderen die Laien aus der Keupstraße, Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven. Blicke werden ausgetauscht.

In diesem ersten, noch stummen Arrangement, das Nuran David Calis knapp zwei Stunden später noch einmal aufgreifen wird, die Lücke ist immer noch da, steckt ungeheuer viel: ein Bild unserer Gesellschaft in der Bundesrepublik und auch eines unseres Theaters, zahllose Fragen und auch ein paar angedeutete Antworten, viel Trauer und doch auch etwas Hoffnung. Vor allem aber wirft es den Betrachter auf sich selbst zurück.

Führung durch die Keupstraße

Schließlich hat man sich kurz zuvor noch von einem der gut zwanzig Guides, die Calis und sein Team für diese Produktion gewonnen haben, durch die Keupstraße führen lassen. Ein Erkundungsspaziergang durch diese Straße, die auf der Netzseite der IG Keupstraße (keupstraße-koeln.de) als "eine orientalisch geprägte Shopping- und Gastro-Meile" beschrieben wird und in die eine von den NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos deponierte Nagelbombe am Nachmittag des 9. Juni 2004 in mehrer Hinsicht eine Lücke gerissen hat.

Für eine dreiviertel Stunde hat man diese zweifellos sehr eigene Welt durch die Augen seines Guides erleben können, hat Geschichten gehört und einen kleinen Einblick erhalten. Aber zugleich war da immer auch das Andere, das Fremde, die Irritation, die etwa die aus dem weiteren und auch ferneren Umland kommenden Luxuskarossen auslösen, die bis spät in die Nacht durch die enge Straße fahren und ihre Bürgersteige säumen. Nähe und Ferne, fragende und offene Blicke. All das hat man also gerade erst selbst erlebt und womöglich gleich wieder überspielt. Doch das lässt Nuran David Calis nicht zu.

Oberflächliche Toleranz

Von Anfang an stößt Calis die drei Schauspieler und somit das Publikum, dessen Vertreter sie offenkundig sind, in die Lücke, den Graben, der durch die bei offiziellen Anlässen gerne als multikulturell präsentierten Gesellschaft geht. Das beginnt schon damit, dass die sich an ihrem Interesse gerne berauschende Annika Schilling den Vornamen von Ayfer Sentürk Demir, die bei dem Anschlag vor zehn Jahren verletzt wurde, gleich mehrmals falsch ausspricht.

2829 dielueckeins 560 david baltzer uAuf der Bühne v.l.n.r.: Ismen Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven;
im Video: Thomas Müller, Annika Schilling und Simon Kirsch in "Die Lücke"
© David Baltzer

Schließlich überwinden die drei Schauspieler den Graben zwischen den Halbkästen, die im Verlauf des Abends immer wieder gedreht werden, die mal Bühne, mal Mauer, mal verbindendes, mal trennendes Element sind. Eine erste Begegnung findet statt und offenbart schnell die Vorurteile unter der oberflächlichen Toleranz wie auch den missionarischen Eifer, der so eng mit westlichen Freiheitsgedanken verknüpft ist.

Ins Herz der Mehrheitsgesellschaft

Wenn Annika Schilling gesteht, dass während des Aufeinandertreffens mit der anderen, ihr letztlich unverständlich bleibenden Kultur, der Wunsch aufkeimt, ihre Freiheitsvorstellungen einfach allen zu verordnen, oder wenn Simon Kirsch voller Entsetzen erkennen muss, dass es eben nicht nur die Eltern und die Spießer sind, die rassistische Gedanken hegen und pflegen, dann trifft Calis' Inszenierung mitten ins dunkle, verborgene Herz der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Dann tritt eine Form von alltäglichem Rassismus und eine Art von grundlegender Arroganz ans Licht, die gerne verdrängt und verleugnet wird.

Diese (Selbst)Erkenntnis, die zugleich den Entstehungsprozess von Projekten wie "Die Lücke" thematisiert und ihre inhärenten Schwächen aufdeckt, bereitet den Boden für eine andere Offenheit, einen wirklich freien Blick auf Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven wie auf ihre Haltungen und Positionen. Freiheit und Toleranz liegen eben nicht allein in klassisch westlichen Vorstellungen, sie können sich auch in einem bewussten Umgang mit türkischen Traditionen offenbaren. So sind die eigenen "Gesetze der Keupstraße", von denen Ayfer Sentürk Demir spricht, ein Rahmen, der Identität schafft und zugleich Toleranz gegenüber den anderen und ihren Ideen ermöglicht: "Leben und leben lassen", wie es einmal in dem Stück heißt.

Zweiter Anschlag

Im Lauf des Abend konzentriert sich das Stück dann mehr und mehr auf den Anschlag und die Reaktionen der Polizei, des LKAs und des Verfassungsschutzes, die von Anfang an einen rechten Tathintergrund ausgeschlossen und ihre Ermittlungen stattdessen auf die Opfer konzentriert haben. Ein zweiter, noch viel hinterhältigerer Anschlag als die auf einem Fahrradgepäckträger versteckte Bombe.

Wenn Ismet Büyük und Kutlu Yurtseven über das Attentat, die Ermittlungen und schließlich den NSU-Prozess sprechen, dann schwingen vor allem Zorn und Enttäuschung in ihren Worten mit. Aber dieser Akt des Sprechens, der eine Mahnung und eine Herausforderung für die Gesellschaft ist, hat etwas Befreiendes. Natürlich kann dieser Abend die Lücke nicht schließen. Sie bleibt, aber die Blicke, die zum Ende hin von beiden Seiten über sie hinweg geworfen werden, sind ohne Frage ein Anfang.

 

Die Lücke
von Nuran David Calis
Regie: Nuran Daivd Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Amelie von Bülow, Musik: Vivan Bhatti, Video: Sterntaler Film / Adrian Figueroa, Licht: Jan Steinfatt, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Simon Kirsch, Thomas Müller, Annika Schilling, Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir, Kutlu Yurtseven und weiteren Anwohnern und Geschäftsleuten der Keupstraße.
Dauer Teil I: (Führung über die Keupstraße) 45 Minuten
Dauer Teil II: (Stück im Depot 2) 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Calis arbeite mit den harten Fakten und verfahre semi-dokumentarisch, schreibt Eleonor Benitez auf FAZ.net (8.9.2014). Was das Stück sehr gut schaffe, "ist ein zutiefst beschämendes Gefühl beim Zuschauer angesichts des skandalösen Versagens der deutschen Ermittlungsbehörden hervorzurufen." 

Minutenlang sehen sich drei deutsche Schauspieler und drei Geschäftsleute der Keupstraße schweigend, feindlich und auch etwas distanziert neugierig an. "Ein starkes Bild für die Gesellschaft der Bundesrepublik", so zitiert Dorothea Marcus in ihrer Radiokritik auf Deutschlandfunk (9.6.2014), "Man beobachtet sich, doch man spricht nicht. Parallele, unverbundene Welten." "Es ist ein Abend der Wut, der Trauer und der Anklage. Wie kann es sein, dass unschuldige Geschäftsleute niedergeschossen werden und ihr Umfeld beschuldigt wird?", so zitiert Marcus den Regiesseur Nuran David Calis und sagt, dass es auch ein Abend darüber sei, warum Integration in Deutschland so zu wünschen übrig lasse. "Doch auch wenn die Verbitterung und die Fremdheit groß bleiben, wie 'Die Lücke' zeigt - vielleicht könnte sich nun dennoch etwas ändern."

"Gewiss schillert sein Stück zwischen Dokumentartheater, Gewissenserforschung und Agitprop. Aber es wagt sich in die Höhle des Löwen", schreibt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (10.6.2014). Annika Schilling, Thomas Müller und Simon Kirsch würden als schnieke Migranten-Versteher Toleranz mit beschränkter Haftung zeigen. Auf der anderen Seite: die bodenständig-patente Ayfer Sentürk Demir, die vor zehn Jahren von der Druckwelle erfasst wurde, der temperamentvolle Traditionalist Ismet Büyük und der rhetorisch-gewitzte Kutlu Yurtseven. "Ihre Schilderungen gehen unter die Haut: die prasselnden Nägel, die Stille nach dem Knall, die Blutenden auf dem Pflaster - und das zweite Fiasko der einseitig gegen die Opfer geführten Ermittlungen. Hier wurde eine Straße durch falschen Verdacht vergiftet." Calis will mehr als unentrinnbare Betroffenheit, man begreife die unbequeme Wahrheit, dass das Gespenst des Rassismus nicht nur in fremden Hirnen spukt. Leider münde am Ende der gerechte Zorn über zuerst verpennte, dann durch V-Männer und Aktenvernichtung manipulierte NSU-Ermittlungen in forcierten Theaterfuror samt aufgeklebtem Hitler-Schnäuzer.

Welche Energie, welche Wucht vom Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen ausgehen könne, das sei am Wochenende spürbar gewesen, "am intensivsten vielleicht in Nuran David Calis' Theaterstück 'Lücke', das in ein paar Stunden mehr über die Keupstraße und das Leben dort lehren konnte, als darüber je aus zweiter Hand zu erfahren gewesen sein mag", so Joachim Frank im Kölner Stadtanzeiger (10.6.2014). Die Symbolik mahnenden Gedenkens erschüttere auch nach zehn Jahren, "aber wir müssen heute weder hilflos noch sprachlos davor stehen. Das ist die Botschaft dieses Wochenendes."

 

Kommentare  
Die Lücke, ATT Berlin: die Lücke bleibt
Wenn dieser Abend eines tut, dann ist es dies: die “Opfer” aus ihrer passiven Rolle, die doch nur unsere Projektion ist, herauszuholen, sie Sicht- und hörbar zu machen, die Lücke akzeptieren anstatt sie zuzukleistern. Und so findet auch der plakative Anfang seine Rolle, als Gegenentwurf und Ausgangspunkt, als leicht verzerrter Spiegel unserer selbst. Denn so lächerlich der überheblich didaktische Tonfall der Schauspieler*innen wirkt, so viel von ihm können wir doch in uns selbst finden, sofern wir denn genau genug hinschauen. Die Lücke bleibt da und das ist auch gut so. Wie oft ist es doch Distanz, die den Blick klärt, die Nähe erst ermöglicht. Es ist eine Lücke, die verbinden kann. Auch das visualisiert der Abend, der erscheint wie seine Schlusserzählung von den Kindern, die gegen die eigene Angst ansingend, die gelähmten Anwohner aus ihren Häusern locken und die Vereinzelung des Traumas verwandeln in eine Gemeinschaft des Lebens.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/06/20/der-riss-in-uns/
Die Lücke, Köln: zu Gast in Berlin
Ganz plastisch ist diese Wunde im Bühnenbild des dritten Gastspiels zu sehen: zwischen den weißen Sitzgelegenheiten klafft "Die Lücke". Hier die drei Schauspieler Simon Kirsch, Thomas Müller, Annika Schilling aus dem Ensemble des Kölner Schauspiels: herablassende Blicke, schnöselige Gelfrisuren. Dort, auf der anderen Seite der Lücke, sitzen drei Anwohnerinnen und Anwohner der Kölner Keupstraße, verloren wirkend, die Skepsis ist ihnen deutlich anzusehen: Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven.

Regisseur Nuran David Calis lässt die Figuren in einem Kulturschock aufeinanderprallen. Gereiztheit und ständige Missverständnisse begleiten die Annäherungsversuche zwischen den beiden Welten. Annika Schilling wagt sich als erste ins gegenüberliegende Lager. Sehr freundlich, aber mit einer ihre Gesprächspartner provozierenden Mischung aus Überheblichkeit und Naivität stellen sie ihre wohlmeinenden Fragen. Als sich die Schauspieler zeigen lassen, wie man in der Moschee betet, kommt es fast zu einem Eklat: die Leute von der Keupstraße fühlen sich verletzt und wie im Zoo ausgestellt.

Mühsam entsteht ein wirkliches Gespräch: die Fassaden der Selbstgewissheit bröckeln ebenso wie die vorgefertigten Meinungen. Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven reden sich ihre Wut von der Seele: Darüber, dass die Ermittlungsbehörden der Linie folgten, die auch Innenminister Otto Schily in der "Tagesschau" ausgegeben hatte: ein rechtsextremer Hintergrund sei nicht erkennbar. Es müsse sich um eine Tat im Drogen- und Mafia-Milieu handeln oder um Spannungen zwischen unterschiedlichen Religionsgruppen und Minderheiten. Das Misstrauen sitzt den Anwohnern noch heute tief in den Knochen: jahrelang wurden sie nicht nur als Zeugen befragt, sondern oft auch selbst verdächtigt. Nur einer aus dem Trio fuhr bisher zum NSU-Prozess nach München, die beiden anderen erwarten sich davon gar nichts. Ayfer Sentürk Demir, die im Reisebüro auf der anderen Straßenseite arbeitete und den Anschlag dank glücklicher Umstände überlebte, musste erst durch lange Gespräche überzeugt werden, sich auf dieses Theaterprojekt einzulassen. Zu tief saß das Misstrauen.

Am Ende sitzen sich die beiden Gruppen wieder gegenüber, die Lücke trennt sie auch weiter, aber in einer anderen Körperhaltung: Beide Seiten sind nachdenklicher und zugewandter. Eine der Stärken des Abends ist es, dass die sechs Akteure im letzten Drittel des Gesprächs die wichtigsten Ungereimtheiten des NSU-Komplexes durchgehen: die geschredderten Akten beim Bundesamt für Verfassungsschutz, den Toten im Internet-Café, den ein Zeuge nicht gesehen haben will, obwohl er am Tatort war, die Ku-Klux-Clan-Verbindungen. Alles nicht neu, aber kompakt zusammengefasst.

Die Schauspieler hatten neben dem Regisseur und dem Dramaturgen auch die eloquente Sprecherin der IG Keupstraße und einen der Nebenklage-Anwälte aus dem NSU-Prozess zum Nachgespräch mitgebracht.

Stolz erzählten sie, dass ihr Projekt tatsächlich einiges bewirkt habe. 2012 habe bei einer ersten öffentlichen Diskussion noch eisiges Schweigen geherrscht, inzwischen gebe es langsam einen Austausch mit den Anwohnern der Straße auf der rechtsrheinischen "Schäl Sick" im Stadtteil Mülheim, die bei den Einheimischen wegen der Zeitungsberichte über Kriminalität und Drogen lange einen schlechten Ruf hatte. Überregional kennt man Köln-Mülheim vor allem aus Harald Schmidts Gags über Ratten und Müll, die er regelmäßig in seiner gleich um die Ecke (in der Schanzenstraße) produzierten Show unterbrachte.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25237-nsu-schwerpunkt-bei-den-dt-autorentheatertagen-jelineks-das-schweigende-maedchen-mein-deutsches-deutsche-land-und-die-luecke-in-der-koelner-keupstrasse.html
Die Lücke, Köln: Fernsehtipp
https://www.hoerzu.de/tv-programm/die-luecke-der-nsu-bombenanschlag-von-koeln/bid_125187929/

"Bei dem am Schauspiel Köln im Juni 2014 uraufgeführten Stück treten Anwohner und Betroffene gemeinsam mit Schauspielern auf. Der Film "Die Lücke - Der NSU-Bombenanschlag von Köln" dokumentiert die Theaterarbeit von Nuran David Calis und verknüpft Material von der Vorbereitung und der Inszenierung des Theaterstücks mit Aussagen von Anwohnern der Keupstraße, die über den Bombenanschlag sprechen.Mal emotional, mal nüchtern, immer aber nachvollziehbar und reflektiert, erinnern sich die Beteiligten an die damaligen Ereignisse. Klar benannt werden dabei die rassistische Diskriminierung durch die Presseberichterstattung und die einseitige Polizeiermittlungen. So entsteht ein Bild der Keupstraße aus der Sicht der Menschen, die dort leben - von ihnen selbst erzählt."
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