Alles Leben hinterlässt Spuren

von Sophie Diesselhorst

11. Juni 2014. Neulich im Deutschen Theater Berlin bei Idomeneus nach Roland Schimmelpfennig, der letzten Inszenierung, die Jürgen Gosch vor seinem Tod im Juni 2009 zur Premiere bringen konnte. Fünf Jahre zählt sie, ein biblisches Alter für eine Theaterproduktion. Irgendwann wird sie abgesetzt werden. Ganz voll war es im März 2014 schon nicht mehr.

"Idomeneus" hat zwei noch lebende ältere Geschwister, sie heißen Onkel Wanja und Die Möwe und waren lange Zeit die Kassenschlager des Deutschen Theaters (DT), aber auch um Karten für sie muss man sich nicht mehr kloppen.

Die vielen Gesichter eines unerklärlichen Wesens

Die Vergänglichkeit zieht nur, wenn man sich umdreht. Im Fall der genannten drei Hinterlassenschaften von Jürgen Gosch am DT wird man nun noch dazu eingeladen, die Erinnerung aufzureißen und zu stopfen. Und im Fall von "Idomeneus" wird es wieder so klar: Wie die Schauspieler vor der hohen weißen Wand ein Relief bilden, das Bild eines unerklärlichen Wesens mit vielen Gesichtern, die gleichzeitig giften, fürchten, mutig schreien können.

juergen gosch 560 arno declair hDer Regisseur Jürgen Gosch auf der Probe © Arno Declair

Eine Theaterinszenierung kann einen so direkt ansprechen wie ein anderer Mensch, der einen neugierig anguckt und in dessen Augen man sich also spiegelt. Es ist aber kein Mensch, es ist ein Kunst-Gebilde in einem Kunst-Raum, das einen Gefühlsschock auslöst, und noch einen, wenn man sich dessen bewusst wird – garantierte Nachhaltigkeit.

Es war Jürgen Gosch, so viel sei aus den Erfahrungen von drei Regie-Hospitanzen (Das Reich der Tiere, "Onkel Wanja", "Die Möwe") berichtet, äußerst wichtig, wie lang die Haare der Schauspieler waren und ob sie einen Bart trugen. Das Monster "Idomeneus" sieht fünf Jahre später anders aus als Herr Gosch es wachsen ließ. Andere Regisseure haben die Schauspieler für andere Inszenierungen um andere Frisuren gebeten. Das Leben hat seine Spuren hinterlassen.

Ein universeller Blick auf konkrete Situationen

Es ist aber – nach meinem Empfinden – immer noch in der Lage, die anderen Menschen, die sich im gemütlich rotsamten ausgekleideten Zuschauerraum des DT versammelt haben, um es anzuglotzen, in den Zustand des "betwixt and between" zu versetzen, den der Theaterwissenschaftler Tobias Hockenbrink in seiner kürzlich erschienenen Dissertation über Goschs Theater als dessen Wesensmerkmal ausmacht.

Hockenbrink hat mit dem im Wissenschaftlichen Verlag Berlin erschienenen Buch "Theater ohne Ende" die erste Jürgen-Gosch-Monografie vorgelegt. Er untersucht sieben Inszenierungen aus den Jahren 1982 ("Der Menschenfeind") bis 2009 ("Idomeneus"). Das Herzstück seiner Arbeit ist ein Vergleich der beiden "Macbeth" von Gosch von 1988 und 2005; wobei der frühe "Macbeth" an der Berliner Schaubühne ein jahrelanges Karrieretief für Gosch einleitete und der spätere am Düsseldorfer Schauspielhaus ein exzeptionelles Karrierehoch.

cover juergen gosch 140Hockenbrink interessiert sich nicht dafür, warum ausgerechnet "Macbeth" zwei Mal so wichtig für Goschs Außenwirkung war. Jürgen Gosch habe sich, so die Grundthese seines "provisorischen Künstlerprofils", in seinem Selbstverständnis als Regisseur vom Übersetzer zum Organisator gewandelt. Als Gemeinsamkeit der beiden sehr unterschiedlich dahergekommenen Inszenierungen macht Hockenbrink aus: "Weder in der frühen noch in der späten Inszenierung interessiert sich Jürgen Gosch für illusionistische Nachahmungsprinzipien, interpretierende Textauslegung oder für eine psychologisch-realistische Figurendarstellung. Stattdessen liegt beiden Arbeiten die Motivation zugrunde, einen unverstellten Blick auf die konkrete Situation zu ermöglichen."

Objektiv betroffen

Soweit die theaterwissenschaftliche Analyse. Ausgangs- und Endpunkt der Arbeit ist allerdings etwas eigentlich nicht Objektivierbares, und zwar die "persönliche Betroffenheit", die vor allem Goschs (später) "Macbeth" nach eigenem Bekennen bei Hockenbrink ausgelöst hat. Er versucht sie doch zu objektivieren, indem er spontane Zuschauerreaktionen auf die von ihm untersuchten Gosch-Inszenierungen heranzieht. Um seinen Eindruck zu artikulieren, dass Gosch das Publikum mitinszeniert hat, die einzelnen Vorstellungskräfte der Zuschauer eine entscheidende Rolle für das Gelingen seines Theaters spielen, was Hockenbrink am Ende etwas spröde so formuliert: "Die theaterkulturelle Bedeutsamkeit von Jürgen Goschs Theater kann vor allem in einer respektvollen Aufwertung sowohl des Akteurs als auch des Zuschauers, der zugleich ebenfalls ein Akteur ist, gesehen werden."

Dieser Objektivierungsversuch ist ein heikles Unterfangen, aber auch ein interessantes – denn obwohl die Arbeit dadurch passagenweise in pflichtbewussten Theaterwissenschafts-Diskurs und Subjektivitäts-Gefecht im Nebel auseinanderfällt, bleibt ihr Gestus offen und räumt etwas ziemlich Radikales, schöne Vorstellungen vom Theater als Wir-Raum Negierendes ein, nämlich dass es sein könnte, dass die wesentlichen Auseinandersetzungen mit Goschs Inszenierungen in den einzelnen Zuschauerköpfen stattgefunden haben. (Noch) stattfinden.

 

Tobias Hockenbrink:
Theater ohne Ende. Die Theaterarbeit des Regisseurs Jürgen Gosch. Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2014, 217 S., 32,80 Euro

 

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