Leipziger Thesen zur Theaterwissenschaft IV - Nikolaus Müller-Schöll über posttraumatisches Theater und Rabih Mroués Theater der Anderen
Eine Sprache suchen
von Nikolaus Müller-Schöll
Leipzig, 18. Juni 2014. 1. Die Theaterforschung an der Goethe-Universität begreift sich in Forschung und Lehre als kritische Wissenschaft. Der Begriff der kritischen Wissenschaft will dabei auf zweierlei verweisen: 1. Theaterforschung soll hier als kritische Wissenschaft im Sinne der kritischen Theorie gedacht werden. 2. Ihre Grundlage ist auch kritisch in dem erweiterten Sinne, daß selbst noch die Kritik, die ihrer Tendenz nach an die Stelle klassischer Fundierungen treten könnte, einem beständigen Zweifel unterworfen bleiben muß.
2. Theaterforschung als kritische Wissenschaft orientiert sich in ihrem Selbstverständnis an dem Versprechen, das dem Theater selbst in seiner abendländischen Prägung innewohnt: Verhandlung über die öffentlichen Belange zu sein, die in ihm zur Darstellung kommen, Revision der an anderen Orten getroffenen Entscheidungen und insofern ein Ort und eine Zeit der Eröffnung auf das hin, was die Polis oder die Gesellschaft konstitutiv ausgeschlossen hat.
3. Besser als auf dem Wege einer abstrakten Definition kann dieser Ansatz an einem konkreten von mir seit einiger Zeit verfolgten Projekt vorgestellt werden, in dessen Rahmen ich eine Reihe von Arbeiten in einer sehr spezifischen Weise unter dem vorläufigen Begriff als "posttraumatisches Theaters" zu diskutieren versuche.
4. Etwas in den von mir als "postraumatisch" bezeichneten Theaterformen insistiert, verschafft sich Ausdruck, fordert zum Sprechen, zur Antwort auf und verweigert sich doch beharrlich dem Darüber-Sprechen, fordert also vielleicht dazu auf, nach einer Sprache zu suchen, die dem Nachleben des Traumas nachspürt.
5. Wenn es ein gemeinsames Merkmal von posttraumatischem Theater und posttraumatischer Literatur gibt, so ist es das, dass sie es in der einen oder anderen Weise mit der Darstellung der Undarstellbarkeit zu tun haben. Es sind vielleicht zwei Formen dessen, was man mit Blanchot als "Schreiben des Desasters" bezeichnen könnte.
Yasser Mroué in "Riding on a cloud" © Joe Namy
6. Konkret lässt sich, was so abstrakt beschrieben wurde, an zwei Arbeiten des libanesischen Künstlers Rabih Mroué beschreiben, an seinen beim Theater der Welt in Mannheim gezeigten Riding on a cloud und "Double Shooting".
7. Aus der intensiven Diskussion dieser Arbeiten leite ich die Schlussfolgerung ab, dass die einzige Rechtfertigung des Fachs und der mit ihm verbundenen Forschungs- und Lehrtätigkeit die ausdauernde Arbeit am Begriff ist und dass sein längerfristiges Überleben von einer Rephilologisierung des Faches abhängt, wobei der Begriff der Philologie in einem radikalisierten Sinne zu begreifen ist als ein rückhaltloses sich den Gegenständen aussetzen: Wir können nicht erwarten, dass irgendjemand anderes die Arbeit am Begriff erledigt, welche die unsere, die der Theaterwissenschaftler ist: das beharrliche, am kleinen Detail wie an seinen unendlichen Verweisungen interessierte Verweilen bei unseren Gegenständen, bei Theater und Darstellung im engeren wie im weiteren und weitesten Sinne. Die Annahme, irgendwo und von irgendwem werde schon nachgedacht werden über das, was von Theatern, freien Gruppen und Künstlern produziert werde, ist naiv.
8. Eine Theaterarbeit, die nicht länger über den Tag hinaus reflektiert, von der Arbeit am Begriff begleitet und in der Erinnerung aufgehoben wird, verfällt als Ganzes einem Betrieb, dem ihre Spezifik gleichgültig ist, solange bloß der Laden brummt, respektive: der Lappen hochgeht und die Kasse klingelt.
9. Bei aller Rede und allem Respekt von Trans- oder Interdisziplinarität bleibt es zunächst einmal unerlässlich, die eigene Disziplin überhaupt zu erlernen, zu kennen und mit Selbstbewusstsein zu vertreten: Eine Theaterwissenschaft, die sich der Frage der Darstellung widmet, überschreitet genau damit beständig Grenzen, insofern sie zugleich die Voraussetzung wie auch Verabgründung jeder anderen Wissenschaft befragt, die bei der Konstitution ihres Gegenstandes in der einen oder anderen Form auf dessen Darstellung angewiesen ist. Die aus der Rücksicht auf Darstellbarkeit resultierende Dekonstruktion aller ontologischen und metaphysischen Bestimmungen in Erinnerung zu halten, kann als genuine Aufgabe jeder Theaterwissenschaft bezeichnet werden.
10. Die beiden Arbeiten Mroués und vermutlich jedes Posttraumatische Theater führen uns an eine Grenze der Undarstellbarkeit, zu einer Erfahrung der Anderen, die wir auf keine Weise adäquat auf Begriffe bringen können und die uns im Interesse der Gerechtigkeit zu einer doppelten Lektüre unserer Gegenstände zwingt: In der Lektüre der Zeichen ihrer Anwesenheit müssen wir uns die Spuren ihrer irreversiblen Abwesenheit vergegenwärtigen, in ihrer Lektüre zugleich das Bewusstsein ihrer Unlesbarkeit erhalten. Sich dieser ebenso notwendigen wie unendlichen Aufgabe zu stellen, ist das Gebot jeder als kritischer Wissenschaft angelegten heutigen Theaterwissenschaft.
Nikolaus Müller-Schöll
ist Professor für Theaterwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt und Leiter des Masterstudiengangs "Dramaturgie". Arbeitsgebiete: Fragestellungen an der Schnittstelle von Theater, Theorie und Politik, Gegenwartstheater, Theorien und Formen des Komischen, Benjamin, Brecht, Heiner Müller. Veröffentlichungen u.a.: Das Theater des konstruktiven Defaitismus. Benjamin, Brecht, Heiner Müller ((2002); Ereignis (Hg. 2003); Politik der Vorstellung (Hg. mit Joachim Gerstmeier (2006) Performing Politics (Hg. mit André Schallenberg und Mayte Zimmermann) (2012).
www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/tfm/Mitarbeiter/mueller-schoell/index.html
Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Nikolaus Müller-Schöll im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 18. Juni 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.
Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit der globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung.
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"Das Bild, verstanden als der Bereich von Darstellung, wäre jedenfalls die Behauptung von Schicksalslosigkeit. Theater der Darstellbarkeit dagegen wäre die zugleich ästhetische und ethische Erfahrung einer Manifestation von Schicksal. Darin besteht sein Wert, oder: Wert hat es nur dort, wo es dieses sagt: daß man es nur erfährt, wenn es schon geschwunden ist, als Nachtrag. Vielleicht - manchmal will es so scheinen - befindet sich das, was man Gesellschaft nennt, schon längst auf dem Weg in die Bilder, in den Terror der Präsenz, vor den allmählich versagenden Augen nur mehr das Wunschbild der Schicksalslosigkeit, das der Kern der virtuellen Kommunikation ist. Vielleicht ist sogar das Nachdenken über das Theater nur noch ein Nach-Bild. Aber auch wenn es so ist, weiß man es nicht, denn Schicksal, Darstellbarkeit, ist nicht, sondern wird gewesen sein."
haben Sie meine Thesen überhaupt gelesen? Ich kann überhaupt nicht sehen, wie die Unterscheidung von Bild und Theater, Schicksalslosigkeit und Schicksal etc. etc. bei Lehmann irgendwie dem ähneln könnte, was ich in meinen Thesen postuliert habe. Schon gar nichts hat es mit dem zu tun, was ich in meinem Vortrag ausgeführt habe.
Freundliche Grüße,
Nikolaus Müller-Schöll
wollen Sie es nächstes Mal vielleicht einmal mit Argumentieren versuchen? Oder geht es Ihnen bloß ums Rumnörgeln?
Freundliche Grüße,
Nikolaus Müller-Schöll
Mit Gruß
unter 9. schreiben Sie von der "Verabgründung". Ist das ein Tippfehler, oder was ist da gemeint? Das Wort kenne ich zumindest nicht.
Der Begriff der "Verabgründung" wird häufig gebraucht, um die Figur der "Mise en abime" ins Deutsche zu übersetzen. Ich gebrauche ihn in dem Sinne, in dem ich ihn im dritten Kapitel des ersten Teils meiner Dissertation (Das Theater des 'konstruktiven Defaitismus') in Auseinandersetzung mit der Sprachtheorie Walter Benjamins eingeführt habe. Sprache erscheint bei Benjamin als eine insofern a-humane Voraussetzung des Sprechens, als der Sprechende in ihr gleichsam verstrickt ist, sie also als eine vorgängige erfährt, in die er eingelassen ist. Es ist dies der Grund, warum Benjamin eine Sprache "überhaupt" von der "Sprache des Menschen" unterscheidet. Diese Unterscheidung überträgt er später in seiner Auseinandersetzung mit Brechts Theater in seine Theatertheorie.
Sie sollten sich schon etwas näher mit Adorno und Co. auseinandersetzen (speziell deren Kunst- und Literaturbegriff). Was Sie schreiben klingt nach knapper Lektüre der Dialektik der Aufklärung (vielleicht gepaart mit etwas von Roland Barthes' Mythen des Alltags), ist dabei aber by the way kaum dialektisch. Nikolaus Müller-Schöll verweist in Punkt 10 auf eine Verstrickung von der Lesbarkeit der Zeichen und ihrer Unlesbarkeit. Weder wird das eine noch das andere hypostasiert, sondern als die unmögliche aber notwendige Aufgabe, beidem Rechnung zu tragen, hervorgehoben, also Arbeit zwischen Gegebenem und Möglichem. Eine Remythologisierung wäre die Unterordnung unter ein Absolutes, wozu für Adorno und Horkheimer etwa auch die Hegelsche 'bestimmte Negation' (und mithin mathematische Logik) zählt, wo die Vorannahme mit dem Ergebnis gleichgesetzt wird, sprich: die Totalität von System und Geschichte.
Gerade in der DdA würde Ihnen aber die Unterscheidung zwischen jenem hier von Ihnen angeprangerten Glauben und einer - ich nenne es mal - 'Erfahrung' der Negativität begegnen, wie sie speziell Adorno und Benjamin mit Blick auf Kunst ausführen. Und die in deutlichem Bezug gerade zu den interessanten Thesen von N. Müller-Schöll steht (Der Hinweis auf den Alteritäsbegriff (Kommentar 7) ist dabei durchaus hilfreich).
Da ich wenig Lust habe, weiter Zeit auf derart leere Angriffe zu verschwenden, und selbige auch der Diskussion hier nichts Substantielles beifügen, verweise ich lieber auf einen Anknüpfungspunkt an These 10, wie er sich just bei Adorno findet. In seinem Essay "Engagement" von 1962 (in Noten zur Literatur) schreibt er:
"Noch im sublimiertesten Kunstwerk birgt sich ein Es soll anders sein; wo es nur noch sich selbst gliche, wie bei seiner reinen verwissenschaftlichten Durchkonstruktion, wäre es auch schon wieder im Schlechten, buchstäblich Vorkünstlerischen. Vermittelt aber ist das Moment des Wollens durch nichts anderes als durch die Gestalt des Werkes, dessen Kristallisation sich zum Gleichnis eines Anderen macht, das sein soll. Als rein gemachte, hergestellte, sind Kunstwerke, auch literarische, Anweisungen auf die Praxis, deren sie sich enthalten: die Herstellung richtigen Lebens."
Nun könnte man über die Aktualität des Werk- und Formbegriffes durchaus streiten (und 'richtiges Leben' ist offen für positivierte Fehldeutungen), wichtig erscheint mir aber der Hinweis auf eine künstlerische Praxis als eine Anweisung, die sie selbst nicht erfüllt. Diese Forderung nachzuvollzuziehen und Kunst insofern auf Begriffe zu bringen, als ihre negative Pointe dabei dennoch gewahrt bleibt, ist eine der Aufgaben kritischer Theaterwissenschaft.