"Ich bin nicht eifersüchtig!"

von Martin Krumbholz

Essen, 20. Juni 2014. Von den großen Ehebruchromanen des 19. Jahrhunderts ist Lew Tolstois "Anna Karenina", erschienen 1878, der diskreteste – sieht man einmal kurz von dem doch etwas verklemmten Herrn Fontane und seiner "Effi Briest" ab. Aber verglichen mit dem skandalösen Abräumer Flaubert und seinem Hass auf die Bourgeoisie – wie subtil geht der russische Romancier zu Werk! Man denke nur an die vielsagenden Auslassungspünktchen, die den endlich vollzogenen Akt andeuten. Anders als Flaubert schreibt Tolstoi keinen "subversiven Roman"; Wolfgang Matz hat das erst jüngst in seiner Abhandlung über die "Kunst des Ehebruchs" nachdrücklich beschrieben. Die sensible Anna Karenina geht, ganz anders als ihre Vorgängerin Emma Bovary, an ihren Schuldgefühlen zugrunde.

Eine moderne Geschichte

In Armin Petras' Bühnenfassung und Thomas Krupas Inszenierung am Schauspiel Essen ist der Ehebruch keine Kunst. Er ergibt sich einfach, ohne Federlesens. Janina Sachau als Anna tritt in einem weißen Trenchcoat auf, im Arm hält sie einen Teddybären. Der Bär steht später für ihr Kind Serjoscha oder auch schon mal für die Liebesbriefe des Grafen Wronski. Aber so, wie Janina Sachau die Figur anlegt, ist Anna kein kindhaft-naives Mädchen (die Protagonistin des Romans ist am Beginn der Handlung etwa fünfundzwanzig), sondern eine smarte Frau, die sich durchaus bewusst auf ein Abenteuer einlässt und Kindlichkeit allenfalls als Attitüde benutzt. Also etwa: Emma Bovary plus Intelligenz. Wronski steht zufällig auf dem Bahnhof, und sie nimmt sich ihn – warum nicht. Armin Petras würde zur Erklärung vermutlich sagen: Sie ist eben eine moderne Frau.

AnnaKarenina2 560 BirgitHupfeld u Anna Karenina im Trench: Janina Sachau, mit Silvia Weiskopf (Kitty) und Sven
Seeburg (Lewin)  © Birgit Hupfeld

Nur, und diese Frage stellt sich ja grundsätzlich bei sämtlichen Romanadaptionen: Wenn man eine moderne Geschichte erzählen will, warum nimmt man dann nicht eine moderne Geschichte? Schaut man genauer hin, geht es solchen Übertragungen um den Plot und um die Figuren; die historischen und moralischen Konnotationen sind letztlich nur im Weg. Das Publikum will die großen, bekannten Stoffe sehen, und modern soll es außerdem sein. Das Theater tut ihm den Gefallen; warum sollte die Quadratur des Zirkels nicht gehen?

Schöne Einfälle, lebenspralle Figuren

Die Figuren also sind in dieser Aufführung ganz gut getroffen. Wenn man von ein paar notwendigen Verschiebungen (siehe oben) absieht. Die Bühne von Andreas Jander: ein großes goldenes Portal, dahinter eine drehbare halbrunde Glasfassade. Matthias Breitenbach und Evamaria Salcher als unglückliches Ehepaar Oblonski: Er ein gutgelaunter Hallodri mit Schnauzer, sie eine gute Seele. Ihre jüngere Schwester Kitty (Silvia Weiskopf): ein sympathisch aufsässiges Wesen; deren Verehrer Lewin, die Tolstoi am nächsten stehende Figur: lange Haare, Anzug, Turnschuhe, ein Mann in mittleren Jahren, der sich unattraktiv findet und es gerade deswegen gar nicht ist (Sven Seeburg). Graf Wronski, der Liebhaber (Jörg Malchow): leider ein wenig blass. Und schließlich der Staatsbeamte Karenin (Stefan Diekman): Brille, Bart, Krawatte – überhaupt keine abstehenden Ohren. Seine ersten Worte lauten: "Ich bin nicht eifersüchtig."

Gegen Schluss wird Karenin auch den Part seines Söhnchens Serjoscha übernehmen und sich auf dem Autoscooter im Kreis drehen. Es fehlt nicht an schönen Einfällen, an lebensprallen Figuren. Etliche epische Passagen werden – wie gehabt – im epischen Modus wiedergegeben, als gäbe es einen Vorleser oder Erzähler; nur sind das die Figuren selbst. Alles korrekt, alles propper. Warum also geht einem die Geschichte so wenig nahe? So gar nicht unter die Haut? Liegt es an der teilweise recht opernhaften Inszenierung, oder doch eher am Prinzip – also daran, dass solche Zitate und sanften Modernisierungen ("Ich könnte mal im Netz nachsehen") und Klassikerhuldigungen an ihre Anlässe, also die unendlich differenzierten Weltliteraturwerke, einfach nicht heranreichen? Dass sich also alles in einer netten, kommensurablen Grillotheater-Abendunterhaltung erschöpft?

Zweieinhalb Stunden einschließlich Pause, länger darf's nicht dauern. Draußen läuft der Fernseher, Italien verliert gegen Costa Rica. Eine Sensation. Da kommt Tolstoi nicht mit.

Anna Karenina
nach dem Roman von Leo Tolstoi, Spielfassung von Armin Petras
Regie: Thomas Krupa, Bühne: Andreas Jander, Kostüme: Ines Burisch, Musik: Mark Polscher.
Mit Janina Sachau, Stefan Diekman, Matthias Breitenbach, Evamaria Salcher, Silvia Weiskopf, Sven Seeburg, Jörg Malchow.
Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten, eine Pause.

www.theater-essen.de

Kritikenrundschau

Thomas Krupa schildere die zum Scheitern verurteilten Beziehungen im Goldrahmen "eher nüchtern und ohne große Gefühlsausbrüche", schreibt Klaus Stübler auf RuhrNachrichten.de (22.6.2014). Der Beziehungsreigen werde "unter geschickter Zuhilfenahme der Drehbühne unterhaltsam montiert". Obwohl Karenin das Gegenteil behaupte, fühle man sich immer wieder an Kino erinnert.

Krupa und Bühnenbildner Andreas Jander verzichteten konsequent auf optische Opulenz und szenische Aktualisierung, so Martina Schürmann auf DerWesten.de (23.6.2014). "Das Päckchen Drum-Tabak, das Anna bei der Ankunft am Moskauer Bahnhof aus der Tasche zieht, ist eher ein halbherziger Versuch von demonstrierter Coolness wie die hollywoodesk-rekelnde Anspielung auf die vielen Anna-Karenina-Verfilmungen vor pustenden Windmaschinen." Dann aber finde die Inszenierung in die soghafte Geschichte hinein, "die die Kunst- und Religionsdiskurse, das Weltanschauliche zu Randaspekten werden lässt. Das zeitlose Thema ist die Liebe in Zeiten der gesellschaftlichen Bindungsenge, der von Tolstoi mit unterschiedlichen Paaren angelegte Wettstreit der unterschiedlichen Liebeskonzepte."

 
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