Sternenlose Utopie

von Andreas Schnell

Bremen, 1. Februar 2008. Die Erwartungen waren hoch. Eine Uraufführung, ein reicher Stoff, ein namhafter Autor. Aber hohe Erwartungen sind – wie jeder andere Idealismus – nah an der Enttäuschung gebaut. Das Scheitern von Idealismus und Utopie sind immer wiederkehrende Themen von Tankred Dorst. Doch zunächst einmal ist alles noch recht idyllisch.

"Seht mal dort oben! Diese wundervolle Wolke!", ist der erste Satz, gesprochen von der Hauptfigur Heinrich (Vogeler, gespielt von Daniel Fries), über den schon Hans Kresnik vor vier Jahren am gleichen Ort ein Stück uraufgeführt hatte. Vogeler, der Jugendstilmaler, Freund und Förderer von Paula Modersohn-Becker, Vogeler, der – wie so viele – freiwillig in den Ersten Weltkrieg zog, Vogeler, der im Irrenhaus landete, weil er den Kaiser kritisiert hatte, Vogeler, der Kommunist wurde, eine Kommune gründete, in die Sowjetunion emigrierte, bei der Realisierung seiner Ideale scheiterte und in Kasachstan verarmt starb.

Kein Wunder, dass sich Tankred Dorst für so einen interessiert. Ein Mensch voller Widersprüche, ein Mensch, der das Gegebene als gegeben, aber nicht als unumstößlich empfindet. Ernst Toller, über den Dorst vor vierzig Jahren ein Stück geschrieben hat, war ein Bruder im Geiste. Beide hingen zumindest zeitweise dem Sozialismus an und arbeiteten an seiner Verwirklichung, Toller in München, Vogeler in Bremen, vor fast 90 Jahren.

Desolates Harmoniegedusel bei Künstlers

Vielleicht ist es dem in Bremen grassierenden Paula-Taumel um den 100. Todestag der Worpsweder Künstlerin geschuldet, dass Worpswede in Tankred Dorsts neuem Stück so großen Raum einnimmt. Nicht das wirkliche Worpswede allerdings. Eher die Karikatur einer Künstlerkolonie, die sich in Naturbetrachtung und Harmoniegedusel ergeht.

Vogelers Geschichte erzählt Dorst (fast) ohne Nachnamen, Paula, Otto (Modersohn: Tobias Beyer), Fritz (Mackensen: Siegfried W. Maschek), Hans (am Ende: Maximilian Grill), Clara (Westhoff: Sabine Urban), Rainer (Maria Rilke: Thomas Kienast) – die großen Namen aus Worpswedes Geschichte. Schon in der Eingangsszene bieten sie ein desolates Bild: eine Versammlung versponnener Individuen. Otto, der auf dem Boden liegend in den Anblick einer Topfpflanze versunken ist. Otto, von dem später gesagt wird, er sei jüngst beim Umarmen einer Birke gesichtet worden. Das soll gelebte Utopie sein?

Auch im Weiteren wird nicht greifbar, was denn die Utopie ist, bleibt der Stern unsichtbar, dem Vogeler zu folgen behauptet. Der Kommunismus ist als Hammer und Sichel im Blut des ersten Weltkriegs gemalt. Vogelers Erschütterung angesichts seiner Kriegserlebnisse, die ihn zum Kommunisten macht, findet hier ihren Ausdruck. Dass Vogeler nicht einfach ein Träumer war, lässt sich der Gründung der Kommune auf dem Barkenhoff entnehmen, auch aus Originalpassagen aus Briefen und autobiographischen Notizen, die Dorst in seinen Text montiert hat – auf der sparsam eingerichteten Bühne (Alexander Lintl) ist von all dem allerdings wenig zu sehen.

Künstler führen sich künstlich auf 

Leider bietet das Ensemble unter der Regie von Christian Pade überhaupt wenig Erhellendes. Die Reduktion der Personen auf ihre Vornamen erscheint plausibel, weil es Dorst auch um das Allgemeine am Künstler geht. Unglücklicherweise führen sich die Figuren in der Bremer Uraufführung aber auch noch künstlich auf. Nicht einmal ein so souveräner Schauspieler wie Sebastian Dominik darf seinem Roselius, dem Mäzen, echtes Leben einhauchen.

Lediglich Heinrichs Frau Martha (Varia Linnéa Sjöström), die nach Heinrichs Abreise nach Moskau sein späteres Schicksal erzählt, wirkt anrührend, wie sie da in wenigen Minuten von der treuen Apfelkuchen backenden jungen Hausfrau zur alten Frau wird, die gebückt von der Bühne schlurft. Ein weiterer Lichtblick ist die Figur des Kurt (Johannes Flachmeyer), der als verbitterter Zyniker seinem alten Freund Heinrich verbunden bleibt.

Ist es das Stück? Oder liegt es am Regisseur? Wer Christian Pades "Wilhelm Tell" im Herbst gesehen hat, könnte meinen, es sei Absicht, dass er das Ensemble beinahe hölzern agieren lässt. Geradezu abgestanden dann der Auftritt einer nackten, bemalten Paula (Johanna Geißler), die in einem grotesken Ausdruckstanz ihr Ende aufführte.

Der Applaus am Schluss war leidenschaftslos.

 

Künstler  
Uraufführung
von Tankred Dorst. Mitarbeit: Ursula Ehler
Regie: Christian Pade, Ausstattung: Alexander Lintl. Mit: Sebastian Schneider, Thomas Kienast, Sabine Urban, Maximillian Grill, Johannes Flachmeyer, Daniel Fries Johanna Geißler, Varia Linnéa Sjöström, Tobias Beyer, Siegfried W. Maschek, Sebastian Dominik, Irene Kleinschmidt.

www.theater-bremen.de

 

Kritikenrundschau

Tankred Dorsts "Künstler" sei ein Stück "um den Konflikt zwischen Ästhetik und politischem Engagement, den der Jugendstilmaler Vogeler in sich austrägt und nicht aushält", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.2.2008). Es stecke "voller Anspielungen, Zitate, Echos." Und es sei "ein reiches Schauspiel und vieles zugleich: Künstlerdrama und Lokalstück, biographisches Spiel und Epochenaufriss. Aber wohl auch Auftragswerk. Was den Autor an Heinrich Vogeler nicht nur interessiert, sondern auch mit ihm verstrickt, bleibt die Frage." Die Inszenierung von Christian Pade habe "eine lapidare Sachlichkeit, die Regie verhält sich überlegt, nicht überlegen." Die karge Ausstattung versetze das Ganze "in einen Werkstatt-Rahmen, der das Schauspiel offen hält für Zeichen und Verweise, Signale und Spruchbänder, Actionpainting und Schattenspiele".


Till Briegleb meint in der Süddeutschen Zeitung (4.2.2008), dass "trotz einiger lebenskluger Betrachtungen und der Kunstfertigkeit, in Andeutungen Hintergründe aufscheinen zu lassen", Tankred Dorsts neues Stück "in der altmodischen Manier einer Geschichte rekonstruierenden Poetik" auftrete, "die ihre Biederkeit nicht verstecken kann." Genau diese Biederkeit aber habe sich Regisseur Christian Pade zum Vorbild genommen und das Stück "mit den beschränkten Mitteln eines jungen Ensembles und einer nichtssagenden Bühne" inszeniert. Für alle Szenen fänden Pade und sein Ausstatter Alexander Lintl "nur den bescheidenen Rahmen des Naheliegendsten." Heraus komme "nostalgischer Kitsch" und "Provinztheater ohne Vision."

Tankred Dorst umkreise in "Künstler" "die Utopie, Kunst, Leben und Politik auf einen gemeinsamen produktiven Nenner bringen zu können", schreibt Henning Bleyl in der taz Nord (4.2.208). Der Nachweis aber, ob das Stück "als allgemeingültige Parabel auf das Scheitern von Utopien funktioniere", stehe noch aus. "Das statuarische Herumstehen der Figuren" in Christian Pades Inszenierung erinnere "entfernt an Thomas Bischoffs minimalistische Klassiker-Inszenierungen, wobei Pades Ansatz weder die präzise Strenge noch die Entschiedenheit für sich in Anspruch nehmen kann, mit der Bischoff das Bremer Publikum polarisierte." Pade sei kein Regisseur, "der seine AkteurInnen zu akzentuiertem Sprechen anhielte, er bevorzugt wohl eher die verbale Beiläufigkeit. Wer die dadurch auftretenden akustischen Probleme ignoriert, kann sich an einer entspannten Spielweise erfreuen, die vor allem der Hauptfigur zukommt: Dass eine derart tragische Gestalt wie Vogeler bis zum Ende ohne Düsternis auskommt, ist schon bemerkenswert."

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