Gretchen im Verlies

von Willibald Spatz

München, 27. Juni 2014. Spröde, zäh und hart ist Johan Simons' Brückenschlag zum benachbarten Haus, dem von Martin Kušej geleiteten Residenztheater, geraten, und von einer gewissen Wucht. Im Resi sind Faust-Wochen. Der erste Teil kam eben unter der Regie Kušejs heraus, in der kommenden Woche folgen sieben Premieren junger Regisseure, die den zweiten Teil umkreisen. Und dazwischen Jelineks von ihr so genanntes Sekundär-Drama, das "kläffend neben den Klassikern herlaufen" soll. Sie prognostizierte ihr Scheitern gleich selbst, und zwar weil "ich das Originaldrama nicht verstehe und dann was total Falsches dazuschreibe."

Elfriede Jelinek bezieht sich auf den Schluss des ersten Teils, in dem Gretchen im Verlies sitzt, und zieht Parallelen zu dem Fall Fritzl, der seine eigene Tochter 24 Jahre in seinem Keller versteckt hielt, mit ihr sieben Kinder zeugte und letztlich entdeckt wurde, weil das älteste Kind, das ebenfalls im Keller hauste, krank wurde und einen Arzt benötigte. Für Elfriede Jelinek ist das nur der Startpunkt einer großen Ketten von Assoziationen, die unter anderem auch einen Vorfall berühren, bei dem eine Verkäuferin ihre Stelle verloren hat, weil sie einen Pudding entwendete.

Vater-Tochter-Konfrontation

Diese Münchner Version verzichtet auf die zweite Geschichte, sie konzentriert sich ganz auf die Vater-Tochter-Konfrontation. Die Mausoleum-artige Bühne von Muriel Gerstner besteht aus einer Ziegelwand, die zwei Türen ein Stück weit über dem Boden durchbrechen. Zunächst ist nur das zusammengekauerte Mädchen zu sehen und die Stimme des Vaters aus dem Off zu hören. Oliver Nägele arbeitet sich hervor ins Licht, im Anzug mit offener Fliege, irgendwie fertig und doch gierig.

Er wettert gegen die Frauen "Die Weiber führen lehren? Wir hätten eher jeden Grund, sie unschädlich zu machen. Denn sie führen doch schon längst! […] Jeder, der über sie mit beleidigenden Bemerkungen über ihr Doppelkinn und ihren Hängearsch herfällt, verletzt sie sehr tief, sie kann das dann nicht mehr vergessen." Er rechtfertigt sein Tun über eine halbe Stunde, damit das Gegenüber irgendwie versteht, dass er seine Tochter einmauern musste. Er hängt in der anderen Tür über den Köpfen der Zuschauer.

faustinandout1 560 thomas dashuber uGefangene: das Gretchen in "FaustIn and out" © Thomas Dashuber

Vater und Tochter werden sich fast das ganze Stück über nicht begegnen, sie bleiben eingesperrt in ihren kleinen Räumen, die kaum Bewegung erlauben. Der Alte bettelt um Verständnis, er spricht über die Köpfe hinweg, er bleibt eine Sau, für ihn soll nicht einen Funken Sympathie aufkommen. Er greift sich an Herz, der untere Knopf des Hemds steht offen, er ist am Ende, wahrscheinlich macht er es nicht mehr lange. Wenn die Tochter dann endlich zu Wort kommt ist das nur ein Stammeln, sie kriecht auf dem Boden umher, später, wenn sie sich aufrichtet, zieht sie sich schwerfällig am Rahmen hoch und klemmt sich spastisch in der Tür fest.

Mit Realität aufgesogen

Kein Zweifel, Birgit Minichmayr spielt eine, die von Grund auf gebrochen wurde, die kaum ihre Gedanken formen kann, geschweige sie über die Lippen bringt. Da ist ein ständiges Ringen um Laute, das erst klarer wird im Hadern mit Gott, der ja nur wieder ihr Vater ist, der sie und ihre ganze Welt geschaffen hat. Umso zynischer seine Rechtfertigung, dass sie es unten besser habe als oben, wo die Mutter und die lauten Kinder sind. Die sind ihr weggenommen worden, nur die Braven durfte sie im Keller behalten.

Die Tatsache, dass Elfriede Jelinek einen konkreten Anlass für ihr Stück heranzog, verhindert reine Betroffenheit. Man ertappt sich immer wieder dabei, die bloßen Fakten-Behauptungen in Frage zu stellen: Sind sie recherchiert oder frei erfunden? Gab es anfangs wirklich nur einen Eimer anstelle eines Klos? Wurde wirklich eines der Kinder in einem Ofen verheizt? Erliegt man hier einer Sensationsgier, gegen die man sich immun glaubte?

Gute Zumutung

Johan Simons fängt sein Publikum auf. Eine ganze Zeitlang will man den beiden Schauspielern ihre Figuren abnehmen. Die verhandeln da vorne anscheinend ihre Beziehung. Doch je weiter die Inszenierung voranschreitet, desto abstrakter werden diese Figuren, sie verwandeln sich in Kunst - sie sind nur noch Gedanken- und Wortspiele. Johan Simons sprach in einem Vorab-Interview davon, dass dieser Abend eine Zumutung sei. Und er hat recht behalten.

Gegen Ende werden die Monologe quälender und die Enge noch klaustrophober, da der Vater plötzlich hinter der Tochter steht und sie leicht federnd mit ihrem ausladenden Rock eine Kopulation andeutet. Der Vater solle endlich kommen, dann könnten sie sich abwischen und gemeinsam essen. Diese Zurschaustellung der Banalität des Bösen in einem hochartifiziellen Theaterabend schmerzt und ist eine Zumutung, aber in bestem Sinne.

FaustIn and out
von Elfriede Jelinek
Regie: Johan Simons, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Maarten Schumacher, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie Sebastian Huber.
Mit: Birgit Minichmayr, Oliver Nägele.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Vielleicht liege es an der horrenden Nähe dieses Urfaust-Wiedergängers, dass nach "einem vampiristisch-schwarzhumorigen 'Faust' von Residenztheaterchef Martin Kušej" die "FaustIn" von Johan Simons zugleich frischer und monumentaler geraten sei als das Primärstück, meint Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.6.2014). "Vielleicht liegt es auch daran, dass Simons, abweichend von der bisherigen Inszenierungspraxis des zwei Jahre jungen Stückes, es nicht in keif-kabarettistische Wortkaskaden mehrerer Darstellerinnen umsetzt, sondern auffasst als archetypische Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau." Der nahezu zweistündige, pausenfreie Abend lebe von der Meisterschaft, mit welcher die Schauspieler Elfriede Jelineks Textflächen als körperlich erfahrene Rede darstellten. "Prachtvoll Nägeles jupiterhaft sonore Artikulation, der verachtungsvolle Hochmut, womit er seine überreifen Leibesmassen auch mal aus dem Smoking rutschen lässt. Nicht weniger eindrucksvoll die Intensität der Minichmayr, deren Figur aus lauter Ausweglosigkeit an Gott zu glauben versucht, sich selbst verurteilt und dadurch hoheitlich bleibt."

"Johan Simons stürzt sich mit Gier auf Jelineks Sprache und hat mit Oliver Nägele ein grandioses Medium für den Täter", urteilt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (30.6.2014). Nägele durchforste mit hoher Intelligenz die Selbsterklärung des Täters, des ewig Zukurzgekommenen, der brutal wird aus Schwäche. Es gelinge ihm das Kunststück, dem Ungeheuerlichen eine Farbe der Plausibilität mitzugeben. 
Birgit Minichmayr dagegen nehme sich "waghalsig das Jelineksche Opfer als psychologische Identifikationsfigur", und doch sollten hier alle Frauen, alle Opfer gemeint sein. So sehr der Mut der Aufführung beeindrucke, ihre tiefe Ernsthaftigkeit, so Toll: "Mit Empathie kann man dem Opfer nicht nahe kommen, alles ist zu monströs. Zurück bleibt Verstörung."

"Eine großartige Aufführung", meint Gabriella Lorenz in der Abendzeitung München (30.6.2014). "Aber auch ein Brocken, an dem man würgt." Johan Simons habe Jelineks riesige Textflächen konzentriert auf den familiären Missbrauch "und so zugespitzt auf das Mann-Frau-Verhältnis". "Urfaust"-Zitate in Jelineks Text, auch Zitate aus Paul Celans "Todesfuge" oder Werken von Rilke ("Wer wenn ich schrie") "sollen transzendieren", so Lorenz, "wirken aber nur bildungsbeflissen." Zum Leben erweckten diesen disparaten Text hier die fabelhaften Schauspieler in der "mutig formstrengen Regie" von Simons.

"Simons vertraut ganz und gar auf das Wort", schreibt Jeanette Neustadt in der Welt (30.6.2014). "Sein Klang ist das einzige Requisit dieser in sich ruhenden 120-minütigen Aufführung." Simons habe den Mann als Machthaber auf die Bühne geholt "und mit ihm den Gegensatz zwischen männlicher und weiblicher Perspektive". Dieses Konzept gehe nur streckenweise auf. "Denn die Monologe lassen sich nicht zum Dialog vereinen."

 

Kommentare  
FaustIn and out, München: phänomenal
Birgit Minichmayr war einfach phänomenal, gnadenlos mitten ins Herz und ins Hirn!!!
FaustIn and out, München: Kohle?
Wieso muß ein Herr Simons eigentlich am Residenztheater inszenieren? Ist er an seinem Haus nicht ausgelastet? Braucht er Kohle?
Kein Verständnis für sowas.
FaustIn and out, München: befruchtend
So überflüssig man die Idee dieses "Intendantenaustauschs" für die Stadt zunächst tatsächlich finden mochte, so befruchtend ist es als Zuschauer, beide Inszenierungen im Vergleich und in einer überraschenden Verbindung/Ergänzung zu sehen. Erst Kusej, laut und kraftvoll, gestern Simons ruhig und behutsam, aber nicht weniger kraftvoll. Die Münchner können sich glücklich schätzen! München ist und bleibt wohl noch ein bisschen Theaterhauptstadt.
FaustIn and out, München: großes Glück in großer Beklemmung
nägele war ebenso phänomenal, aber die rolle des opfers ist immer sympathischer und fesselnder als jene des täters. wer die parizek inszenierung in zürich vor 2 jahren sah, kann nicht umhin, die unglaubliche qualität der arbeit von elfriede jelinek anzuerkennen: das kommentarlose anbieten ihrer ebenso atemberaubenden wie pointierten textmassen ermöglicht unendlich viele gültige interpretationen und interpretationsformen. ihre vehemenz, penetranz, intelligenz und bildung, ihr verbissenes nicht-locker-lassen sind von unschätzbarer relevanz in der heutigen zeit der indolenz und indifferenz, des "ist eh alles wurscht" und des systematischen von-sich-weisens der persönlichen verantwortung. toll, dass 2 so grossartige schauspieler für diese richtungsweisende produktion gewonnen wurden. die regie gehört zudem zum besten, was ich je von simons sah. grosses glück in grosser beklemmung: so soll, so muss theater sein. zudem gelingt der produktion die unglaubliche bravourleistung, eine gewisse nötige distanz zu sich selbst aufzubauen: höchst virtuos. aber achtung: mit dichtesten fast 2 stunden auch von kaum aushaltbarer intensität und länge.
FaustIn and out, München: wirklich schleierhaft
Mir wird hier - schon angesichts der Rezension von Willibald Spatz - leider überhaupt nicht klar, inwiefern die Fritzl-Thematik oder ein entwendeter Pudding etwas mit dem Faust-Stoff zu tun haben soll. Wenn ich den Faust in Kurzform beschreiben müsste, würde ich immer sagen, dass es da um den Widerspruch zwischen der Endlichkeit des individuellen Lebens und der Unendlichkeit des Universums und des sich darin spiegelnden menschlichen Geistes geht. Was das mit Kindesmissbrauch zu tun haben soll, bleibt mir wirklich schleierhaft. Aber die Jelinek kommt aus der sex-/gender-Thematik wohl nicht raus.
FaustIn and out, München: unglaubliche Leistung
Ich war heute in der zweiten Aufführung und bin nach wie vor sprachlos ob dieses verstörenden Abends. Was für eine unglaubliche Leistung der beiden Darsteller und der Inszenierung. Noch nie habe ich Frau Minichmayr so zart erlebt, so zerbrechlich. Beim Applaus waren noch die Tränen zu sehen. Und mit Abstand der beste Jelinek-Abend von Simons, der Text schnürt einem regelrecht die Kehle zu. Und ich möchte mich meinem Vorredner anschließen: Was für ein Glück für diese Stadt, dieser einmalige "Faust"-Pakt der beiden wichtigsten Münchner Theaterleute. Sowas gibt es nicht in Hamburg, Berlin oder Wien!
FaustIn and out, München: Devise
Lesen hilft!
FaustIn and out, München: Theater, das wehtut
@Inga: Was auch hilft: Ins Theater gehen und selbst sehen.

Zum Stück:
Theater, das wehtut. Theater, das Relevanz hat. Ich bin froh, dass der Weg aus Stuttgart nach München so kurz ist – denn was hier konstant an Qualität geboten wird, davon können wir unter Weber, nun Petras nur träumen.
FaustIn and out, München: kein Missbrauch bei Goethe
@ 7.: Darum geht's mir doch. Goethe oder Jelinek lesen? Ich erkenne bei Goethe kein Anzeichen des Themas "familiärer Missbrauch". Und den Jelinek-Text kann man natürlich auf der Homepage der Dramatikerin nachlesen. Schon klar.
FausIn and out, München: wie man es auch dreht
Hör, du musst mir die Dirne schaffen. Nun welche? Sie ging just vorbei.
Mann trifft Mädchen. Mann ist von Mädchen fasziniert. Will sie haben. Kriegt sie. Oder nimmt sie sich einfach. Egal. Auf jeden Fall bekommt er seinen Willen. Seinen frei in der Hose baumelnden Willen. Mädchen wird schwanger. Mann verschwindet. Mädchen bringt aus Verzweiflung ihr Kind um und landet dafür im Kerker.

Wie man die Fabel um Faust auch dreht und wendet, es ist beinahe unmöglich, Gretchen dabei als frei handelnde Person zu beschreiben. Sie reagiert. Sie entscheidet aus Abhängigkeiten heraus. Sie ist den Zwängen ihres Standes, Geschlechts und ihres Verhältnisses zum Mann unterworfen.
FaustIn and out, München: Erlebnis
die kluge textfassung verdichtet den text. je länger die inszenierung geht, desto monströser wird sie. die intensität ist gegen ende nur noch schwer auszuhalten. tolle schauspieler machen den abend zu einem erlebnis.
FaustIn and out, München: verfangenes Gretchen
@ icke: Dass Gretchen eine frei handelnde Person ist, hat hier ja auch keiner behauptet. Sie ist - nach und mit Goethe - noch ganz verfangen im traditionellen, meinetwegen auch christlichen, Frauenbild, nach welchem eine Frau dem Willen des Mannes zu gehorchen habe, sich ihm zu schenken habe. Und sei es auch auf Kosten ihrer eigenen sozialen und sexuellen Freiheit. An diesem Punkt setzt dann wohl die Jelinek an.
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