Oper reloaded

von Wolfgang Behrens

Berlin, 1. Februar 2008. "Darum ist TOSCA an der Volksbühne vor allem: keine Oper." Was sich so lesen könnte, wie der letzte Satz eines Verrisses, entstammt in Wirklichkeit dem Besetzungszettel, den man an der Volksbühne zur "Tosca"-Inszenierung von Sebastian Baumgarten in die Hand gedrückt bekommt. Und wenn es da schon steht, dann ist man auch geneigt, es zu glauben: Keine Oper also. 

Doch auch wenn "La Tosca" von Victorien Sardou zuerst und irgendwann einmal ein Schauspiel war, so ist "Tosca" ganz ohne Oper, ohne Puccini nicht zu denken. Und so sitzt denn auch bei Baumgarten ein Orchester auf der Bühne – das Deutsche Filmorchester Babelsberg – und spielt ab und an ein paar Klänge von Puccini.

Ansonsten aber herrscht, wie man meinen könnte, Volksbühnen-Atmosphäre as usual: Eine Drehbühne mit hohem Baugerüst, Videoleinwänden und containerartigen Innenräumen dreht sich. Robert Lippok und Alexander Wolf haben sie gebaut, ihre Herkunft aus dem Geiste Bert Neumanns kann sie aber schwerlich verleugnen. Das Berliner Bandprojekt Tarwater ergänzt die Puccini-Musik um jede Menge sehr gut gemachter elektronischer Grooves, und die acht Schauspieler und Schauspielerinnen geben sich unter Einsatz der vollen Körper- und Stimmkräfte Mühe, eine Mischung aus Castorf-Theater und Operparodie herzustellen.

Überlagerungen, wechselnde Ebenen, große Momente

Damit könnte man es schon bewenden lassen, wenn ... ja, wenn dieser eingangs zitierte Satz auf dem Besetzungszettel nicht eine faustdicke Lüge wäre. Denn inmitten aller Parodie, Weiterschreibung und Überlagerung gibt es in dieser Inszenierung immer wieder Momente, die nichts anderes sind als: große Oper. Da ist etwa Kathrin Angerer als Operndiva Tosca. Eine Traumbesetzung, weil Angerer die Volksbühnen-Diva schlechthin ist.

Wenn sie im Glitzerkleidchen über die Bühne stöckelt, stöckeln alle ihre früheren Auftritte an diesem Ort gleich mit. Wenn sie sich vor einer Videoinstallation ihres Geliebten Mario aufbaut, die nicht sie, sondern eine andere Frau zeigt, dann spielt sie nicht einfach eine Eifersüchtige: Nein, sie nölt und posiert wie eine, die eine Frau spielt, die eine Eifersüchtige spielt. Kathrin Angerer ist die Königin der Uneigentlichkeit. Und damit der Oper ganz nah.

Betende, singende, furiose Kathi Angerer

Diese Tosca wird später in einer Abendgesellschaft dazu aufgefordert, etwas von ihrer Gesangskunst zum Besten zu geben. Kathrin Angerer ergreift einen Muff, spuckt einen Schwall Blut, beginnt zu frieren und piepst mehr, als dass sie singt, eine Arie der Mimi aus "La Bohème". Unversehens wird die Oper in der Oper zum Vexierbild: Ist die Angerer als Tosca immer ein zickiger Ausbund an Ironie, so scheint sie als Mimi, als Rolle in der Rolle, plötzlich ganz bei sich. Als bedürfe Tosca des Spiels, um über das Spiel hinauszukommen. Ein Opernparadox. Ein Opernmoment.

Und dann ist da noch Mario Cavaradossi, auf dessen Tenorarie "E lucevan le stelle" ("Und es blitzten die Sterne") zu Beginn des dritten Aktes jedes Opernpublikum der Welt hinfiebert. Lars Rudolph ist nicht der Mann, dieses Gelüste zu bedienen, er ist alles andere als ein Belcanto-Tenor: Er gibt den Cavaradossi – mal schreiend, mal quengelnd – als genialischen Künstler mit fast kindischen Zügen, immer mit einem Hang zur schrillen Hysterie. Und dennoch – oder gerade deswegen – gerät "E lucevan le stelle" zum Höhepunkt des Abends. Indem Lars Rudolph diese Arie zur Orchesterbegleitung nicht singt. Sondern wimmert. Und fiept.

Im Gesang steckt der Kampf ums nackte Überleben 

In seiner Containerzelle sitzend, Cavaradossi erwartet hier seine Hinrichtung, entringen sich seiner Kehle erbärmliche Laute, und in einer traumhaft schönen schwarz-weißen Videoprojektion (die äußerst starken Eindruck hinterlassenden Videos stammen von Chris Kondek) sehen wir Rudolph gleichzeitig, wie er – nur mit einer weißen Feinripp-Unterhose bekleidet – im luftleeren Raum oder in einer Fruchtblase zu schwimmen scheint. Es geht ums nackte Leben. Diese so einfache wie eindringliche Botschaft machen Baumgarten und Rudolph hinter dem Wunschkonzert-Schlager völlig unerwartet neu hör- und sichtbar. Mögen die Beipackzettel auch anderes behaupten – wegen solcher Momente ist die neue "Tosca" an der Volksbühne vor allem eines: Oper. Vieles andere natürlich auch. Doch das ist im Grunde nicht der Rede wert.


Tosca
nach Victorien Sardou
Musik von Tarwater und Giacomo Puccini
Regie: Sebastian Baumgarten, musikalische Leitung: Max Renne, Bühne: Robert Lippok und Alexander Wolf, Kostüme: Ellen Hofmann, Video: Chris Kondek.
Mit: Kathrin Angerer, Lars Rudolph, Thorsten Merten, Werner Eng, Norbert Stöß, Frank Büttner, Trystan Pütter, Angie Reed, Steffi Zimmermann und dem Deutschen Filmorchester Babelsberg.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau 

In der Berliner Zeitung (4.2.2008) behauptet der Musikkritiker Wolfgang Fuhrmann, man gehe gern in die Oper, "weil es da so schöne Musik gibt". Aber manchmal, bekennt er, "kann man sich in der Oper eben auch eingesperrt fühlen. Zu wissen, dass man sich jetzt in Takt 50 befindet und noch ungefähr 238 weitere Takte bis zur Pause folgen werden, und zwar einer auf den anderen, wie es sich gehört, ohne dass jemand zwischendurch frische Luft hereinlässt, das erzeugt mitunter schon eine gewisse Klaustrophobie". Was immer sich nun über Baumgartens Inszenierung sagen lasse, "beengt und Takt für Takt" gehe sie nicht vor. Nein, das sei kein missratener Abend: "Dazu navigiert er vor allem in seiner zweiten Hälfte viel zu gekonnt zwischen Postdramatik, Kletter- und Kreischorgien und Oper. Oper, mit einem Ensemble, in dem kein einziger Mensch richtig Oper singen kann? Jawohl, Oper. Und zwar Oper so ergreifend und wahrhaftig, wie man sie nur je auf einer Berliner Bühne erlebt hat."

Kirsten Harms
, Intendantin der Deutschen Oper zu Berlin, hat sich den Abend auch angesehen und wird zwei Tage später in der Berliner Zeitung (6.2.2008) erstmal grundsätzlich. Ob Berlin mehr Oper brauche? "Unbedingt." Denn sie, die Oper, "hat etwas Wesentliches ins neue Jahrtausend hinübergerettet: die lineare Erzählung, die Lust am Pathos, die Sehnsucht nach Schönheit". Und unter dieser Maßgabe weiß sie Baumgartens Inszenierung nur zu loben, wobei ihr die Frage "reizvoll scheint", "ob Baumgarten dabei eher das Schauspiel oder die Oper parodiert".

In der FA Sonntagszeitung (3.2.2008) klärt Max Glauner auf, dass die Musik hier Material sei. "Wo früher der Roman zur Rettung des Theaters angepriesen wurde, ist es heute die große Oper." Nach Wagners "Meistersingern" folge an der Volksbühne Puccinis "Tosca" als Versuchsanordnung: "Großes Orchester auf den Brettern, Videoprojektionen von Chris Kondek, Baugerüste à la Jason Rhodes auf der Drehbühne und Schauspieler, die erst gar nicht versuchen, richtig gut zu singen." Das würde aber den Charme eines solchen Abends ausmachen. "Als Spießer komme Lars Rudolph doppelt witzig rüber." Ja, und Kathrin Angerer sei "unvergleichlich". Aber, aber: "Das reicht für einen ganzen Abend nicht aus." Und Glauner empfiehlt dann lieber Angie Reeds letztes Album "XYZ Frequency" und die "Tosca"-Einspielung mit Maria Callas 1953 in der Mailänder Scala.

"Bleibt doch alles hübsch im ideologischen Rahmen", bekundet Opernkritikerin Christine Lemke-Matwey im Tagesspiegel (3.2.2008): "das Wildern in der Oper, das Ausweiden fremder Genres und auch die handelsüblichen Dekonstruktionsweisen des szenischen 'Materials'". Sebastian Baumgarten würde "Tosca" neu auffädeln, "und es kommt eigentlich ein ganz gemütlicher, mal mit mehr, mal mit weniger Appetit an seinen eigenen Knöchlein nagender Abend dabei heraus." Die Behauptung des Abends allerdings, "die Kunst habe nichts mehr auszurichten, der Künstler treibe haltlos und vollkommen unnütz durch die heutigen Welten", diese Behauptung "verfängt nicht", so Lemke-Matwey: "nicht im Skelett der Stückfabel, nicht in der brausenden Theatermaschinerie, die aufgeboten wird, um sämtliche Zeiten, Räume und Ästhetiken zu atomisieren. Wer derart virtuos in die Registerkiste greift, tut dies mit kalter Hand. Könnte das unser Problem sein?"

Aus Sicht von Ulrich Gutmair in der taz (4.2.2008) beweist Sebastian Baumgarten mit seiner Inszenierung "wie viel produktiver es ist, die Oper vom Theater her zu denken". Denn normalerweise werde die Oper als Genre jedem halbwegs ästhetisch denkenden Menschen verleidet. Der Abend an der Volksbühne habe seine Schwächen, wozu der Rezensent auch die Theorieberge zählt, die Baumgarten überflüssigerweise auf die Bühne gehievt hat. Insgesamt aber hat Baumgarten aus Gutmairs Sicht eigentlich fast alles richtig gemacht. "Erstens hat er sich von Robert Lippok und Alexander Wolf eine grandiose Bühne bauen lassen". Aber auch der Tarwater-Song, den Frau Tosca am Ende singt, lässt ihn begeistert seufzen: "Das ist glamouröser Pop und großes Theater".

 

Kommentare  
Tosca: einwandfreie Besprechung
Einwandfreie Besprechung von Herrn Behrens, quasi. In der Tat gab es einige Höhepunkte an diesem ansonsten "usual" Theaterabend. Dabei erlaube ich mir, gerade die Schlusssequenz hervorzuheben, in der Angerer berührend sang und Angerer-Double anmutig fiel / segelte. Auch meiner Ansicht nach geriet der Beginn der Aufführung ein wenig schleppend durch die versatzstückhafte Einfügung von medial gepuschten Themen der Gegenwart, wie z.B. das Waterboarding, die Kardinals-Rede. Andererseits empfand ich gerade die Talk-Show mit Flora-Diva als gelungen. Und was für ein Aufwand, das gesamte Filmorchester auf die Bühne zu drapieren! Alles in allem interessant und überwiegend positiv.
Tosca: Viel Interessantes, viel Quark
Interessant, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung titelt "Puccini reloaded". Die Reanimation der Oper aus dem Geiste des Films, könnte man sagen, um eine andere bliebte Phrase aus dem Feuilleton zu zitieren. Ansonsten ist dem Behrens beizustimmen, daß es ein gemischter Abend war: Viel Interessantes, aber auch viel alter Volksbühnen-Quark.
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