Volk oder nicht Volk

von Esther Slevogt

Berlin, 1. Februar 2008. Zuerst also Thomas. Thomas ist einundfünfzig und Erhebungsbeauftragter. Er tritt vor das Publikum und macht kurz mit dem Prinzip des Abends bekannt, der sich vorgenommen hat, ein statistisches Abbild Berlins auf die Bühne zu bringen. Deshalb steht Thomas hier stellvertretend für genau 34.000 Berliner. Mal hundert macht dreimillionenvierhunderttausend.

Nach und nach kommen dann die restlichen 99 Prozent Berlin ins Bild, stellen sich jeweils einzeln vor und erklären, welche Gruppe sie in der Bevölkerungsstatistik repräsentieren. Jeder hat ein Requisit dabei, das ihn als Individuum markiert, ein Spielzeug, Kleidungsstück oder Haustier. Ganz selten gibt es auch eine kleine Geschichte dazu, zum Beispiel von Jürgen, der sich seit 35 Jahren mit dem gleichen Stück Seife wäscht. Dem gleichen wohlgemerkt, nicht demselben.

Echt inszeniert

Vorsichtshalber steht der Text auch noch gegenüber über dem ersten Rang auf einer Art Teleprompter. Falls jemand vor Schreck vergessen haben sollte, wer er ist, auf dass das sorgfältig choreografierte Gruppenbild durch solche Unwägbarkeiten nicht auseinanderfällt. Denn die hundert Menschen, die Rimini-Protokoll hier als Durchschnittsberliner auf die Bühne gebracht hat, sind wie immer bühnenunerfahrene Laien. Berliner mit Authentizitätsgarantie.

Doch auch Echtheit will inszeniert sein. Am Ende haben die hundert Berliner dann die grün ausgeschlagene Drehbühne hübsch mit ihren Körpern eingerahmt. U-Bahngeräusche untermalen die Szene. Gefilmt und auf kreisförmige Flächen neben der Bühne projiziert, sieht das Ganze schließlich wie eine animierte statistische Grafik aus.

"Hundert Prozent Berlin" heißt der Abend, wobei die Zahl hundert eigentlich aus einem anderen Kontext stammt. Vor hundert Jahren nämlich baute der berühmte Theaterarchitekt Oskar Kaufmann, der unter anderem auch die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und das Renaissance-Theater entwarf, das Hebbeltheater an der Stresemannstraße. Seit ein paar Jahren ist es dem Theaterkombinat HAU einverleibt, dem nun das Jubiläum ein guter Anlass war, mal wieder allerlei Prominenz ins Haus zu holen, wo ansonsten die Produktionen oft im Dreitage-Turnus durch den Spielplan jagen und sich so etwas wie ein Gedächtnis im Grunde gar nicht erst einstellen kann.

Ich nicht

So kam es, dass in der ersten Reihe samt seines First Husband der Regierende Bürgermeister saß, welcher kurz vorher noch selbst zwecks kurzer Festansprache auf der Bühne gestanden hatte, und nun vorgeführt bekam, was seine Berliner so denken. Die Repräsentationsberliner auf der Bühne nämlich wurden mit allerlei Fragen konfrontiert und konnten sich dann entsprechend unter den Schilder "Ich" bzw. "Ich nicht" gruppieren oder später auch mit farbigen Tafeln jeweils ein optisches Meinungsbild produzieren. Nach einiger Zeit wurde das Gruppenbild live von der Berliner Klezmerformation "Di Grine Kusine" mit heimatlichen Klängen untermalt.

Und so erfuhr dann der Bürgermeister (und der Rest des Publikums natürlich auch), dass seit 1989 nur sechs Prozent vom Westteil in den Ostteil der Stadt gezogen sind, in umgekehrter Richtung gar nur vier; wie viele in einer Partei oder Kirche organisiert sind, oder in Berlin begraben sein wollen. Es wurde nach Träumen und Ängsten gefragt, nach Hobbys und politischem Engagement. Und weil überdurchschnittlich viele in einem Chor sangen, wurde zwischendurch auch mal ein Kirchenlied angestimmt: "Komm, lindere meine Not/ sonst wünsch' ich mir den Tod". 

Vom Teleprompter ferngesteuert

Ganz davon angesehen, dass es von begrenztem theatralischen Schauwert ist, wenn sich eine Hundertschaft in wechselnden Konstellationen immer von rechts nach links bewegt, kam der Abend von und für echte Berliner und ihren echten Bürgermeister über das Anekdotische kaum hinaus. Auch beschlichen einen beim Zuschauen angesichts der Prominenz aus Politik und Kultur im Saal und der so genannten normalen Berliner, die da auf der Bühne, vom Teleprompter ferngesteuert, das "Volk" zu spielen hatten, doch etwas zwiespältige Gefühle, einer leicht feudalistisch gefärbten Veranstaltung beizuwohnen, wo die Herrschenden sich mal vorführen lassen, was das Volk so denkt und auch noch herzhaft darüber lachen dürfen. Eigentlich wäre nur logisch, wenn Rimini-Protokoll für diesen Abend den BZ-Kulturpreis bekommen würde.

So richtig schön wurde es erst, als dann nach 22.30 Uhr der Abend in Karaoke-Seligkeit versank. Der Bürgermeister war längst gegangen. Auf der Bühne saß nun das von Jan Dvorak dirigierte RIAS Jugendorchester. Matthias von Hartz, der sich dieses Karaoke-Spektakel ausgedacht hatte, und seine Moderatorin Susanne Sachsse holten die Zuschauer zum Schlagersingen mit Orchesterbegleitung auf die Bühne. Volk oder nicht Volk, war nun nicht mehr die Frage. Man musste nicht mal singen können, um hier frenetisch gefeiert zu werden.

 

100 Prozent Berlin
von Rimini Protokoll
Konzept, Idee, Realisation: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel, Bühne: Mascha Mazur, Recherche und Dramaturgie: Cornelius Puschke, Live-Musik: Di Grine Kusine.
Mit hundert BerlinerInnen.

http://www.hebbel-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist öde und aufregend zugleich," konstatiert Petra Kohse in der Frankfurter Rundschau (4.2.2008) "Der Pfeifenraucher aus dem Osten, das Westkind mit dem Ballettröckchen, der Schwarze mit den Turnschuhen, die Asiatin mit dem Tempelorakel, das schwule Ehepaar. Sie formieren sich zum Kreis und bilden dann Ja- oder Nein-Gruppen zu Fragen wie: Wer ist glücklich? Wer fährt schwarz? Wer will mehr Geld von Berlin? (Viele. Aber der Regierende Bürgermeister in Reihe A schüttelt grinsend den Kopf...) – ein lebendes Schaubild, dem man bei der Meinungsbildung zusehen kann (...) Die da oben sind ehrlich und hebeln mit Fragen, auf deren Auswertung politisch sicher keinen Wert gelegt wird, die Statistik aus, indem sie sie betreiben."

Doris Meierhenrich
berichtet in der Berliner Zeitung (4.2.2008), dass Rimini Protokoll den "Streit zwischen Präsenz- und Repräsentationstheater" diesmal "ganz wörtlich" genommen haben: "Sie holten nach streng statistischem Proporz 100 Berliner auf die Bühne. (...) Und so standen die Hundert im Drehbühnenkreis und wurden im Hintergrund als lebendiger Inhalt einer Prozenttorte projiziert." Weil die Riminis aber "Alltagsforscher" seien, unterwanderten sie ihre statistische Strenge bald mit allerlei persönlichen Fragen". Und "dass dabei eher Willkür herrschte als Statistik, wurde sehr bald klar und hier nun war es eine Erlösung, dass sich ein Ganzes zerlegte in hundert Teile". Im übrigen weiß Meierhenrich den Beitrag von Matthias von Hartz zur 100-Jahr-Feier des Hebbel-Theaters sehr zu loben: Dessen "Orchesterkaraoke" sei herrlich "anarchisch loriothaftes Agitprop-Theater" gewesen.

In der FAS, der Sonntagszeitung der FAZ (3.2.2008), hätte Meike Hauck den Taxifahrer, der sie ins HAU fuhr und erzählte, "dass er Berlin gar nicht so gut kenne", am liebsten gleich mit ins Theater genommen. "Aber die BVG streikte, und er musste weiter." Det is eben Berlin. Dass sich die 100 Berlin-Repräsentanten bei jeder Frage dafür entscheiden mussten, ob sie sich hinter dem Schild "Ich" oder "Ich nicht" aufstellen, war "ein großes Gewusel" und "die Ergebnisse ... waren nur teilweise verblüffend. Nur eine Person traute sich zu, die Welt zu regieren, eine recht große Gruppe dagegen fand, Pädophilie solle mit der Todesstrafe bestraft werden." Leider sei die Frage nach der Todesstrafe auch die einzig provokante Frage gewesen, schreibt Hauck. Fazit: "Statistiken sind eben nur Statistiken" und "ein Stimmungsbild der durchschnittlichen Meinung zu brisanten und privaten Themen bot der gutlaunige Abend nicht."

"Menschen", heißt es von Patrick Wildermann im Tagesspiegel (3.2.2008), "wollen nie bloß Ziffern sein. Und werden trotzdem ständig in Torten- und Blockdiagramme gepresst". Mit diesem Umstand spiele Rimini Protokoll in "100 Prozent Berlin". Die Zahlen würden mit Gesicht auftreten, einhundert Berliner, die nach den Kriterien Geschlecht, Alter, Familienstand, Herkunft und Wohnbezirk die Stadt repräsentieren. Man staune an diesem Abend, was man über seine Mitbürger erfährt. "Wieviele schon mal ein Leben gerettet haben. Wie wenige schwarzfahren. Das Ganze hat den Charme eines ausgedehnten Wahrheit- oder Pflicht-Spiels, aber eben Charme. Was für ein formidables Geschenk: Die ganze Stadt auf der Bühne." Danach gab’s zur Feier des Tages Karaokeparty und Freigetränke, "und wer weiß, vielleicht hat irgendwer am Morgen die leeren Flaschen gezählt."

Kommentare  
100 Prozent Berlin: Man wird man zum Denken gezwungen
Sehr gehrte Frau Slevogt,
was will denn nun die TAZ und was wollen Sie? Was soll in dieser Stadt geschehen, damit Sie und die TAZ glücklich werden? Ich weiß es nicht! Immer wird rumgemausert. Aber damit finden wir uns ja ab, denn wir wissen, man kann sie einfach nicht glücklich machen, diese Nach68erInnen!
Warum aber sprechen Sie von den Zuschauern. Sie meinen sich oder haben Sie die anderen gefragt? Mich nicht. Ich fand diesen Abend sehr authentisch. Da stehen 100 BerlinerInnen auf der Bühne. Manch einer hat etwas zu sagen, ein anderer halt nicht. So ist es halt in einer Gemeinschaft und das ist es, was dieser Abend aus meiner Sicht zeigt. Mehr habe ich nicht erwartet und das ist schon sehr viel. RIMINI schafft es immer wieder und das ist der Verdienst, Realitäten auf die Bühne zu bringen. Unsere Realität ist diese Stadt und es sind die Menschen dieser Stadt und es ist faszinierend, 100 von ihnen auf der Bühne zu sehen. Es werden Fragen gestellt und sie ordnen sich immer wieder einer oder später unterschiedlichen Antworten zu. Damit geben sie statistisch gesehen Antworten, die in dieser Stadt vorherrschen. Aber Vorsicht! Und das zeigt dieser Abend. Die Statistik trügt! Mir gelang es, einige der 100 Menschen an diesem Abend zu beobachten und an ihren Entscheidungsfindungen teilzunehmen. Das war ein spannender Prozess. Manchmal war ich betroffen, dann wieder konnte ich mich amüsieren. So ist es halt an einem Abend, der mit Meinungen des Einzelnen spielt. Es gelingt dem einen oder anderen, sich zu outen. Ich habe Angst vor Frauen. Das sind immerhin 2% und im Saal lachen die Zuschauer. Das passiert immer wieder. Wer hat schon einmal/ heute Abend gelogen? Wer kann sich vorstellen, die Stadt/ die Welt zu regieren? Nicht outen kann man sich hier in diesem Saal, wenn es darum geht, ob man eine tolerante Stadt will. Da stehen alle auf der richtigen Seite. Wo bleiben da aber die 4%, die die Neonazis wählen? So bleibt dieser Abend immer wieder spannend. Wer ist ehrlich und wann ist er/ sie ehrlich. Frau Slevogt, haben Sie nicht gemerkt, dass es RIMINI um solche Absichten gehen könnte? Als Zuschauer wird man gezwungen zu denken!!!
Ihre Meinung über den zweiten Teil des Premiereabends war bestimmt ein wenig ironisch (!) gemeint. Mir blieb dieser Teil zum Glück erspart!
Abschließend zum HAU. Sie schreiben: "Seit ein paar Jahren ist es (das Hebbeltheater) dem Theaterkombinat HAU einverleibt, dem nun das Jubiläum ein guter Anlass war, mal wieder allerlei Prominenz ins Haus zu holen, wo ansonsten die Produktionen oft im Dreitage-Turnus durch den Spielplan jagen und sich so etwas wie ein Gedächtnis im Grunde gar nicht erst einstellen kann." Dieses Fazit kann nur einer absoluten Blödheit entspringen und ich möchte mich für meine Meinung bei Ihnen entschuldigen, aber ich kann es nicht anders deuten. Man kann solch ein Urteil von der FAZ erwarten, aber doch nicht von Ihnen, dachte ich immer! Steht die TAZ nun auf dem Kopf oder ist es die Nähe zu Springerstraße, die Ihnen alle Hirnzellen verklebt? DANKE, Frau Slevogt. Nun weiß ich, was ich nicht mehr lesen möchte.
Ich habe es gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Da sind mir FAZ, ND oder Welt dann lieber, weil ich weiß, wie ich es einordnen, ignorieren oder werten kann. Von Ihnen erwarte ich, nicht zwischen den Zeilen lesen zu müssen.
Aber Jamaika ruft und lag schon immer in der Nähe der Toskana oder irre ich mich?
100 Prozent Berlin: Teleprompter als Handlungserinnerung
Die gelenkte Echtheit finde ich wirklich interessant, denn ich verstehe die Telepromter als Handlungserinnerungen, die sich sicherlich aus den wenigen kompletten Proben ergeben haben. Warum gibt es nie ein Verständnis für den Prozess des Theaters? Theater ist doch nicht nur ein Produkt?
100 Prozent Berlin: Rimini, weiter so
Du hast Recht Christoph, gerade diesen Prozess, einen Abend mit Menschen zu machen, habe ich genossen. Das ist es doch, wirklich interessant für den Kulturbürger waren zwei oder drei Leute, aber das ist es doch nicht. Authentisch ist so ein Abend, der sich aus der Alltäglichkeit speist. RIMINI, weiter so.
Rimini: an Olaf - echt authentisch
Lieber Olaf,
Schreib doch mal einen Fanbrief an Rimini Protokoll.
Hast du schon mal (ganz zufällig...) etwas davon gehört, dass die Aufführung beim Zuschauer entsteht? Und deshalb jeder etwas anderes sieht/denkt/fühlt ????? Was ist denn deine Meinung zu Pluralismus? Oder bastelst du dir dein Weltbild aus Fetzen von Theaterkonzepten, und deren theaterwissenschaftlicher Rezeption, die, wohlgemerkt, von dir so NICHT ZUERST gedacht wurden??
Aber man, die Riminis sind schon echt authentisch, was? Die packen einen ja so voll an der Selbstwahrnehmung, dass man denkt, so was ist noch niiiieemals dagewesen. Ist echt schon beinah fast ein Hype, nicht wahr? Da geht man mit vollkommen geöffneten Augen durch die Welt, und sieht überall ganz neue Dinge: authentische Menschen, und solche die es werden wollen, und den Zusammenhang des Systems, und wie die Realität funktioniert, und dass wir sie konstruieren. Und am besten will man sofort dazu seine Meinung loswerden. Voll krass man.
Rimini: die Laien sind der Clou
Grundsätzlich ist klar, dass Theater durch eine leibliche Korpräsenz entsteht (und das ist nicht erst durch Fischer-Lichte oder Goffman so beschrieben) und damit ist anscheindend das Theater von Rimini Protokoll nichts besonderes, wenn man einfach eine Schablone überstülpt.
Es ist aber was vollkommen anderes, weil da Laien auf der Bühne stehen, die eben von sich erzählen, nicht eine Rolle spielen, sonderen eben einen Teil von sich spielen, also repräsentieren. Das ist der vermeintliche Clou und gerade in 100 PROZENT hat das eine neue Qualität erreicht, weil eben nicht so lange probiert wurde (Theater ist ja als Prozess zu denken), sondern eben Menschen mit ihren Fragen auf der Bühne sind und mich (und auch die anderen gut unterhalten, warum hat es so einen tosenden Applaus gegeben) ... - _X_, du darfst ruhig Rimini nicht mögen, aber es ist peinlich, wenn du andere beleidigst.
Rimini Protokoll: Wir bleiben am besten sachlich
Ich hatte eher den eindruck, den anfang mit beleidigungen hätte hier olaf gemacht. P.S.: Seid ihr eine Sekte?
Das Theater von R.P. ist natürlich auch unabhängig von der leiblichen kopräsenz eine besonderheit (wie lustig, dass das die gleichen initialien wie von rene pollesch sind). aber generell ist es naiv und unreflektiert, da einseitig betrachtet, derart zu argumentieren, R.P. wäre 100%ig neu. prinzipiell ist alles neu und nichts wiederholt sich. du weißt aber sicher auch, dass es viele möglichkeiten gibt, theaterhistorisch zu argumentieren, dass das ästhetische konzept r.p.s NICHT vollkommen neu ist, sondern im theater des 21 jh. (sagen wir besser in der etwas bekannteren deutschen theaterszene) lediglich eine besondere stellung einnimmt. (Und das ist schon sehr viel!) Es ist relativ leicht erkennbar, dass das zum beispiel darauf zurückgeführt werden kann, dass im hier und jetzt der alltag einer ständigen inszenierung unterliegt und deshalb das natürliche auf dem theater wieder eine besonderheit sein kann, authentisch wirken kann, weil unsere vorstellungen von authentizität sich geändert haben. Und bitte: Die Aufführung WIRKT authentisch, weder ist sie es selbst, noch die Laien. nichts auf dem theater ist irgendwie, erst recht, wenn das theater kein schein sein will, spielt es mit der vorstellung von schein, der wirkung und seinem rahmen. und menschen mit einer anderen weltwahrnhemung (ein großes wort) entnehmen der aufführung sicherlich etwas ganz anderes. im prinzip gehst du r.p. auf den leim, weil du offensichtlich ein derart von inszenierung geprägtes wirklichkeitsverständnis hast, das dazu führt, dass du "normale" menschen nicht als normal, sondern als wahnsinnig authentisch betrachtest.
theater ist immer unter dem vorzeichen der subjektiven wahrnehmung zu denken. aber die fußnoten lassen wir weg, wir wollen ja keine hausarbeiten hier schreiben, gell?
ich finde, eine mischung aus polemik, erinnerungsprotokoll und theaterwissenschaftlichen theoriekonzepten auf basis eines einfachen meinungsmitteilungsbedürfnisses, wie das hier stattfindet, ist definitiv ungelungen.
nochmal zu r.p.: es gibt sehr viele off-gruppen, die ähnliche konzepte vertreten, das könnte man vielleicht berücksichtigen. außerdem repräsentieren die laien nicht, sondern sie präsentieren, sonst würden sie ja wieder spielen und nicht scheinbar "sein"(sic!). Wenn r.p. wirklich "die anderen" unterhalten: ach wie schade, da sollten wir ja echt mal wieder fernsehen, wer weiß, was das für einen effekt hätte?
Christoph, übrigens mag ich rimini protokoll, ich mag nur einheitsmeinungen, und menschen, die meinen, sie hätten das theater verstanden, nicht. aber nichts für ungut, wir bleiben am besten sachlich, oder?
Rimini: jemand zu sein, der man ist, ist keine Kunst
rimini protokoll = performativ = kein Theater, weil anderer anspruch also scheiß auf die "sein" diskussion, denn jemand zu sein der man auch wirklich ist, ist keine Kunst. Sicher ist es eine frage der authentizität, die 100 Menschen auch auf der Bühne bewahren. Aber sie sind Teil eines Konzepts und keine Schauspieler.
Rimini News: Hört Meese
Ihr geht mir auf die Nerven! Blöde Selbstverwirklicher! Hört Meese und haltet den Mund!
Rimini: Get a Life!
"Angewandte Theaterwissenschaften"...was für ein hirnverbrannter Mumpitz. Fortschreitende Verblödung. Wo, außer in Deutschland, gibt es so einen atemberaubenden Schwachsinn?! Rimini/Gießen/Dramaturgentheatervollstrecker mit Korken im Arsch: GO GET A LIFE! Da fällt einem doch nichts mehr ein, außer: "So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden...Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden..." Fritze,...Du hast es besser...Armes Deutschland!
100 Prozent Berlin: gelenkte Authentizitzät
Ich finde dass Frau Slevogt das sehr gut beschreibt - es ist tatsächlich so, dass bei Rimini sich eine etwas seltsam feudale theaterhaltung einstellt, wir schauen dem "echten" Volk zu, wie es sich auf unserer bürgerlichen Bühne verhält, das finden wir interessant, das macht uns betroffen. Es ist die kulturbürgerliche Variante zu Bertelsmann TV, die sich mit DSDS und Big Brother ebenfalls diesen Reiz an den echten, authentischen "Menschen" nicht nehmen lassen wollen - in beiden Fällen ist die Echtheit gelenkt, gibt aber so etwas wie Authentizität" vor - ich sehe da einfach Laiendarsteller ihrer selbst - genauso wie Schauspieler mit dem Ich-bin-ganz-bei-mir-und-weine-echt- Anspruch ja auch vorgeben, sie selbst zu sein auf der Bühne, so geben auch Rimini vor, dass ihre Riminimenschen "echt" seinen - in beiden Fällen (Rimini und RTL/ Dieter Bohlen) wird diese ungebrochene Sehnsucht nach Echtheit bedient. In einer Kritik über Onkel Wanja schrieb übrigens Eva Behrend, dass Onkel Wanja so unglaublich schön sei, weil Ulli Matthes am Ende "echte Tränen" vergiesse, dieser Moment sei der Höhepunkt in einer Inszenierung, die in dreieinhalb Stunden "echtes Leben" zeigen würde. Weiß Frau Behrend, dass der Ulli nicht wirklich weint, sondern diese Träne über schauspielerische Mittel herstellt? Weiß sie das wirklich nicht? Ist sie wirklich auf dem selben Niveau wie ein RTL Zuschauer, der glaubt, die Tränen der Big Brother Insassen seien "total echt"? Aber viel interessanter: Wieso will Eva Behrend unbedingt, dass Ulli Matthes weint und wieso ist das für sie "das echte Leben?" Wie wenig Medienkompetenz haben Theaterkritiker?
Jonathan Meese hat etwas zu sagen
Lieber X,
so verschieden denken wir nicht. Es geht doch nicht um das absolut Neue. Alles, so stellt Meese fest, war schon einmal da. Alles wäre dann doch nur nostalgischer Mist. Darum lasst uns übr alles, was uns anspringt, auch wenn es schon einmal dagewesen ist,reden. Ich habe Frage und stelle diese. Ich mag keine Besserwisser. Und ich mag es, mich in einer gewissen Demut der Kunst hinzugeben, ohne dass es eine Anbetung ist.
War am Sonntag in der Berliner Lektion von Meese. Irgendwann sollte ein ganz Schlauer seine Dissertation darüber schreiben, ohne Scheiß, das bringt es vielleicht. Ich will keinen Götzendienst und Meese dient mir nicht als Guru, aber er hat etwas zu sagen. Hören wir zu. Hören wir alle zu, die etwas zu sagen haben.
Rimini Protokoll: Amen.
Na klar,
Amen.
100 % Berlin Reloaded: lauter, bunter, diverser
Knapp die Hälfte der Teilnehmer*innen aus dem Jahr 2008 sind auch bei der "Reloaded"-Version wieder dabei, die gestern im HAU Premiere hatte. Ein Running Gag des Abends ist, wie schwer sich das Rimini Protokoll-Recherche-Team tat, die nötige Zahl von Spandauer*innen zu finden.

Das Spannendste an dem Projekt ist die Frage, wie sich die Stadt verändert hat: sie ist voller, lauter, bunter, diverser, aber vor allem auch teurer geworden. Die Explosion der Mietpreise wird an mehreren Stellen angesprochen. Hier hat der Abend aber auch eine Chance verschenkt: Die „Reloaded“-Version des „100 % Berlin“-Formats, das im vergangenen Jahrzehnt auch in zahlreichen Städten adaptiert wurde, springt revuehaft von Fragerunde zu Fragerunde. Die 100 Minuten sind unterhaltsam, aber für tiefschürfendere Analysen bleibt wenig Raum. Die zentrale Frage, was sich in den 12 Jahren in der Stadt verändert hat, wird oft nur gestreift.

So bleibt auch nach der Neuauflage wie schon nach der Premiere das Fazit: eine spannende Idee, aus der man aber noch mehr machen könnte als einen amüsanten Abend mit begrenztem Erkenntnisgewinn, wenn noch mehr Parallelen gezogen würden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/10/100-berlin-reloaded-rimini-protokoll-kritik/
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