Die Sache mit der Praxis. Doing theatre und die digitale Lebenswelt

von Ulf Otto

Leipzig, 3. Juli 2014. Die Theaterwissenschaft ist keine Theorie des Theaters. Einerseits, weil sie selbst eine Praxis ist und nicht aus Theoremen, sondern aus Praktiken besteht: aus Praktiken des Schauens, Schreibens, Sammelns, aber auch Probierens und Präsentierens; andererseits, weil das Theater, als Praxis verstanden, nicht im Theater aufhört: theatrale Praktiken finden sich auch dort, wo kein Theater ist, und das, was Theater ist, setzt sich aus immer wieder anderen Praktiken zusammen. Wie gespielt und wie geforscht wird, das wissenschaftliche und das theatrale Tun, bleiben nicht gleich und sind nicht voneinander unabhängig, sie stehen in einem vielfältigen Wechselverhältnis, das sich zurzeit wieder einmal im Wandel zu befinden scheint.

Denn nachdem für einige Jahrzehnte das Schauen von Theater im Mittelpunkt der Wissenschaft stand, lässt sich derzeit ein verstärktes Interesse am Machen von Theater beobachten. In Hildesheim beispielsweise sind es die Prozesse des Probens und Inszenierens, in München Tätigkeiten des globalen Vermittelns, Verkaufens, Verbreitens von Theater, in Berlin die Arbeitsformen angewandten Theaters, die zur Untersuchung stehen. Anders als ältere positivistische oder soziologische Untersuchungen zur Produktionsästhetik nehmen die neuen Forschungsansätze gerade die gegenseitige Bedingtheit von ästhetischen und scheinbar außerästhetischen – organisatorischen, ökonomischen, pädagogischen – Praktiken in den Blick. Die vorwiegende Fokussierung der Theaterwissenschaft auf die Aufführung und die Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Zuschauern relativiert sich – auch deshalb vielleicht, weil das Theater selbst immer häufiger über die Aufführung hinausgreift.

right of passage 560a sarahhuettenberend uDigital inspirierte Kunst des Mitmachens: "Right of Passage" von der Hildesheimer Adventure-Theatergruppe machina eX © Sarah Hüttenberend

Diese neue Perspektive auf die Produktion von Theater findet sich insofern in einer zeitgenössischen Theaterpraxis wieder, die Theater ihrerseits immer häufiger als etwas begreift, das nicht geschaut, sondern gemacht wird. In der Begrifflichkeit und der Erfahrungswelt des Theaters scheint das Erlebnis des Sehens zugunsten der Erfahrung des Machens zurückzutreten. Drei maßgebliche Tendenzen neuer Theaterformen scheinen dazu beizutragen:

1. Deprofessionalisierung: Mit den Auftritten von Amateuren treten szenisches Spiel und kollektive Arbeitsprozesse jenseits professioneller Schauspielkunst als Thema des Theaters hervor (vgl. zuletzt die Diskussion über Jerome Bels "Disabled Theater").

2. Despektakularisierung: In vielen interaktiven und partizipativen Formaten begrenzt sich Rezeption nicht mehr aufs Sehen und Gesehen-Werden, sondern fordert vielfältiges Eingehen und Umgehen mit Menschen und Maschinen heraus (vgl. neben div. "Walks" bspw. die Projekte von Signa).

3. Delimitierung: Mit dem Hinausgehen über einen zeiträumlich begrenzten Ereignisraum zugunsten einer verteilten und vernetzten Öffentlichkeit wird zunehmend deutlich, dass unterschiedlichste mediale Praktiken an der Produktion von Theater beteiligt sind (vgl. bspw. die inzw. schon klassischen Aktionen Christoph Schlingensiefs).

Hinzu kommt, dass sich die Organisation von Arbeit am Theater und die Verhältnisse zwischen Theater und Medien, Ästhetik und Technik, Kunst und Vermittlung derzeit grundlegend zu ändern scheinen.

Der Hintergrund dieser Entwicklung aber ist sicher nicht zuletzt ein medienkultureller Umbruch, der – von einer neoliberalen Ökonomisierung getrieben – auf die flexibilisierte Nutzbarmachung der individuellen Ressourcen zielt. Passives Schauen, ob nun à la Brecht mit Zigarre und Whiskey oder à la Couch Potato mit Bier und Kartoffelchips, wird des Altmodischen verdächtig und soll zugunsten emanzipativer Interaktion überwunden werden. In der digitalen Ökonomie reicht es auch für das Theater nicht mehr, wie noch zu Zeiten der Fernsehwirklichkeit, live zu sein, um als Erlebnis von Gegenwärtigkeit gefeiert zu werden. In den Vordergrund drängt auch hier die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Eingebundenheit in einen vernetzten und verteilten Kommunikationsprozess, dessen Gestaltung mehr auf Interaction- als auf Impression-Management beruht.

Wenn sich die Theaterwissenschaft also gerade und wieder neu der Praxis zuwendet, kann es nicht darum gehen, dem Ruf nach restloser Verwertbarkeit des akademischen Wissens Folge zu leisten oder in Anschmiegung an die ästhetische Produktion die "Kunst als Forschung" zu verkaufen. Es gilt einen Wandel in Theater und Gesellschaft nachzuvollziehen, der auch neue historische Perspektiven zum Vorschein bringt und die Frage provoziert, was insbesondere theatrale Praktiken ausmacht, wie sie mit ökonomischen und organisatorischen verwickelt sind, und vor allen Dingen, welches Potential der Kritik in einer solchen Wiederhinwendung zu den ästhetischen Produktionsverhältnissen verborgen ist. Denn wie der Auftritt eines Billeteurs am Burgtheaters gezeigt hat, ist allein schon die Frage, welche Praktiken wir als der Aufmerksamkeit würdig befinden, ein Politikum, das Theorie sehr schnell entlarven kann.


otto uUlf Otto, Dr. phil., Theater- und Kulturwissenschaftler, Dilthey-Fellow am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Konvergenzen von Theater- und Technikgeschichte, Gesten und Genealogien des Reenactments, Theatralität der digitalen Medien, mediale Versuchsanordnungen im zeitgenössischen Theater. Publikationen (Auswahl): Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments, hrsg. zus. mit Jens Roselt, Bielefeld 2012; Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien, Bielefeld 2013.

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Ulf Otto im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 3. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit der globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung und Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit, Stefan Hulfeld mit der Theaterhistoriographie, Gerda Baumbach mit Akteuren als Erzählerfiguren, Friedemann Kreuder mit Fragen der Differenzforschung.

Ulf Ottos Studie "Internetauftritte" rezensierte Christian Rakow 2013 für nachtkritik.de.

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