Suche nach der wahren Kunst

von Elisabeth Maier

Avignon, 5. Juli 2014. Nun ist das Festival d'Avignon doch eröffnet mit einem Tag Verspätung. Am Eröffnungsabend waren Heinrich von Kleists "Prinz von Homburg" inszeniert von Giorgio Barberio Corsetti und Coup Fatal von Serge Kakudji, Fabrizio Cassol und Alain Platel wegen des Streiks der freien Bühnenarbeiter und Künstler abgesagt worden. Stattdessen gab es eine Demonstration. Die befristet beschäftigten Theatermitarbeiter, französisch Intermittents, wehren sich unter anderem gegen die drastische Verschlechterung ihrer Arbeitslosenversicherung. 

Victor Hugos Rede im Jahr 1851

"Ihre Forderungen sind absolut legitim", hatte Olivier Py zuvor erklärt, der als Festivalleiter in diesem Jahr seinen Einstand gibt und nun mit einer eigenen Inszenierung seines Stücks "Orlando ou l'impatience" (Orlando oder die Ungeduld), passenderweise ein Metastück übers Theaters, das Festival eröffnete.

Doch bevor die Inszenierung losgeht, gehört die Bühne im Festivalzentrum La Fabrica auch hier 15 Minuten lang den protestierenden Technikern, Requisiteuren und anderen Mitarbeitern, die sonst nur hinter den Kulissen wirken. Mit einer Rede, die Victor Hugo einst vor der Nationalversammlung hielt und die kaum von ihrer Aktualität eingebüßt hat, machten sie auf ihre prekäre Situation und die Bedeutung der Künstler für den Staat aufmerksam.

Über-Vaterfigur

Diese politische Aktualität hallt in Olivier Pys stürmischer poetischer Fantasie, die er in "Orlando ou l'impatience" beweist, durchaus wider. In seinem Stück taucht etwa auch ein korrupter Kulturminister auf, gespielt von Eddie Chignara, der die Kunst nach eigenem Bekunden hasst. Nicht nur deshalb hat Pys extravagante Komödie am Abend viele Lacher sicher. Der Autor und Regisseur will Fragen nach der wahren Kunst beantworten. Sein Stück beschreibt die Suche eines Sohnes nach seinem Vater. Die möglichen Erzeuger, die er ausfindig macht, stehen für unterschiedliche Auffassungen dramatischen Schaffens.

orlando3 560 christophe raynaud de lage uFreundschaft unter Gleichgesinnten: "Orlando"
© Christophe Raynaud de Lage / Festival d' Avignon

"Sage mir seinen Namen", brüllt Orlando seiner Mutter ins Gesicht. Mit Wut verrennt er sich in den Kampf um seine Identität, den die dominante Matrone bremst. Mireille Herbstmeyer überzeichnet die Rolle der "großen Schauspielerin" zunächst hemmungslos. Das wirkt platt. Diese Schwäche zeichnet sich schon im Text ab. Gerade in den ersten Szenen gleitet auch die Inszenierung ins grob karikierte Lachtheater ab.

Im Sog der Neonröhren

Das ändert sich, als Orlando die Liebe entdeckt. Der junge Schauspieler Matthieu Dessertine beweist viel Gespür für die tragische Fallhöhe seiner Figur. Im schönen Gaspard findet Orlando einen Herzensfreund und Mitstreiter. François Michonneau als Gaspard steuert die Beziehung der Männer klug, Gefühl und Gewalt sind für ihn kein Widerspruch. Im orangefarben glitzernden Zirkuskostüm entführt das Bühnensternchen Ambre den Protagonisten in eine andere Welt, die für Romantik und für Familie steht. Laure Calamy gelingt das Kunststück, ihre Figur aus den Fesseln der Karikatur zu erlösen.

orlando5 560 christophe raynaud de lage uUnterschiedliche Vaterfiguren "Orlando" © Christophe Raynaud de Lage / Festival d'Avignon

Pierre-André Weitz' hat die Bühne mit kalt leuchtenden Neonröhren eingefasst. Sie sind angeordnet wie ein Schacht, der die Akteure in die Tiefe zieht. Schneller und schneller dreht sich die Drehbühne und reißt ihn in einen Sog, der Musiker Stéphane Leach peitscht ihn mit einem Pianogewitter voran. Als Kulisse hat der Bühnenbildner Großstadtsilhouetten geschaffen, die Bühnenarbeiter im Raum verschieben.

Geistige Heimat

Pys selbstkritischer Blick auf den Kunstbetrieb hat Längen, doch der Festivalchef philosophiert betörend ernsthaft mit einem ebenso neugierigen wie charakterstarken Ensemble über das Theater, das in Konventionen und wirtschaftlichen Zwängen zu ersticken droht. Dass der Autor und Regisseur die komischen Momente manchmal so überstrapaziert, dass nur dumpfer Boulevardwitz übrig bleibt, ist eine Schwäche des Abends, der große Momente hat. Insgesamt ist Pys ungestümer Kampf des Künstlers um eine geistige Heimat also ein schöner Auftakt für das internationale Festival von Avignon, das fern der Theaterhauptstadt Paris die Suche nach neuen Stoffen und Formen möglich macht und in diesem Jahr von den Diskussionen um den finanziellen Überlebenskampf bestimmt ist.

Orlando ou l'impatience (Orlando oder die Ungeduld)
von Olivier Py Regie und Text: Olivier Py, Bühnenbild und Kostüme: Pierre-André Weitz, Musik: Stéphane Leach. Mit: Jean-Damien Barbin, Laure Calamy, Eddie Chignara, Matthieu Dessertine, Philippe Girard, Mireille Herbstmeyer, Stéphane Leach und Francois Michonneau.
Spieldauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause. 
Koproduktion mit dem Théatre de la Ville in Paris, dem Théatre National Populaire in Villeurbanne, der Comédie Genève und den Ruhrfestspielen Recklinghausen

www.festival-avignon.com

 

Kritikenrundschau

"Kein schlechter Start", schreibt Fabienne Darge in der französischen Tageszeitung Le Monde (6.7.2014). Py gelinge es, einige literarische Schwächen seines insgesamt "zutiefst berührenden" Textes durch die Inszenierung auszugleichen. Auch das Bühnenbild und einige wirklich große Spieler tragen aus der Sicht der Kritikerin das ihre zu diesem gelungen Einstad Pys als Festivaldirektor bei, in dem Theaterpraxis und Metaphysik eine perfekte Liaison eingehen würden.

In der Süddeutschen Zeitung (8.7.2014) schreibt Joseph Hanimann: "Olivier Py inszeniert seinen Text mit der für ihn typischen Bilderflut von vor- und zurückfahrenden Podesten, bombastischen Verkleidungen, allegorischen Spiegeln, Schminktischen, Totenschädeln, Drehbühnen. Theater wird hier gefeiert als die einzige Kunstform des Spiels mit dem Spiel." Zwischen "symbolischem Wulst", Kitsch und überwäligender Poesie ständen die philosophischen Fragen immer am Abgrund unfreiwilliger Komik. Die Gefahr bei so viel "theatralischer Selbstbespiegelung" sei, "dass dem Theater die Welt abhanden kommt und das politische Wort auf der Bühne abstumpft."

In der Welt (8.7.2014) schreibt Johannes Wetzel, Py sei eine Stimme, "die auf zeitgenössischen Bühnen einzigartig ist". Er trage eine "irritierende, vibrierende Hymne an das Theater in allen seinen Formen vor, leuchtende Erkenntnis und Schmarren". "Das alles vorgeführt auf einer wie von den Kulissen her gezeigten Bühne, auf der, so meint es wohl der Totenschädel darunter, 'Hamlet' gespielt werden sollte."

Py präsentiere in seinem brillant verkörperten Stück mögliche Antworten auf die zentrale Frage des jungen Protagonisten und mit ihnen, quasi als Karikatur, diverse Formen von Theater, so Eberhard Spreng im Tagesspiegel (24.7.2014). Schnell werde klar, dass sich hinter Orlandos Fragen nach dem Vater eigentlich die Gottsuche versteckt, die ungeduldig nach letzten Begründungen forscht. "Die Antworten der diversen potenziellen Väter bleiben immer nur Stückwerk, aber allen ist gemein: Das Theater ist die einzige Perspektive für Sinnsucher." Pathos, Spielfreude und Spielwut, Bewegung, ein einziges gewaltiges Metapherngewitter biete der Autor, Regisseur und Fundamentalkatholik auf. "Aber nach dreieinhalb Stunden zerbröckelt das metaphysische Kabarett in Sprücheklopperei. Hohle Oh-Mensch-, Oh- Theater-Ekstase bleiben übrig. Dann wissen wir immerhin, dass Orlando nur noch im Verzicht, im Nichts, in der Mittellosigkeit eine Lebenschance entdeckt."