Schwere See

von Andreas Schnell

Brunsbüttel, 10. Juli 2014.Stell dir vor, du sitzt am Meer, vielleicht auch an einem großen Fluss, Schiffe ziehen vorbei. Du summst verschämt was von Freddy Quinn. Und träumst, wie das wär': endlose Weiten, fremde Länder … und dann kommt Jens Erwin Siemssen daher und erzählt dir mal, wie das wirklich ist. Zugegeben, es ist nicht wirklich am Meer, nicht direkt. Aber die Uraufführung von Siemssens neuem Stück "Um uns herum nur nichts" fand immerhin im Binnenhafen von Brunsbüttel statt, bevor es dann durch ein gutes halbes Dutzend Häfen geht, so nah am Ufer des Nord-Ostsee-Kanals jedenfalls, dass man fast Angst kriegt, die Schauspieler könnten ins Wasser fallen.

Zumindest Andreas Heinrich Kerbs, der als Kapitän auf einem dieser Pfeiler sitzend mit rollendem russischem R erzählt, wie das so ist an Bord. Während seine Kollegen eher griechisch, ein bisschen holländisch und irgendwie asiatisch klingen. Und dann sind da noch die beiden Männer aus Eritrea, Flüchtlinge, deren abenteuerlich-schreckliche Reise nach Deutschland (natürlich via Lampedusa) eine Geschichte für sich ist (Siemssen arbeitet daran).

Dramatischer Wellengang
Nach Theater sieht außer der Zuschauertribüne gar nichts aus: keine Scheinwerfer, keine Bühne, nur die Uferstraße. Auf der liegt ein langes Tau. Dahinter die Schiffe, die den Kanal entlangfahren. Auf einmal klingelt ein Telefon. Ein Mann hastet aus dem Publikum, sich entschuldigend, an den Apparat – schon sind wir mittendrin: Ein Anruf von der Reederei. So fängt es immer an. Dann heißt es Abschied nehmen, für Monate. Die Männer, die eben noch neben uns saßen, sie müssen los, auf große Fahrt.

um-uns-herum-i 560 fotograf-unbekannt xUm uns herum das Tau © Das letzte Kleinod

Das Leben auf dem Meer kennt seine kleinen und großen Dramen. Die Hierarchien an Bord (die Mannschaft: "Filipinos", die oberen Ebenen: Europäer). Kulturelle Unterschiede mischen sich mit Standesdünkel. Der Grieche (Christos Anastasopulos) bekennt, dass er die Filipinos nicht mag. Dann: die Langeweile. Landgänge sind kaum noch drin, heute, wo alles immer schneller wird. Dafür gibt es jetzt an Bord Internet, Computerspiele, Skype-Chats mit der Frau. Aber gegen die Einsamkeit hilft das auch nur bedingt. Man erzählt sich ja sowieso nur, dass alles in Ordnung ist. Nur uns, dem Publikum, erzählen sie, wie das Kind daheim den Vater immer wieder für einen Fremden hält, wenn er alle paar Monate heimkommt. Oder es wartet gar niemand auf den Heimkehrer. Dann ist da noch die Arbeit. Gefährlich oft, nicht nur an Deck. Der Koch (Dan Thy Nguyen) verbrennt sich den Arm, weil bei schwerem Seegang heißes Öl darüber läuft. Ein bisschen Salbe, das muss reichen. Sonst kriegt die Mannschaft nichts zu essen. Geht gar nicht. Es wird schon genug gemosert: kein Gemüse, keine Abwechslung, das Bier bald alle – und Schnaps ist eh verboten. Manchmal erwischt es auch jemanden wirklich schlimm, und der Master muss mit Fernanleitung durch einen Arzt ein paar Finger wieder annähen. Oder der Koch schließt sich versehentlich im Kühlhaus ein.

Täglich Brot und Rettungsboot
Was davon ist nun auf der Uferstraße am Kanal zu sehen? Nichts. Alles. Ein Tau. Das mal hohe Wellen schlägt, ein anderes Mal Spielkonsole und Computerspiel-Zombie ist, Brüste und Penis darstellt sowie ein Kühlhaus und den gefrorenen Schinken, mit dem der eingesperrte Koch gegen die Tür donnert (was ihn letztlich rettet). In kunstvolle Schleifen und Schlaufen gelegt, in der Luft herumgewirbelt, um die Männer gewunden, deren hinreißende Spielfreude in diesem auch sehr körperlichen Theater auf keinen Fall unterschlagen werden darf, ist dieses Tau all das und noch ein bisschen mehr: nämlich das, was diese Mannschaft zugleich zusammenhält und aneinander kettet. Es ist ihr täglich Brot und notfalls auch ihr Rettungsboot, von Siemssen zu einer in ihrer Schlichtheit geradezu verblüffend zarten Choreographie arrangiert. Während im Hintergrund der Mond aufgeht über dem Nord-Ostsee-Kanal und den Schiffen, auf denen echte Seemänner echte Arbeit tun. Noch.

Zum Schluss entwirft Käptn Kerbs ein Zukunftsbild der Seefahrt. Immer kleiner die Besatzungen, bis am Ende nur noch ein Mann an Bord ist, der Käptn – oder gar ein "Operator", der auf dem Festland am Bildschirm sitzt und lenkt. Nach den Sternen wird dann niemand mehr navigieren können. Polarstern und Orion, orakelt Kerbs, der sich dabei immer weiter entfernt, bis seine Stimme kaum noch zu hören ist, kommen dann nur noch in Gedichten vor.

Um uns herum nur nichts
von Jens-Erwin Siemssen
Regie: Jens-Erwin Siemssen, Musik: Shaul Bustan, Dramaturgie: Karsten Barthold.
Mit: Christos Anastasopulos, Barry Emond, Andreas Heinrich Kerbs, Dan Thy Nguyen.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.das-letzte-kleinod.de


Mehr zu Das letzte Kleinod: Mit Atalanta produzierte das stets aufs Meer hinausblickende Kollektiv in Wilhelmshaven einen Theaterabend zum Thema Piraterie, in Die Filchner-Barriere begab es sich (in Bremerhaven) auf die Spuren einer schwierigen Südpol-Expedition.

 

Kritikenrundschau

In aller Schonungslosigkeit werde "vor Augen geführt, was Menschen aus der Dritten Welt auf sich nehmen müssen, damit wir Wohlstandsbürger billige Handys und Laptops aus Fernost beziehen können", schreibt Isabelle Hofmann über die Performance von Das letzte Kleinod in den Kieler Nachrichten (19.7.2014). "Menschen, über die wir nie nachdenken, weil wir sie nicht sehen. Sie sind auf die Ozeane verbannt. Moderne Arbeitssklaven auf Hightech-Galeeren. Ihre Geschichten sind nur schwer auszuhalten." Hofmann folgert: "Nein, mit Seefahrerromantik hat moderne Schifffahrt schon längst nichts mehr zu tun. Vielmehr mit Druck, Stress – und verkapptem Rassismus."

Die "Poesie der Schiffahrt" sei zuletzt "endgültig dahin", meint Gregor Buiting in der Ostfriesen-Zeitung (19.7.2014). Das ganze Stück über sei "die Problematik präsent, die das tägliche Miteinander von Menschen unterschiedlichster Kulturen und Religionen mit sich bringt. In der Mannschaft herrscht eher ein sprachloser Ton, eine unverbindliche Sprache aus Anweisung und Gehorsam. Diese Sprachlosigkeit überträgt sich auch auf die Telefonate und Kurznachrichten mit der Familie in der Heimat. Was soll man auch erzählen." Selbst in den heiteren Szenen hätten die Zuschauer kaum zu lachen gewagt.

In der Emder Zeitung (18.7.2014) hebt Ina Wagner die enorme Leistung der Schauspieler hervor, "denn sie hätten nicht nur eine Menge Text zu sprechen, sondern mussten nahezu ununterbrochen die mächtige Trosse bewegen und zu ganz bestimmten Requisiten formen." Besonders interessant seien "die Perspektiven, die im Spiel für die Seefahrt aufgezeigt wurden. Bald würden automatisch gesteuerte Schiffe ohne Besatzung die Meere auf festgelegten maritimen Routen befahren." Den "Kleinods" sei es wieder einmal "blendend" gelungen, "Wirklichkeiten bewusst zu machen und Dokumentationen theatral umzusetzen."

"Schonungslos" zeige Jens-Erwin Siemssen "den Alltag auf hoher See", schreibt Daniel Beneke im Stader Tagblatt (17.7.2014) und meint, dass den Zuschauern "die eindringlichen Szenen noch lange im Gedächtnis bleiben" würden. Das Ensemble verlange dabei "seinem Publikum einiges ab: Die Szenen folgen in schnellem Tempo aufeinander, mancher Dialog war nur schwer verständlich, da die Darsteller auf Mikrofone verzichteten."

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