Gang in die Tiefe

von Alexander Schnackenburg

Bremen, 2. Februar 2008. Sie haben sich für die große Bühne entschieden, für jene Spielstätte, die üblicherweise den Musiktheaterproduktionen vorbehalten ist. Als der Intendant in Bremen noch Klaus Pierwoß hieß und nicht Hans-Joachim Frey, da wich das städtische Schauspiel immer nur dann ins Goethe-Theater aus, wenn es unbedingt sein musste: etwa wenn Andrej Woron für seine pompösen Bühnenbilder und gewaltigen Choreographien viel Platz brauchte.

Und jetzt das: nichts auf der Bühne, außer den zahlreichen Arbeitern. Ohne die geht es in Bertolt Brechts "Heiliger Johanna" natürlich nicht. Und das – Pikanterie am Rande – obwohl sie doch die meiste Zeit über arbeitslos sind – und hier auch zu einem guten Teil von arbeitslosen Schauspielern gespielt werden: von Akteuren aus Maik Rombergs "theaterlabor", einem Theater für beschäftigungslose Künstler.

Johannas langer Weg bis zum Verlust aller Illusionen

Frank-Patrick Steckel (Regie) und Karina Lang (Bühne und Kostüme) haben diese "Heilige Johanna" ausgesprochen puristisch ausgestattet, arm an Requisiten, frei von Schnickschnack. Keine Musik, nicht ein einziges Geräusch lässt der Regisseur während der gesamten Aufführung einspielen, lediglich drei Durchsagen: "Johannas erster Gang in die Tiefe", "Johannas zweiter Gang in die Tiefe", "Johannas dritter Gang in die Tiefe".

Umso mehr lohnt es sich, auf die Details zu schauen, beziehungsweise zu hören. Etwa der schnarrenden Stimme zu lauschen, die da durch den Lautsprecher spricht. Sie klingt, als dränge sie durch ein altes Grammophon. Sämtliche Requisiten, die Kostüme ohnehin, sind historisch: kein Handy, kein Laptop noch sonst ein Gegenstand behauptet, dass wir uns im Jahr 2008 befänden.

Und sogar das Medienaufgebot auf der Bühne, ein paar verstreute Schreiberlinge und ein Fotograf, hat etwas Niedliches an sich. Wer etwa vor zwei Jahren Merit Matters Hannoveraner Inszenierung der "Heiligen Johanna" gesehen hat – es entwickelte sich ein multimediales Spektakel auf der Bühne – erkennt das Stück kaum wieder.

Dieses Chicago fühlt sich wie von 1929 an

Allein das Tempo dieser etwa 100 Minuten kurzen Aufführung ist ein anderes. Alles geht Schlag auf Schlag. Erst verkauft der Fleischbaron Pierpont Mauler sein Fleisch, dann kauft er wieder welches ein, veräußert Rinder und kauft sie wieder ein, erklärt hier die Marktgesetze, lässt dort die Konkurrenz über die Klinge springen – der Zuschauer (selbst jener, der das Stück gut zu kennen glaubt), wird durch jede Wendung immer wieder überrascht. Und nicht nur der Zuschauer. Auch die dauerentrüstete Johanna (Susanne Schrader) kommt nicht mit.

Es gelingt dem Regisseur, einen Rhythmus herzustellen, der unwillkürlich an den hektischen "Herzschlag" der Börse erinnert. Und in der Tat ist es ja die Wall Street, die in Brechts "Heiliger Johanna" letztlich das Tempo vorgeben soll. Menschliche Individuen sind es jedenfalls nicht. "Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind", resümiert Johanna am Ende des Stücks, und formuliert damit nur in etwas anderen Worten, was Pierpont Mauler bereits zu Beginn gesagt hat: "Die Menschen sind schlecht."

Ein gelungener Brecht

Steckel lässt seine Schauspieler diese vermeintlichen Schlüsselsätze eher beiläufig sprechen. Die oberlehrerhafte Attitüde, dem Autor allzu eigen, liegt dem Regisseur fern. Dafür lässt Steckel seine Schauspieler andere Sätze und Satzfragmente – die meisten von ihnen gehören dem Mauler – in den Saal schreien oder auch Wort für Wort deklamieren: "Jetzt will ich mein Geld" oder "… das größte der Welt". Im Übrigen schwankt der Grundton der Aufführung zwischen der üblichen Künstlichkeit des epischen Theaters und Apathie.

Letztere kennzeichnet vor allem den zwischenzeitlich geradezu selbstvergessenen Mauler (ganz stark: Glenn Goltz). Wie ein Getriebener taumelt er durch diese Inszenierung. Während seine Konkurrenten Cridle (Sven Fricke), Graham (Guido Gallmann), Lennox (Detlev Greisner) und Meyers (Volker Schmidt) immerhin partiell noch zu menschlichen Regungen fähig scheinen, trägt dieser Fleischbaron allein die völlige innere Leere nach außen. Viel besser kann man einen Brecht heute nicht inszenieren.

Die heilige Johanna der Schlachthöfe
von Bertolt Brecht
Regie: Frank-Patrick Steckel, Bühne und Kostüme: Karina Lang.
Mit: Susanne Schrader, Glenn Goltz, Sven Fricke, Guido Gallmann, Detlev Greisner, Volker Schmidt, Jan Byl, Gabriele Möller-Lukasz, Michael Hans-Herrmann Christoph Rinke u.a.

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

"Was für ein Abend!" jubelt Rainer Mammen in den Bremer Nachrichten (4.2.2008). "Kraftvoll, fulminant nachgerade, kurz und knackig, so erschreckend wie bestimmt." Und: "Dieser Abend ist das genaue Gegenteil vom Abend zuvor, an dem im Bremer Schauspielhaus Dorsts 'Künstler'-Drama eingeschläfert worden war." Diese Bremer "Johanna" sei "kein Nostalgieseminar für den marxistischen Veteranenverein. Sondern ... lebendiges, streckenweise sogar fesselndes Theater." Denn "was wir hier sehen, ist alles andere als das berühmte Brecht-Theater mit dem berüchtigten V- (wie Verfremdungs-)Effekt." Der Regisseur Frank-Patrick Steckel, der in seiner Inszenierung auch mit arbeitslosen Schauspielern arbeitet, nutze "das objektive Interesse seiner Darsteller zur subjektiven Mobilisierung seines Publikums." Und wenn sich Steckels "energisches Arbeiterheer" chorisch zu Wort melde, "fallen einem nicht nur die Ohren ab. Auch läuft es einem eiskalt den Rücken runter."

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