In den Wunderkammern der Illusion

von Dirk Pilz

Wien, 14. Juli 2014. Er saß da zum Beispiel geschlagene zwanzig Minuten auf einer Kiste, neben Angela Winkler. Sie taten wenig, aber sie äugten, wimperzuckten, fingerspielten gemeinsam, und es schien dabei, als erhebe er jede Regung nur deshalb in schwindelnde Silbenhöhen hinauf, um sie als Blitze aus den heiterste Himmeln herausfallen zu lassen. Das war vor 14 Jahren, er war der Johannes Rosmer in Peter Zadeks Ibsen-Abend am Wiener Akademietheater.

Er trank Cognac, trug das Hemd offen und die Hände in der Luft, sehr lässig, sehr verzweifelt und hob an zu fragen: "Wärs möglich? Könnt ich nicht mehr wie ich wollte? Nicht mehr zurück wies mir beliebt?" Er fasste sich in den grauen Haarschopf, ließ die Worte in ein unermessliches Innen rollen und schoss sie zugleich in die fernsten Weiten, als wäre jeder Vers bei ihm die natürlichste aller Sprechweisen und das gefährlichste Instrument gleichermaßen. Das war vor sieben Jahren, er war der Wallenstein in Thomas Langhoffs Schiller-Abend am Wiener Burgtheater.

Er lief nicht, er schritt einher und balancierte alle Sätze und Schritte auf der butterweichen Kante zwischen Ironie und Bitterernst, aber wie lässig, wie leichthändisch. Das war vor drei Jahren bei den Salzburger Festspielen, im Wort- und Mimikgefecht mit Lars Eidinger, er war der Vincentio aus Shakespeares Maß für Maß in einer Inszenierung von Thomas Ostermeier.

voss lear007 560 burgtheaterGert Voss als König Lear, 2007 am Burgtheater in einer Inszenierung von Luc Bondy 
© Burgtheater

Gert Voss ist tot. Gert Voss, der Charaktererfinder, der Menschenbildner. Gert Voss, der alles über seine Figuren wusste, wahrscheinlich auch viel über sich selbst, und sich dennoch das Spiel von solchem Wissen nicht verderben ließ. Gert Voss, der als Komiker immer, wie er sagte, "ein Todesvogerl auf der Schulter" hatte und als Tragöde immer den Narr im Nacken, oder auf den spitzen Fingern. Der sich nicht festlegen ließ, der störrisch sein konnte, streitlustig.

Er war zuletzt Ehrenmitglied des Wiener Burgtheaters, und für viele, die Wiener besonders, war er das Gestalt gewordene Burgtheater in bester Theaterweise. Er spielte Thomas Bernhard und Thomas Bernhard verewigte ihn mit seinem Stück "Ritter Dene Voss", ohne je hinnehmen zu wollen, dass man an Bernhard das Provokante hervor strich, weil, sagte er, seine Figuren immer von der "verzehrenden Sehnsucht" getrieben würden, "Kontakt zu finden zu anderen Menschen". Er spielte in George Taboris "Goldberg-Variationen" (1991) und in seinem "Othello" (1990), was für die Dabeigewesenen glitzernde Erweckungsabende gewesen sein müssen, glaubt man ihren Berichten; er war Mitte der Neunziger für Jahre der Salzburger Jedermann und King Lear bei Luc Bondy (2007), mit flatterndem Hemd und fiebrigen Nerven, eine unverhohlene Gert-Voss-Huldigungs-Inszenierung. Ringsum viel Spielöde, in der Mitte ein Theaterkristall. Auch das gab es oft: Voss-Denkmäler, dargestellt von Voss.

Er ließ dabei das Theater stets dem Diktat des schönen Scheins gehorchen, erkundete jeden Winkel in den Wunderkammern der Illusion, ohne darin zu verschwinden. Ja, zuletzt hat er das Wissen um seine theatereuropäische Bedeutung, den Ruhm, die großäugige Bewunderung seiner Zuschauer immer mitgespielt, und auch einem Spieler wie Voss gelang dies nicht ohne Eitelkeitsgirlanden. Aber er bewahrte sich doch die Kraft, sich selbst zu überraschen.

Mit ihm ist einer der Vorzeigespieler jener Generation gestorben, die sich ganz und gar sicher war, dass alles Theater in den Fundgruben der Verwandlung zu finden ist, nur dort. Und nur dort immer anders.

 

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