Presseschau vom 18. Juli 2014 – Gerhard Stadelmaier durchstreift die Spielzeithefte der kommenden Theatersaison
Mobile Hungerküchen-Stationen
Mobile Hungerküchen-Stationen
18. Juli 2014. "Wieso soll die öffentliche Hand einem Theater hinterher laufen, das vor sich selbst davon läuft?" fragt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beim Durchstreifen der Spielpläne für die kommende Spielzeit. Denn dort manifestiert sich aus seiner Sicht erneut die anhaltende "doppelte Fluchtbewegung des Schaugewerbes: ins beliebig Epische und ins beliebig Soziale".
Hauptquelle von Stadelmaiers Missvergnügen sind Romanadaptionen und Sozialprojekte wie Stadtspaziergänge, Stadtraumspiele oder "regielich bezahlte" und angeleitete Begegnungen von Theaterbesuchern mit sozialen Randgruppen: in Flüchtlingsheimen, in der U-Bahn oder im Frisörsalon. Beide Male treibt sich das Theater aus Stadelmaiers Sicht in Bereichen herum, in denen es nichts verloren hat – und in denen es den Zuschauer doppelt betrügen würde: "Romane kann er selbst lesen, und in der Mehrzahl der Fälle besser als jeder Dramaturg. Und Sozialwesen, Städtebewohner, U-Bahn-Fahrer ist er sowieso."
Das Theater könnte ihm das ganz Andere, das Gegenweltliche, das dramatisch Tolle, Aberwitzige, Schöne, Herrliche, Abgrundtiefe, Poetische und nicht sofort Konsumierbare bieten, "in das hinein man aufbräche wie in einen fernen, fremden Kontinent, geduldig und demütig". Das Theater mache jedoch "lieber auf Ohrensessel und auf Gemeinschaftskundegrundschulunterricht". Es rühre heute noch "den Szenenbrei" an, den es den Zuschauern als "Einheitsnahrung" verabreiche. Irgendwann gehe dann der Appetit verloren. Für jede Küche ein drohend tödlicher Moment. "Das Menü verliert an Bedeutung. Die Bühnen werden dergestalt zu einer Art mobilen Hungerküchen-Station, die den Zuschauer dort 'abholt' (wie das im Sozialneudeutsch heißt), wo er gar nicht mehr auf den Gedanken kommen dürfte, dass es sich noch um Theater handelt." So werde der Zuschauer der Bühne immer weiter entfremdet.
Gerhard Stadelmaier geht auch auf den Brandbrief des Mannheimer Schauspielchefs Burkhard C. Kosminski an die Spitzen der deutschen Kulturpolitik ein. Kosminski habe darin eine allgemeine Theater-Apokalypse beschworen und vorgeschlagen, "den Solidaritätszuschlag künftig nicht zum Aufbau Ost, sondern zum Ausbau Stadttheater zu verwenden, denn 'wir brauchen gemeinsame Werte', worunter er auch die Kulturteile von Zeitungen zählt, die ebenfalls vom schleichenden Tod bedroht seien und die er gleichfalls der öffentlichen Unterstützung durch den umgewidmeten Soli empfiehlt. Abgesehen davon, dass staatlich subventionierte Zeitungen gerade nicht die 'gelebte Demokratie' wären, die dem Mannheimer Bühnenchef vorschwebt, sondern ein eiertänzerischer, parteientaktischer publizistischer Mehltau-Albtraum", scheint es Stadelmaier doch sehr fraglich, ob die Theater noch viel mit dem zu tun haben, "woran dem öffentlichen Briefschreiber so sehr zu liegen scheint, nämlich mit 'Kultur und Bildung' und nicht vielmehr mit den privatesten Interessen und Obsessionen von kühl marktwirtschaftlich in ihren Nischen operierenden Regisseuren und dramaturgischen Bearbeitern."
(sle)
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am theater hat sich die "generation hanni und nanni" (männlich wie weiblich) festgesetzt und einbetoniert.
* anstatt mit den bildungsbürgern händchenhaltend durch problemviertel zu spazieren,
* anstatt beim hugo sprizz über lässige "projects" zu plaudern
* oder anstatt eine weitere "readers digest" form eines romans auf die bühne zu quälen:
wie wäre es, wenn die theaterverantwortlichen auf die menschen zugingen, die einen haupt- oder realschulabschluss besitzen (oder weniger), die im abitur keinen leistungskurs deutsch hatten
und die noch unter 40 sind?
ein beispiel dafür: die ersthaften aussagen von juli zeh, über die charaktere und deren darstellung in der inzenierung von "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen".
(Vergabe des 3sat-Preises anlässlich des Theatertreffen Berlin mit Juli Zeh, Tobi Müller, Christopher Schmidt und Burghart Klaußner
Ringrichterin Tita von Hardenberg-Live auf 3sat-Länge: 60 min-Die Sendung wurde am 22.5.2010 auch live ab 21.45 Uhr im Internet unter www.3sat.de gestreamt.)
willkommen im hanni-und-nanni-land!
ja es ist verlogen. und auch nicht glaubwuerdig.
Das Theater war und ist eine Gegenwartskunst in Bewegung. Es ist völlig normal, wenn nicht alle dieser Bewegungen von allen Zeitgenossen als sinnvoll und erlebnisstiftend erlebt werden. Ich hoffe aber dennoch, dass die Theater dennoch in Bewegung bleiben.
"Wir können nur in Beziehung zu und im Umgang mit anderen Menschen lernen, egal ob diese körperlich anwesend sind oder nicht. Und in diesem Sinne ist Bildung immer auch eine Einübung und Anerkennung der Gleichberechtigung von Singularitäten im Gemeinschaftlichen. Im Lernprozess erkennen wir die Intelligenz der anderen an und lernen von ihr."
(Hardt/Negri, "Demokratie! Wofür wir kämpfen")
Wie froh können wir sein, dass es nachtkritik gibt!
Denn:
Selbst sogenannte "lokale" Saison-Rückblicke wie die WELT Umfrage über die letzte Saison in NRW war mit wenig Aussagekraft, sondern eher eine Art Arbeitsnachweis der beteiligten Kritiker. Denn selbst in diesem lokalen Kontext konnte gar nicht gleiches mit gleichem verglichen werden, da nicht einmal die beteiligten NRW-Journalisten einen minimalen identischen Grundstock der selben NRW Inszenierungen gesehen hatten (die sie eigentlich miteinander in ein Ranking bringen sollten)! Und so lobte eben jeder das wenige, was er sehen konnte. Arbeitsnachweis. (Und, siehe unten*, die Bahnverbindungen in NRW sind bis spät in die Nacht exzellent)
Den Journalisten oder ihren Redaktionsleitern im Feuilleton gebe ich übrigens nicht die Schuld daran.
Machen wir uns doch nichts vor!
*Aus dem Alltag:
"Wann ist die Vorstellung zu Ende?"
-"Ca 22.00 Uhr."
"Kommst du dann noch weg?"
-"Nee, da fährt nichts gescheites mehr.
"Weißt ja, Übernachten ist nicht drin."
"Ja. Echt schade."
-"Ja."
"Dann halt ein andermal? Das scheint da spannend zu sein am .
-"Vielleicht, klar."
Die geschrumpften Etats der berühmten Feuilleton-Zeitungen für ein Netz freier Mitarbeiter, für Bahnfahrten und Übernachtungen usw. hat maßgebliche Auswirkungen auf die kritisch-journalistische Begleitung der Theatermacher durch das renommierten Print-Feuilleton und seine adäquate Spiegelung des Geschehens am deutschen Gegenwartstheater. Und hier sitzen dann Feuilleton, Theater und Zuschauer im selben Boot, denn dieser Zustand ist für alle deprimierend.
Das Theater ist auch jenseits von Berlin, Hamburg, München und Frankfurt viel lebendiger und berührender als es die FAZ, die SZ etc in den derzeitigen Gegebenheiten beobachten können.
Wer neues von Relevanz entdecken will, muss eben rumreisen, muss mal übernachten, muss nicht bei der ersten Enttäuschung aufgeben, muss dran bleiben, muss dahin gehen, wo vielleicht Theaterherzen gerade aufregend und berührend laut schlagen - auch wenn kein ICE mehr danach Richtung Frankfurt oder München oder Hamburg oder Köln oder Berlin fährt!
"Monsieur Teste schaut den Zuschauern zu, wie sie dem Theater zuschauen, hingerissen von der Szene, die Monsieur Teste nicht sieht. Seinem Begleiter Paul Valéry flüstert er zu, in das 'unermessliche Schimmern dieser tausend Gesichter' gebannt starrend: 'Genießen und gehorchen sollten sie!'"
Warum "gehorchen"? Hat Herr Stadelmaier da verschlafen, dass Zuschauerpartizipation im Theater meint, beim Wahrnehmen aktiv mitzudenken? Und womöglich sogar kritisch umzudenken? In dem Sinne, dass (Medien-)Bilder, also auch Theaterbilder, immer nur perspektivisch konstruiert und häufig mit Machtinteressen verbunden sind?
vielen Dank für diesen Adlerblick aufs Große und Ganze der FAZ und Ihrer Macher wie Leser. Ein Mal etwas Konkretes zum Janzen wär auch schön gewesen, aber da hätten Sie ja vielleicht nicht so unnachahmlich recht gehabt und hätte die Bundeswehr nicht auf den Plan rufen können. Kopfschütteln. "Ihr lieben 68er/Ihr könnt gehen." (Peter Licht)
Nun kann man mit Stadelmaier im Wesentlichen so umgehen: a) Gegen ihn Widerstand leisten, ihn beschimpfen, ihm Hochnäsigkeit vorwerfen, ihm CDU-Nähe vorhalten, ihn zu den Alten erklären oder b) sich überlegen, was an seiner Kritik stimmen könnte.
Zu Nr. 17: Wenn Sie’s lieber vollmundig haben – bitte!
Und zu Nr. 12: Ach, uns 68gern (zu welchen ich in dem Beitrag offenbar gezählt werde) wird seit spätestens 1967 gesagt, wir könnten gehen – seinerzeit, als es noch ein „Drüben“ gab, nach Drüben. Wir sind geblieben und haben Fragen gestellt, die zu beantworten nur das Kapital für nötig befand. Jetzt sagt das Leben uns, daß wir gehen müssen - in ein Drüben, von dem wir nicht wissen, ob es je existierte. Und wir gehen. Zugegeben, wir hinterlassen mehr Probleme als wir vorgefunden haben. Aber das ist vermutlich nicht das, was PeterLicht meint.