Dokumentartheater der Geister

von Sascha Westphal

Spangenberg, 2. August 2014. Zeit vergeht nicht einfach. Sie lagert sich ab, sickert ein und nimmt nach und nach Besitz von Häusern und Orten, von Menschen und Dingen. Das Vergangene ist nie ganz vergangen. Es bleibt präsent, bruchstückhaft, in Spuren, die sich immer weiter verwischen oder, wie in dem alten Fachwerkhaus im historischen Stadtkern der kleinen hessischen Stadt Spangenberg, mehr und mehr überlagern.

Zimmer und Zeiten

In den achtzehn Zimmern dieses verwinkelten Hauses ist die Vergangenheit bald ebenso lebendig wie die Gegenwart. Das Knirschen der Böden und Treppen, die seltsamen Geräusche der alten Balken, der Putz, der in manchen Räumen von den Wänden bröckelt, die alten Tapeten, dieser leicht modrige Geruch im Keller. Dieses Haus, das einst die Kohlenhandlung der Familie Siebert beherbergte, spricht fortwährend zu seinen Bewohnern und seinen Besuchern.

dashaus 560 weisel fink hoffmann heinzholzmann uDie Führerinnen durch das Haus: Christine Weisel, Katharina Fink und Denise Hoffmann
© Heinz Holzmann

Die Stimmen des Hauses, in dem sich die Geister verflossener Jahre, gar ganzer Jahrhunderte tummeln, greifen Bernhard Mikeska, Christina Rast und Yana Thönnes in ihrem gemeinsamen Projekt auf und verstärken sie mit ihren Erzählungen noch einmal. Acht Räume des Hauses werden jeweils zur Bühne für kurze Begegnungen zwischen einem Zuschauer und acht Spielern.

Man begibt sich alleine auf diese Reise durch Zimmer und Zeiten, geleitet von stummen, fast schon geisterhaften Führerinnen, die einem den Weg von Geschichte zu Geschichte weisen. Jeweils vier Räume bilden einen der zwei einzeln zu buchenden Parcours. Doch die enorme Spann- und Tragweite dieser ungewöhnlichen Erkundung eines einzigartigen Ortes, der gleich einem Brennglas die Geschichte einer Kleinstadt und mit ihr auch die eines ganzes Landes bündelt, offenbart sich natürlich erst im Zusammenspiel beider Touren.

Gespenster des 20. Jahrhunderts

In Worten und Bewegungen, in Blicken und Gesten, blitzen Geschichten und Schicksale auf. Die Gespenster des aus den Fugen geratenen 20. Jahrhunderts finden sich in der Küche wie im sogenannten Eiscafe, in der Wurstekammer wie im Kriechkeller, im Luftschnapper-Zimmer wie auf dem Dachboden, in Ingrids Zimmer wie in der Haferkammer.

dashaus1 560 heinzholzmann happich huettegabriel uBei der Küchenarbeit vom Auswandern träumen: Anica Happich und Lena Hütte-Gabriel
© Heinz Holzmann

So erzählt der einstige Forstschüler (Thomas Hechelmann), der 1914 eine der Töchter der Kohlenhandlung geheiratet hat und dann sofort zur Westfront musste, von einer Liebe, die nie richtig gelebt werden konnte. Der frühe Tod der Braut hat ihn zu einem Gefangenen seiner Erinnerungen und seiner Gefühle gemacht. Aus der kahlen Wurstekammer kommt er nicht mehr heraus. Leere und Verfall des tristen Raums werden zu Spiegeln seiner Seele: Genau so sieht es im Inneren dieses Mannes aus.

In der Küche träumt eine junge Frau (Anica Happich), fast noch ein Mädchen, während der harten, zermürbenden Arbeit von der Ferne, von Amerika und einem wiedergefundenen Paradies. Zumindest in Gedanken kann sie der Wirklichkeit entfliehen. Aber dann kündet das Läuten der kleinen Kirchenglocke vom Tod eines weiteren Kindes, und schon ist sie (und auch der Zuschauer) wieder in Spangenberg, das 1918 von der Spanischen Grippe heimgesucht wird.

dashaus2 560 heinzholzman brueckner uAuf dem Dachboden: Jele Brückner   © Heinz Holzman

Diese, die Schrecken des 20. Jahrhunderts beschwörenden Episoden hat ebenso wie die Geschichte einer von ihren Krankheiten besessenen Wochenend-Touristin (Franziska Schubert), die sich im "Luftschnapper-Zimmer", dem Fremdenzimmer des Hauses, eingemietet hat und es nicht mehr verlässt, Christina Rast inszeniert. In ihnen nimmt das Vergangene noch einmal sehr konkrete Züge an. Es ist fast schon ein Dokumentartheater der Geister, das sie in den drei von ihr gestalteten Räumen heraufbeschwört.

Mit den Augen der anderen Sehen lernen

Während sich bei Christina Rast die Jahre aufzulösen scheinen und die Vergangenheit zur Gegenwart wird, verschwimmen die Identitäten in den drei von Lothar Kittstein geschriebenen Szenen, die Bernhard Mikeska eingerichtet hat. Die Frau (Jele Brückner) auf dem Dachboden, die ihre Schwiegertochter in das Leben im Haus einweist, der Mann (Daniel Blum), der im "Eiscafe" genannten Zimmer eine Frau umwirbt, und die junge Braut (Ulrike Beerbaum), die sich vor ihrer Hochzeit fürchtet und im Kriechkeller versteckt, verwickeln den Zuschauer in ein doppelbödiges Spiel. Darin kann er sich wunderbar verlieren. Die bohrenden Blicke und tastenden An-Sprachen der Spieler ziehen den Zuschauer mit in ihre Geister-Welt hinein. Plötzlich sieht man sich mit den Augen der anderen. Ein Gefühl der Unsicherheit entsteht und eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Für einige Minuten tritt die eigene Persönlichkeit zurück und die individuelle Biographie wird durchlässig für andere Lebensgeschichten.

dashaus 280h heinzholzmann uIn der Haferkammer: Gerd Sauerland und
sein Fotoalbum © Heinz Holzmann

Noch einmal ganz andere Wege beschreitet Yana Thönnes in den beiden, von ihr inszenierten Räumen. In "Ingrids Zimmer" kommt Tanja Kodlien fast ohne Worte aus. Alleine ihre Bewegungen, wie sie Staub aufhebt, wie sie sich am Holzofen zu schaffen macht oder ihren Kopf auf das Bett legt, erzählen ein ganzes Leben. Der Alltag und seine Verrichtungen werden zu einer Choreographie, die verstört und verzaubert. Und in der Haferkammer wirft die junge Regisseurin dann einen Blick in die Zukunft.

Während der Schreiner Gerd Sauerland in einem alten Fotoalbum blättert und sich dabei zurückerinnert, machen sich in einem Fim, der auf die Wand projiziert wird, vor der er sitzt, der Bürgermeister und andere Gedanken über die Zukunft der Stadt. Der historische Stadtkern, der – davon zeugen zahllose Leerstände – droht zur Geisterstadt zu werden, soll ein Museum werden. Die alten Handwerke sollen zurück in die Häuser kehren. Nur werden in dieser deutschen Repräsentationsstadt Waren nur mehr als Teil einer erlebbaren Vergangenheit produziert. Ein ebenso absurdes wie verlockendes Szenario.

 

 

Das Haus
Uraufführung
von Bernhard Mikeska, Christina Rast, Yana Thönnes und Lothar Kittstein
Künstlerische Leitung: Bernhard Mikeska, Regie: Bernhard Mikeska, Christina Rast, Yana Thönnes, Kostüme: Brigitte Schima, Local Scout: Alja Schindler, Video: Monika Kostrzewa, Yana Thönnes, Produktion: Verein Raum und Zeit e.V.
Mit: Anica Happich, Lena Hütte-Gabriel, Thomas Hechelmann, Tanja Kodlien, Jele Brückner, Franziska Schubert, Gerd Sauerland, Daniel Blum, Ulrike Beerbaum und den Führerinnen durch "Das Haus" Katharina Fink, Denise Hoffman, Christine Weisel, Yana Thönnes
Dauer: 2 x 50 Minuten, eine Pause

www.dashaus-mittelgasse14.de

 

Kritikenrundschau

Die Figuren in den acht Räumen sprächen zwar den Besucher an, "aber sie sprechen nicht mit ihm", schreibt Tobias Becker auf Spiegel-Online (4.8.2014). Seiner Beobachtung zufolge scheinen sie wie traumatisiert und in ihrer eigenen Welt steckengeblieben. Auf diese Weise überblende die Produktion Gegenwart und Vergangenheit, Augenblicks-Erleben und Erinnerung. Der Zuschauer sei machtlos, "so machtlos wie der Historiker beim Blick zurück in vergangene Zeiten". Er könne versuchen, sich einzufühlen. Die Zeitbarriere aber bleibe unüberwindbar. "Es ist, als wäre die sogenannte vierte Wand, die sonst Bühne von Zuschauersaal trennt, direkt zwischen dem einzelnen Schauspieler und seinem Zuschauer aufgebaut." Das unterscheidet aus Beckers Sicht diese Produktion massiv von anderen Mitmachformaten, etwa den Performance-Installationen des Künstlerduos Signa. "Man kann darin einen Mangel sehen. Aber auch eine besondere Qualität: Die Nähe saugt den Besucher emotional in die Szene; der direkte Blick des Schauspielers, Auge in Auge, klagt die Einfühlung geradezu ein. Und doch bleibt ein Rest reflektierender Distanz gewahrt."

Pro Abend könnten nur nur 32 Besucher das Haus und seine Räume im Einzeldurchgang erkunden, ist dem Bericht von Michael Przibilla in der Sendung "Fazit" (2.8.2014) im Deutschlandradio Kultur zu entnehmen. "Das sind nicht viele. Aber diese wenigen haben die Chance auf ein besonders intensives Theatererlebnis." Przibilla spricht an anderer Stelle von "Gänsehaut-Theater". "In dieser 1:1-Begegnung habe ich keine Chance, distanziert zu bleiben, im Theatersessel zu verschwinden. Dieser Mann macht mich zum Komplizen – oder zum Opfer. Ich bin nicht nur Zuschauer. Ich spiele selbst eine Rolle. Egal, ob ich etwas sage oder nicht."

 

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