Intimität als Arbeitsweise

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 5. August 2014. Entgegen aller Gewohnheit ging es heute Abend wirklich pünktlich los. Bei ImPulsTanz sind fünfzehnminütige Verspätungen sonst keine Seltenheit. Heute warnten Hinweistafeln vor dem akkuraten Schließen der Türen um 21 Uhr. Lloyd Newson und DV8 Physical Theatre bestehen darauf. Eine Viertelstunde nach Beginn des Stücks öffnet sich doch noch einmal eine Tür. Es gibt nirgendwo Gemurre.

Gegründet wurde die Theatercompagnie 1986. Lloyd Newson erarbeitet mit je neu gecasteten ausgebildeten Tänzern und Tänzerinnen Produktionen, die auf soziale und politische Themen hin abzielen. Schöne Leibesübungen, das ist hier nicht. Oder nicht nur. Seit 2007 geht es vor allem um die Beziehung zwischen gesprochenem Text und getanzter Bewegung, "Verbatim Dance Theatre" genannt.

Dokumentartanztheater

Im Zuge der Recherche für "John" wurden über 50 Männer zu den Themen Liebe und Sexualität befragt. "Einer dieser Männer war John." Und Johns Geschichte ist eine Abfolge aus Gewalt, Drogen, Gefängnis und Entzug. Der Vater schlägt die Mutter und missbraucht die Tochter, die Mutter lebt von Diebstahl und John schlägt sich durch. Bekommt einen Sohn. Ist mal verheiratet. Ist heroinabhängig und obdachlos. Wird wieder verurteilt. Fängt an auf der open university zu studieren. Am Ende hören wir seine Stimme vom Band.

john1 560 ben hopper u"John": Mit den Performern Andi Xhuma, Hannes Langolf, Ian Garside © Ben Hopper

Es wird also eine Biographie erzählt. Und das auf eine ganz klar verständliche Art und Weise, dennoch weitab von einer Art von Naturalismus. Die Figuren auf der Bühne stehen dort stets als choreografierte Körper und Hannes Langolf als John spricht und spricht unfassbar unangestrengt ob der körperlichen Herausforderungen. Ohne Atempause und im Zeitraffer sehen wir Bilder seiner Kindheit und Erwachsenenlebens. Die ersten Minuten sind kaum zu ertragen. Während sich die Drehbühnenkonstruktion in immer neue reduzierte Szenen entfaltet, fliegt ein ganzes Leben voller grausamer Ereignisse vor uns vorbei.

Aussagekrätig reduziert

Mal stehen sie da wie Wachsfiguren, mal bewegen sie sich wie aus der Situation heraus. Zum Beispiel wenn John von dem Leben mit seiner Mutter und seinem Bruder spricht. Sie habe die beiden immer wieder aus der Wohnung geschmissen und sei schließlich ihrem Alkoholismus erlegen. Während Hannes Langolf spricht, fällt die Mutter auf und über die beiden Söhne.

john2 280 ben hopper uTänzer Hannes Langolf © Ben Hopper

Hier wurde ein Bewegungsvokabular gefunden, das weder rein dem Text untergeordnet ist, noch in rein artistischer Art und Weise über ihn hinaus geht. Weil irgendwie geht das Hand in Hand. Eh. Und hier geht es wirklich Hand in Hand. Der Abend ist von einem ganzheitlichen Standpunkt aus gesehen perfekt. Die Bühne wandelbar und trotz Minimalität aussagekräftig. Das Licht immer rechtzeitig und nie zu dominant. Der Sound unterstreicht und macht auch mal den Witz des Ganzen aus. Ein Genuss. Obwohl dann doch irgendwann die technische Verstärkung der Stimme ausfällt und als Fehler auffällt. Da wird bemerkbar, dass die Ablehnung einer Orientierung am puren Schönen im Tanz nicht unbedingt eine Aufgabe der Norm der Perfektion bedeuten muss.

Arrangierte Bilder

Inmitten des Stücks tritt eine Wendung ein. Die äußert sich einerseits als schleichende Fokusverschiebung weg von John hin zu einer Schwulensauna, und andererseits als vermehrte Öffnung der Narration weg von John dem Erzähler hin zu Interaktionen zwischen den Performern. Meistens wird aber ins Publikum gesprochen. Was hier nicht anbiedernd wirkt, sondern dokumentarisch. John sehnt sich jetzt nach Liebe und Zuneigung. "I am looking for a relationship with a guy." Ziemlich aus dem Blauen heraus, für Publikum und John gleichermaßen, kommen die komödiantischen Szenen in der Sauna sowie der Vortrag über HIV. "Take responsibility!"

Ein reibungsloser Abend voller, ja es lässt sich nicht besser sagen, choreografierter Bilder. Newson selbst steht dem Begriff der Choreografie skeptisch gegenüber. Dieser impliziere, "die Schritte zu arrangieren, wie andere Blumen". Mit "John" ist ein arrangiertes Gesamtkunstwerk zu bewundern, das einzig durch die deutschen Übertitel gestört wird. Über den echten John denkt hier keiner nach.  

John
von Lloyd Newson/DV8 Physical Theatre
Konzept und Regie: Lloyd Newson, Bühnen- und Kostümdesign: Anna Fleischle, Lichtdesign: Richard Godin, Sounddesign: Gareth Fry.
Mit: Taylor Benjamin, Lee Boggess, Gabriel Castillo, Ian Garside, Ermira Goro, Garth Johnson, Hannes Langolf, Vivien Wood, Andi Xhuma.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.impulstanz.com

 

Kritikenrundschau

In der taz (7.8.2014) schreibt Uwe Mattheiss, die "Wirklichkeitspartikel" in der Choreografie wirkten nie "realistisch", sondern "verstörend, unerwartet, aber auch mehrdeutig und in sich höchst widersprüchlich. Sie wirken so gar nicht tauglich für die 'große Erzählung', die immer dann einsetzt, wenn das Theater glaubt, direkt dran zu sein an der Realität. Das macht diesen Abend über viele Unschärfen hinweg brennend interessant." Am Ende bleibe der Vorhang offen "und die Fragen bleiben auch".

Bettina Steiner scheibt in der Presse (6.8.2014), man verstehe, man ahne, warum Newson die Vielstimmigkeit zu Gunsten der Einzelerzählung geopfert hab. "Aber wirklich nachvollziehbar wird es nicht. Vielleicht, weil Newson nicht wagte, das Material entsprechend zu bearbeiten, weil er Angst hatte, zu viel zu kürzen. Atemlos folgt Episode auf Episode (...). Ein Leben im Schnelldurchlauf." Der Tanz verkomme dabei über Strecken "zu einer Art Begleitbewegung". "Schön anzuschauen, aber ohne dass er dem Text etwas hinzufügte."

Im Standard (6.8.14) schreibt Helmut Ploebst, eine "wirklich bemerkenswerte Arbeit" habe Newson trotz Unkonventionalität nicht abgeliefert. So viel wie über die Geschichte von John zu erfahren gewesen sei, habe man auch mindestens darüber erfahren, "wie sehr ein Autor eine solche Geschichte zu gestalten vermag". Im zweiten Teil führe Newson "brillant choreografierten Szenen eine Körpersprache vor, die mit den gesprochenen Worten tanzt. Dadurch erhält das Gesagte zwar nicht mehr Gewicht oder Differenziertheit. Es gewinnt aber an Eindringlichkeit, weil die Worte in 'physischer Erweiterung' erscheinen."

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