Welches Theater kommt nach den Zwillingen?

Warszawa, Februar 2008. Nie zuvor im demokratischen Polen nach 1989 hatte die Politik so tief in das Alltagsleben der Bürger eingegriffen und einen so starken Einfluss auf die Kunst genommen unter der Regierung Jarosław Kaczyński. Chancen und Risiken eines politischen Theaters nach den Wahlen in Polen.

Von Roman Pawłowski

Warszawa, Februar 2008. Als Mitte des letzten Jahres der junge Regisseur Jan Klata am Teatr Rozmaitości Warszawa mit den Proben zu Stanisław Ignacy Witkiewiczs "Schustern" begann, konnte niemand damit rechnen, dass die seit 2005 amtierende rechtsnationale Regierungskoalition nur noch wenige Monate an der Macht sein würde.

Ein Ende des von Premier Jarosław Kaczyński entfesselten kalten Bürgerkriegs schien folglich nicht absehbar. Sein Justizminister Zbigniew Ziobro war besessen von der Aufdeckung einer postkommunistischen Verschwörung, die Staatsanwaltschaft nahm unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung immer neue gesellschaftliche Gruppen ins Visier und das Institut des Nationalen Gedächtnisses veröffentlichte immer neue Namen angeblicher ehemaliger Sicherheitsdienstagenten aus Politik und Kultur.

Eine zerrissene Gesellschaft

Nie zuvor im demokratischen Polen hatte die Politik so tief in das Alltagsleben der Bürger eingegriffen und einen so starken Einfluss auf die Kunst genommen. Wie zu Zeiten des Kriegsrechts gab es auf der Bühne deshalb wieder aktuelle Themen und politische Anspielungen.

So lieferte Piotr Cieplak 2007 am Warschauer Teatr Powszechny eine Neuinterpretation von Stanisław Wyspiańskis "Hochzeit", dem großen postromantischen Schlüsseldrama über das polnische Unabhängigkeitsstreben. Cieplak flocht in Wyspiańskis poetischen Text Presseartikel über die antikommunistische Lustration ein und zeigte das Bild einer geteilten und zerstrittenen Gesellschaft.

Getarnt als Sorge um öffentliche Moral und religiöse Gefühle kehrte seinerzeit die Zensur zurück. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Pornographie-Verdachts gegen die freie Gruppe Suka Offaus Katowice. Anzeige erstattet hatte ein der Rechtspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) angehörender Warschauer Bezirksbürgermeister, ohne die inkriminierte Performance je gesehen zu haben. Und in Białystok forderten Vertreter der mitregierenden Liga Polnischer Familien die Streichung von Fördermitteln für das Theater Wierszalin, das in seinen Arbeiten religiöse Themen auf unorthodoxe Weise behandelte.

Ideologische Lagerkämpfe

Die Politisierung aller Lebensbereiche wirkte sich auch auf die Theaterkritik aus, die sich in zwei feindliche Lager spaltete. Das konservative Lager propagierte ein Theater, das dem Geschmack des neuen Bürgertums entsprechend auf eine realistische Schauspielkunst und Inszenierungen von Klassikern und westlichen Boulevardstücken setzen sollte. Die liberale Fraktion verfocht dagegen ein postdramatisches Theater und sympathisierte mit der neuen Linken, die im Theater ein Instrument der Kritik des neoliberalen Kapitalismus sah.

Die Kunst trat in diesem ideologischen Streit in den Hintergrund. In dieser Situation also verorteten Klata und sein Dramaturg, der Publizist Sławomir Sierakowski, Witkiewiczs "Schuster" im Polen des Jahres 2007. Und das in den 1930ern entstandene Stück war dazu auch bestens geeignet: Es zeigt, wie eine siegreiche Revolution ihre eigenen Kinder frisst und sich dem ancient régime angleicht.

Gestern brisant und heute überholt

Damit brachte es die Lage im Polen der Kaczyńskis auf den Punkt, deren "moralische Revolution" und "Reparatur des Staates" sich inzwischen als Heuchelei und Deckmantel für einen brutalen Machtkampf entpuppt hatten. Bei Klata erinnerte der Staatsanwalt Scurvy, der bei Witkacy die titelgebenden Schuster terrorisiert, an die Symbolfigur der autoritären Methoden der Kaczyński-Regierung, Justizminister Ziobro.

Aus den Schustern wurden Supermarktangestellten und aus ihrem Anführer Sajetan Tempe ein innerlich zerrissener Linksaktivist, der Slavoj Žižek liest und den Arbeiterprotesten einen Sinn zu geben versucht. Zum Pech der Künstler verlor die Kaczyński-Partei die vorgezogenen Parlamentswahlen im Herbst 2007. Mit dem Verlust des politischen Kontexts lief die Inszenierung ins Leere. Ihre Anspielungen waren veraltet und ihre Botschaft verlor sich in absurd-komischen Szenen um einen falschen Justizminister.

Die konservative Kritik triumphierte: Ihre Vorbehalte gegen das politische Theater – Kurzzeitwirkung, Oberflächlichkeit – hatten sich bestätigt. Erleichtert rief man das Ende des politischen Theaters aus. "Das Konzept eines neuen politischen Theaters in Polen hat sich erledigt", hieß es im liberalen "Przekrój". Der konservative "Dziennik" ging noch weiter: Man erklärte den "Mythos des Teatr Rozmaitości" für tot und warf Klata und Sierakowski die politische Instrumentalisierung des Theaters vor: "Ein auf die Tagespolitik bezogenes Theater wird zu einem leeren Theater."

Die Pflicht zur Kritik

Aber ist das engagierte Theater in Polen – oder allgemein: die engagierte Kunst – damit wirklich am Ende? Wenn man sie als parteiische Kunst versteht, als Vertretung politischer Interessen, dann ja. Eine solche Kunst ist in der Tat sinnlos, vor allem wenn einem der Gegner abhanden kommt.

Versteht man unter Engagement dagegen aber die Teilnahme an öffentlichen Debatten und die Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwesen, dannn eröffnen sich einer engagierten Kunst erst heute wirkliche Perspektiven. Denn die Regierungsübernahme durch die liberale Bürgerplattform entbindet die polnischen Künstler nicht von der Pflicht zur kritischen Gegenwartsanalyse, im Gegenteil.

Befreit von der Sorge um die eigene Unabhängigkeit, können sie sich nun den Ursachen der gesellschaftlichen Konflikte zuwenden. Ein solches Theater gab es in Polen, bevor die Kaczyńskis an die Macht kamen. Ein Theater, das gesellschaftliche Bedrohungen und Missstände beim Namen nannte, lange bevor die Politik sie entdeckte. Für dieses Theater standen junge Dramatiker wie Przemysław Wojcieszek, Paweł Demirski, Tomasz Kaczmarek der Marek Pruchniewski. Sie zeigten das neue, kapitalistische und europäische Polen, seine Generationskonflikte, seine Konsumversessenheit, seine Ängste und Vorurteile.

Eine seismografische Kunst

Auch Jan Klatas Inszenierungen waren ein Seismograph, der latente gesellschaftliche Konflikte vor ihrem Ausbruch registrierte. Sein "Revisor" berührte 2003 erstmals das Problem der Korruption, "Fizdejkos Tochter…" ein Jahr später das Thema der antideutschen Ressentiments. In seinem Danziger "Fantazy" konfrontierte Klata 2005 das Polen der jungen Wendegewinnler mit dem Polen der verarmten Intellektuellen aus den Wohnblocksiedlungen.

Welch Ironie, dass ausgerechnet eine seiner Inszenierungen das Ende des engagierten Theaters im Kaczyński-Polen markierte. Sollte nun das Theater wegen eines einzigen Wahlergebnissess eine Mission aufgeben, die darin besteht, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten? Wären die politischen Eliten häufiger ins Theater gegangen, hätten es die Kaczyńskis weniger leicht gehabt, gesellschaftliche Differenzen und Frustrationen für sich zu nutzen, weil diese schon früher erkannt worden wären.

Das Theater war in dieser Hinsicht der öffentlichen Diskussion voraus, die sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts auf den polnischen EU-Beitritt konzentriert hatte. Heute ist eine seismographische Kunst noch nötiger. Mit dem Machtwechsel sind nämlich keineswegs alle Probleme verschwunden, die während der zwei Regierungsjahre der Rechten zutage traten. Die Erwerbsemigration hält an, fünf Millionen PiS-Wähler fühlen sich weiter im Abseits. Kapitalismus und globale Wirtschaft sind nicht über Nacht gerechter geworden.

Eine gründliche Analyse der gesellschaftlichen Realität ist heute notwendiger denn je. Eine Analyse, wie sie Brechts Dramen für die Weimarer Republik oder Balzacs Romane für das Frankreich der Restauration lieferten. Nur die Kunst, nicht die Politik, kann uns nicht nur sagen, was wir sind, sondern auch, was wir sein könnten.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann 

Roman Pawłowski
ist einer der renommiertesten polnischen Theaterkritiker und Redakteur der Warschauer Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Als Herausgeber der Anthologie "Generation Porno und andere geschmacklose Theaterstücke" (2003) und dem Folgeband "Made in Poland" (2006) hat er die Debatten um das Gegenwartstheater in Polen wesentlich beeinflusst.

Kommentare  
Theaterbrief Polen: sehr zu loben
Liebe Nachtkritik-Redaktion
Den Lobeshymnen rechts von diesem Artikel schliesse ich mich gern an - und freue mich besonders über die Briefe aus Polen, von denen hoffentlich noch viele kommen werden.
Bis bald, wieder auf diesen Seiten, Milo Rau
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