Die Wut der Ausgeschlossenen

von Juliane Voigt

Schwerin, 12. September 2014. Schwerin eröffnete am Abend die Spielzeit mit Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" im großen Haus des Mecklenburgischen Staatstheaters. Ein Werk, das Shakespeare einen Ruf als Antisemit eingehandelt hat. Der jüdische Geldverleiher Shylock vergibt einen Kredit mit schauderhaften Bedingungen: Ein Pfund Fleisch will er von dem Kaufmann Antonio, falls der säumig, den Kredit nicht zur Zeit zurückzahlen kann. Und der Dolch blitzt bedrohlich schon beim Handschlag, mit dem der Vertrag besiegelt wird.

Vor der Pause: ambitionsloses Durchwinken

Die Inszenierung dieser wortgewaltigen Komödie dauert bei Marc von Henning nur knapp zwei Stunden (dazwischen eine Pause). Es wurde gekürzt und zusammengezurrt. Auf Lacher gesetzt. Shakespeare kommt reichlich zu kurz in der Alltagssprache auf dieser Bühne, die sich als gespiegelte Zuschauertribüne aus rohem Holz stufig nach hinten zieht. Ein paar Gaze-Prospekte werden leidenschaftslos in die Szenen gezogen, um Hintergründe verschwimmen zu lassen oder Projektionen zu vervielfältigen unter fast gänzlichem Verzicht auf Requisiten (Ausstattung Jörg Kiefel).

2 der kaufmann von venedig 4 quer wybranietz werner teisingerova silke winkler2In Sektlaune: Caroline Wybranietz, Anja
Werner, Lucie Teisingerova © Silke Winkler
Auch in Emotion und Spiel handelt es sich um reduziertes Durchwinken der Kernaussagen. Wozu braucht Bassanio nochmal so viel Geld? Um um Portia zu werben? Portia (Anja Werner) und ihre Freundinnen Jessica (Lucie Teisingerova) und Nerissa (Caroline Wybranietz) wissen gar nicht, ob sie Männer wollen. Die Frauenszenen mutieren zu peinlichen sektlaunigen Privatgesprächen. Verwunderlich, dass der Dichter Lorenzo sich überhaupt die Mühe macht, die Tochter Shylocks zu entführen und dass Bassanio sich auf das Kästchenquiz einlässt und Portia ohne die Investition, um die es in der Hauptsache ja geht, gewinnt. Eine Art Gewinnshow. Flache Fernsehunterhaltung. Von der Macht der Liebe keine Spur.

der kaufmann von venedig 7 quadrat koehli silke winkler uAmadeus Köhli als Antonio, der Kaufmann von Venedig © Silke WinklerSo plätschert der erste Teil dahin, dass man denkt, die Fliegen fallen tot von der Wand. Die Männer klemmen in Rollkragenpullovern, Antonio, der für den Freund Bassanio (Rüdiger Daas) bürgt, ist schwarz. Ein Migrant. Und ebenso reich, wie Shylock selbst, nur dass sein Handel als Tanker am Meereshorizont vorbeizieht. Sein Geld schwimmt auf den Meeren herum und am Tag der Einlösung seiner Schulden, ist er nicht flüssig.

Nach der Pause: Wucht

Doch in den 30 Minuten des zweiten Teils zeigt sich, was von Henning in den ersten anderthalb Stunden aufgebaut hatte. Herausragend dabei die Wucht von Amadeus Köhli, der als Antonio bewegungslos derartig in Panik ausbricht, dass im Spiel mit seinem Widersacher Shylock – ebenso erstaunlich Jochen Fahr, der mit gleichmütiger Miene unerbittlich und hasserfüllt das Messer wetzt – die ganze Brutalität dieser Abmachung, die als ein Scherz begann, fühlbar wird. Man fragt sich allen Ernstes, wo es am wenigsten wehtun könnte, ein halbes Kilo von Köhli abzuschneiden, so ausweglos und schlotternd steht dieser der Situation und dem Dogen-Gericht, wir sind ja immerhin in Venedig, in großen Fotoprojektionen illuminiert, gegenüber.

kaufmann venedig 1 560 silke winkler uVor Gericht in Venedig, vorne: Amadeus Köhli (Antonio), Rüdiger Daas (Bassanio), Jochen Fahr (Shylock)  © Silke Winkler

Es geht um "Das Andere"

Und Shylock, im Rollkragen wie alle, bleibt erst einmal ein ganz normaler widerlicher Schuldeneintreiber. Tatsächlich schleichen alle den ganzen Abend über um den heißen Brei herum. Shylock ist am Ende gezwungen, es selbst auszusprechen. "Ich bin Jude!" Die antisemitisch imaginierte Fratze des 'Wucherjuden', da ist sie. Genauso fremd aber erscheint plötzlich auch Antonio. Als Schwarzer einerseits, aber auch als Kaufmann, der für einen sinnlosen Deal 500 Gramm seines Fleisches aufs Spiel setzt. "Das kann man nur aus Liebe machen", zeigt Portia, die als Anwältin im Nadelstreifen die Verteidigung Antonios übernommen hat, ihm einen Vogel. Schwarz und schwul?

Unerbittlich stehen die beiden Männer sich gegenüber. Auch als die Handlung noch einmal kippt. Denn eine Klausel findet die Anwältin, bevor das Messer in den Körper dringt: Fleisch ja, aber es darf kein Blut fließen! Der gerettete Migrant lässt den Juden schließlich nur überleben, wenn dieser sich zum Christentum bekehrt. Zwangskonversion, eine zutiefst demütigende Angelegenheit, steht im Moment ja wieder einmal hoch im Kurs.

Das hat der zweite Teil geschafft, die Coolness und Gleichgültigkeit, mit der die Handelnden in den Schlamassel rutschen, präzise so zu sezieren, dass der erste Teil plötzlich in eine ganz andere Wahrnehmung gerät. Es geht um mehr, als Heiraten und Recht haben. Es geht um "Das Andere", um subtile Diskriminierung und die Wut, die von außen keiner verstehen kann, der nicht ebensowenig dazugehört. Rollkragen hin oder her. Wer in der Pause geht, hat zwar erstmal Recht, verpasst aber einen starken Theaterabend.

 

Der Kaufmann von Venedig
nach William Shakespeare in einer Fassung von Marc von Henning
Regie: Marc von Henning, Bühne und Kostüme: Jörg Kiefel, Dramaturgie: Ralph Reichel / Julia Korrek.
Mit: Lucie Teisingerova, Anja Werner, Caroline Wybranietz, Rüdiger Daas, Jochen Fahr, Amadeus Köhli, Bernhard Meindl, Özgür Platte, Sebastian Reusse.
Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

www.theater-schwerin.de

 

Kritikenrundschau

in seiner "Zurichtung des Stoffs" erzähle der Regisseur mit überwiegend Neutext wenig von Shakespeare, schreibt  Manfred Zelt in der Schweriner Volkszeitung (15.9.2014). Zwar fehle es der Fassung nicht an Unterhaltung, der genuschelten Inszenierung jedoch an Artikulation, weshalb wichtiger Text aus Sicht des Kritikers "verrauscht". Das sei eine "Aneignung" für all jene, die sich mehr als ein halbes Pfund Shakespeare nicht mehr zumuten wollten.

"Etwas vehalten, ja sogar etwas blaß" ist dieser Spielzeitauftakt aus Sicht von Dietrich Pätzold von der Ostseezeitung (15.9.2014) geworden. Marc von Henning habe seine Fassung mit viel Material aus der Gegenwart angefüllt. Wie ein Ganzes wirke sie jedoch nicht.

 

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