Magazinrundschau September 2014 – Ideales Theater, Köpfe der Saison und der Abschied von Jon Fosse

Theater für die "happy few"?

Theater für die "happy few"?

von Wolfgang Behrens

18. September 2014. Im Theater heute-Jahrbuch wird Saisonbilanz gezogen und nach der Utopie gefragt. Die deutsche Bühne steckt derweil mit dem Kopf schon tief in der neuen Spielzeit. Und Theater der Zeit protestiert und malt Landkarten.

cover th-9-14Theater heute

Der September ist bei Theater heute klassischerweise der Jahrbuch-Monat, und somit richtet sich alle Aufmerksamkeit vor allem auf die notorische Kritikerumfrage, auf deren Grundlage so schöne Titel vergeben werden wie Theater des Jahres, Inszenierung des Jahres etc. pp. Aber das Jahrbuch ist zum Glück weitaus reichhaltiger als eine Liste. Diesmal etwa hat die Redaktion direkt an die überall schwelende Stadttheater-Debatte angeknüpft und an über 20 Künstler bzw. Teams die nur allzu berechtigte Utopie-Frage gestellt: "Wie sähe denn, wenn wir alle praktisch-pragmatischen Probleme einmal beiseite lassen, ein ideales Theater aus? Ohne Rücksicht auf Realisierbarkeit, einzig aus der Sicht der künstlerischen Wünsche?" Zitate aus den zum Teil sehr lesenswerten Antworten können kaum repräsentativ sein. Hier nur einige wenige Stichproben:

Der Regisseur Stephan Kimmig plädiert ganz entschieden für das traditionelle Stadttheater-Modell und "gegen eine Umwandlung von Stadttheatern in Produktionshäuser nach niederländischem Vorbild." Er sieht die Gefahr, dass man ohne die Kontinuität von festen Ensembles an einem Ort "bald vor einem elitären Zirkel von gut vernetzten Insidern" spiele – "the 'happy few'". Dagegen werde der "strukturelle Enthusiast, der Theater als Teil seines urbanen Lebens betrachtet und braucht, nicht auf Festivals sozialisiert." Eine Gegenposition nimmt – klar! – die Belgierin (und somit nicht Niederländerin) Annemarie Vanackere ein, ihres Zeichens Leiterin des Berliner HAU. Sie will ganz explizit an ihrem Haus eine ständige Festivalatmosphäre schaffen und sieht noch immer (den von anderen mitunter schon fast verabschiedeten) "Graben zwischen Freier Szene und dem System der Häuser mit festem Ensemble", wobei es ihr gegen den Strich geht, dass "etablierte Einrichtungen nie vorab legitimieren müssen, für welches Vorhaben sie wie viel Geld ausgeben wollen (...). In meiner idealen Theaterförderungswelt werden die Pläne und Visionen aller Akteure und Einrichtungen regelmäßig evaluiert, ob klein oder groß, ob Institution oder freie Künstler(gruppe)." Wobei fraglich bleibt, wer genau denn evaluieren soll? Theater heute und nachtkritik.de?

Aleksandar Radenković, Schauspieler am Maxim Gorki Theater in Berlin, glaubt bei seinem Wunschtraum von einem Theater schon angelangt zu sein: "Ich habe in den letzten zehn Jahren fest an vier Häusern gespielt, und immer ging es irgendwie um ein Ergebnis in den Arbeiten. Für die Kritiker, für die Zuschauer. Auch für einen selbst. Immer dieses Ziel vor Augen. Am nächsten Morgen sofort zur 'Nachtkritik' [aha! So ist das also!], und ein gesamtes Jahr steht und fällt mit der Auslastung und einer Einladung zum Theatertreffen." Am Gorki hingegen gehe es nun "viel mehr um ein gemeinsames Probieren und Suchen, ein gegenseitiges sich auf den Proben Erleben und weniger um kalkuliertes Ergebnisdenken und schnödes Gefallenwollen." Das Ergebnis jedenfalls stimmt trotzdem und gefällt: Für die von Theater heute befragten Kritiker ist das Gorki das Theater des Jahres.

Das Jahrbuch druckt übrigens dankenswerterweise auch die äußerst bedenkenswerte Laudatio von Wolfram Lotz auf Wolfram Höll zur diesjährigen Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises. Lotz wird darin sehr grundsätzlich: "Die konventionelle dramatische Erzählstruktur ist unbrauchbar geworden, denn das Drama wollte immer zuspitzen, auf einen Punkt zusammenführen, Ursprünge finden. Ich verbiete mir hier zu versuchen, Ihnen nun zu sagen, wie unsere Gegenwart tatsächlich sei, aber ich habe jedenfalls das Gefühl, dass sie sich eben nicht mehr zuspitzen lässt auf einen Punkt hin, dass die Stränge in ihr nicht mehr zusammen führen, sondern eben auseinander, in die Weite und die Verästelung." Auch das performative Theater findet Lotz nicht hinreichend und sieht in ihm oft "nur eine unbewegliche Behauptung, eine vorgebliche 'Naturalisierung' des Sprechens." Lotz' Forderung: "Dieser Naturalisierung des Sprechens gilt es aber gerade, das ist meine Überzeugung, eine Sprache entgegenzusetzen, die künstlich ist, und die also hörbarerweise nie ganz eins werden kann mit dem Körper des Sprechenden. Und künstliche Sprache, das ist immer literarische Sprache."

cover ddb-9-14Die deutsche Bühne

Die deutsche Bühne hat ihre Kritikerumfrage samt Saisonbilanz bereits hinter sich und kann sich daher schon der kommenden Spielzeit widmen. Mit der mutigen Ansage "Wir sagen Ihnen schon heute, wer morgen aufregendes Theater macht", präsentiert das Blatt "Die Köpfe der Saison 2014/15". In der Oper sind das etwa die Regisseure Benedikt von Peter (derzeit fest am Bremer Theater) oder Lorenzo Fioroni sowie der Frankfurter Intendant Bernd Loebe. Doch wir sind naturgemäß gespannt auf die Köpfe der kommenden Saison im Schauspiel-Bereich, und siehe da: Hätte man dieselben Namen, die der Redakteur Detlev Baur dort anführt, als Köpfe 2013/14 ausgegeben, wäre das wohl auch keinem seltsam vorgekommen (was ja noch nichts gegen die Köpfe besagt ...). Genannt werden: René Pollesch ("ästhetisch der vielleicht wichtigste Regisseur der Gegenwart"), Elfriede Jelinek (die im September mit zwei Uraufführungen sehr präsent ist), Johan Simons, Susanne Kennedy und – die größte Überraschung der Liste – der Vielinszenierer Robert Teufel (sechs Inszenierungen zählt die Datenbank der Deutschen Bühne für diese Spielzeit – "ein Name, den man sich vermutlich merken sollte").

Detlev Baur hat sich aber auch sämtliche Spielzeithefte der Theater für die kommende reingezogen, und zwar nicht zuletzt die Vorworte. Gerade "die Vorworte der Schauspielhäuser oder Schauspielsparten in den neuen Bundesländern" seien "durch das 25-jährige Jubiläum eines einschneidenden Wandels geprägt: den Mauerfall. Andererseits halten sich viele Theaterleiter aus diesem Teil Deutschlands bei der Formulierung programmatischer Ideen auffallend zurück. [...] Vielmehr bemühen sich die meisten Theaterleiter wortreich um die Gunst des Publikums und beschreiben die Wichtigkeit des Theaters an sich. Solch biedere Texte spiegeln sich in der Regel dann auch in den Programmen von Häusern wie Chemnitz oder Cottbus: Unterhaltung und bewährte Klassiker prägen das Programm. Hintergrund dieser auffälligen Anspruchslosigkeit ist die existenziell bedrohliche Lage vieler Theater im Osten Deutschlands." Das mutigere Theater lokalisiert Baur im Westen und vor allem im Südwesten der Bundesrepublik. Vorausgesetzt, dass dieser Befund stimmt, wäre das alarmierend: Zeugt die Angst vor dem Rotstift verzagtes Theater, das dann umso leichter dem Rotstift zum Opfer fallen kann?

Apropos Spielzeithefte: Den Kritiker, der Unmengen davon ins Haus geschickt bekommt, können diese Produkte, die sich in ihrem selbstverliebten Design oft recht wichtig nehmen, schon manchmal nerven. Die deutsche Bühne nimmt sie nun aber auch mal wichtig und hat die Berliner Gestalterin und Typographin Anja Steinig eine Kritik der Spielzeithefte schreiben lassen. Die Vorschauen der Komischen Oper Berlin und des Staatsschauspiels Dresden sollte man demnach noch einmal hervorzotteln – diejenige des Deutschen Nationaltheaters Weimar hingegen darf getrost in der Kruschkiste bleiben.

cover tdz-9-14Theater der Zeit

Nicht nur Detlev Baur von der Deutschen Bühne ist aufgefallen, dass René Pollesch omnipräsent ist. Im September-Heft von Theater der Zeit findet sich unter dem Titel "Das René-Pollesch-Universum" eine von Matthias Dell erstellte, doppelseitige Landkarte, auf der alle Städte, in denen Pollesch bisher gearbeitet hat, samt den zugehörigen Stücktiteln eingezeichnet sind. Ergänzt wird das Ganze um eine Statistik, aus der z.B. hervorgeht, dass Christine Groß in 23 Pollesch-Inszenierungen an fünf Orten zu sehen war, Martin Wuttke und Sophie Rois hingegen (als Tabellenzweite) je in zwölf Inszenierungen an vier Orten. Eine schön sinnfreie Spielerei – schade nur, dass die Gelegenheit verpasst wurde, das Schaubild als Poster zum Herausnehmen und Aufhängen beizulegen.

Natürlich gibt es auch ernstere Themen: Gleich zum Auftakt des Heftes schreit Matthias Brenner, Intendant des Neuen Theaters Halle, seine Wut und seine Angst angesichts der Landes- und Kommunalpolitik in Sachsen-Anhalt heraus. Hoch engagiert verteidigt er André Bücker, den Noch-Intendanten des Anhaltischen Theaters Dessau: "André Bücker ist es zu verdanken, dass eine leidenschaftliche Verantwortungskultur seiner Belegschaft demonstriert, dass Kunst und Kultur Begriffe sind, die höhere Werte als Wachstum und Marktwirtschaft beinhalten." Den Satz des Dessauer Oberbürgermeisters, Bücker sei "gegenüber der Landespolitik nicht mehr vermittelbar", kontert Brenner mit dem Ausruf: "Diese Landespolitik ist an UNS nicht mehr vermittelbar. (...) Alle Kräfte des Protests sind darauf zu richten, dass André Bücker, der das Modell für das Überleben seiner Ensembles entwickelt und durchgesetzt hat, diesen Kampf auch zu Ende fechten kann und also selbstverständlich im Amt bleiben muss." So wie es aussieht, sind die Ereignisse über diesen Aufschrei leider schon wieder hinweggegangen ...

Der Stückabdruck dieses Monats gilt Jon Fosses beim norwegischen Bergen-Festival uraufgeführtem "Meer", von dem der Autor sagt, dass es sein letztes Stück sei. Dorte Lena Eilers hat sich mit ihm darüber unterhalten. Sein Leben als Theaterautor, sagt Fosse, habe er "nun beendet, um dahin zurückzukehren, wo ich herkam [nämlich Lyrik und Prosa]. Das Schreiben für das Theater war nur ein Abschnitt, es war wie ein Flow, alle Stücke sind miteinander verbunden, man kann sagen: ein Universum." (Vielleicht kann ja Matthias Dell auch noch die Landkarte "Das Jon-Fosse-Universum" erstellen?) Die Beobachtung, dass er nach einer regelrechten Fosse-Manie auf deutschsprachigen Bühnen aktuell nicht mehr viel gespielt werde, wendet er ins Allgemeine: "Ja, als ich anfing, für das Theater zu schreiben, gab es ein großes Interesse für Stücke, besonders in Deutschland. (...) Der Autor war wichtig, aber nun seid ihr mehr oder weniger zurück beim deutschen Regietheater. Beim Berliner Theatertreffen war kein zeitgenössischer Autor dabei, nur einige Projekte, alles andere waren Bearbeitungen von Klassikern. Autoren werden nicht mehr gebraucht – ist zumindest mein Eindruck." Lieber Jon Fosse, dann schauen Sie doch einmal ins Theater heute-Jahrbuch und lesen dort die Laudatio von Wolfram Lotz. Siehe oben!

 

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