Liebe Liebe!

von Petra Hallmayer

München, 18. September 2014.Sie ersparen einander nichts. In Edward Albees Ehegruselschocker von 1962 "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" benutzt ein älteres Paar ein jüngeres als Publikum für seine Schaukämpfe. Spätabends finden sich Nick und Honey zu einem Absacker im Haus des Geschichtsdozenten George und seiner Frau Martha, der Tochter des Collegerektors, ein, wo sie in deren garstige Rituale hineingezogen werden. Ungeniert verhöhnt und demütigt Martha ihren Mann, der ihre Ambitionen nicht realisiert hat und es ihr nicht minder brutal heimzahlt.

Der Kriegsschauplatz ist im Residenztheater ein erhöhter laufstegschmaler laborweißer Raum. Darunter türmen sich zerbrochene Flaschen und Gläser, liegt ein Scherbenhaufen, der im Laufe einer langen versoffenen Nacht der Enthüllungen, die auch die Glückslüge von Nick und Honey entlarvt, stetig anwächst. "Fun and Games", Spaß und Spiele, kündigt zum Auftakt von Martin Kušejs Inszenierung im Residenztheater eine giftgrüne Leuchtschrift an. Als "Spiele mit festen Regeln" bezeichnen George und Martha ihre Grausamkeiten. Erlaubt ist, was richtig weh tut: Sie platzieren ihre Schläge präzise in die Schmerzzentren des Anderen.

Hauptsache Gefühl
Die Gesellschaftskritik in Albees Stück interessiert Kušej nicht weiter, der vielmehr, wie er im Vorfeld der Premiere erklärte, eine "ganz große Liebesgeschichte" erzählen will. Tatsächlich kann man das, was George und Martha auf dem Trümmerfeld ihrer Ehe verbindet, Liebe nennen. Schläge sind auch eine Form der Berührung; solange sie sich wechselseitig verwunden, fühlen sie sich einander nahe. Sich bekriegend kämpfen sie umeinander, und nichts fürchten sie mehr als Indifferenz. So schluchzt Martha plötzlich leise auf, als  sich George, nachdem sie mit Nick geschlafen hat, völlig gleichgültig gibt.

Virginia2 560 AndreasPohlmann uNora Buzalka (Honey), Bibiana Beglau (Martha), Norman Hacker (George), Johannes Zirner
(Nick) © Andreas Pohlmann

Wie so oft arbeitet Kušej mit harten Abblenden, diesmal allerdings ist das keine kluge Entscheidung. Indem er den Text in Tableaux zerstückelt, dämpft er seine Wucht ab, verliert die Eskalation der bösen Spiele ihre Dynamik. Wenn sich Martha und George ineinander verkrallt haben, treibt Kušej sie auseinander, wenn sich eine Szene zu fesselnder emotionaler Intensität steigert, geht das Licht aus, bricht sie jäh ab. Die Struktur der Inszenierung kühlt die Hitzigkeit der Gefechte ebenso ab wie das abstrakte eisschrankkalte Bühnenbild. Das könnte durchaus sinnvoll sein, wenn sich dadurch ein geschärfter analytischer Blick auf die Beziehungen der Protagonisten eröffnen würde. Dies aber ist leider nicht der Fall. Kušej, der sich einer gerafften, leicht modernisierten Version der alten Übersetzung von Pinkas Braun bedient, hält sich eng an die Vorlage, ohne neue aufregende Akzente zu setzen.

Von der Hölle ins Fegefeuer?
Ein großer Theaterabend gelingt ihm zum Spielzeitauftakt nicht, doch immerhin eine hochkonzentrierte Aufführung, deren Stärke ein überzeugendes Ensemble mit einer herausragenden Bibiana Beglau ist. Beglau, die in der "Theater heute"-Kritikerumfrage unlängst zur "Schauspielerin des Jahres" gekürt wurde, trifft souverän jeden Ton. Sie faucht giftig, brüllt und keift lustvoll ordinär als tyrannische Verführerin und ewige Vatertochter Martha, deren Sehnsüchte und deren Kinderwunsch unerfüllt blieben, senkt im nächsten Augenblick die Stimme mit würgender Traurigkeit. Sie buhlt tief verletzend und verletzt um ihren Mann, sackt nach ihrem misslungenen Akt mit Nick in sich zusammen zur Elendsgestalt, richtet sich abrupt wieder herrisch auf, um auf diesem herumzutrampeln. Norman Hacker als George mimt einen selbstbeherrschten Intellektuellen, der seine Wunden mit ätzendem Sarkasmus kaschiert und anderen Geständnisse entlockt, die er erbarmunglos gegen sie einsetzt. Johannes Zirners erniedrigter Karrierist Nick sucht verbissen seine Männlichkeitsfassade aufrecht zu erhalten. Nora Buzalka macht aus dem sonnig-naiven Dummerchen Honey keine schrille Karikatur, sondern gibt ihm einen trotzigen Rest an Stolz und Würde.

Virginia3 560 AndreasPohlmann uAufbruch ins Fegefeuer? Norman Hacker und Bibiana Beglau © Andreas Pohlmann

Im dritten und letzten Akt holt George schließlich zum entscheidenden Schlag aus und zwingt Martha, sich von der Flucht in eine Fantasiewelt zu verabschieden. Am Ende legen sie erschöpft die Waffen nieder, greift Martha nach Georges Hand, scheint Hoffnung auf, die zu teilen allerdings viel Optimismus erfordert. Aber wer weiß, vielleicht gelingt es den beiden ja, für eine Zeitlang aus der Hölle ins Fegefeuer umzuziehen.

Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
von Edward Albee
Übersetzung: Pinkas Braun
Regie: Martin Kušej, Bühne und Kostüme: Jessica Rockstroh, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Bibiana Beglau, Norman Hacker, Johannes Zirner, Nora Buzalka.
Dauer: Zwei Stunden, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

So etwas wie Comic Relief gebe es bei Kušej deutlich dosierter als bei anderen Regisseuren des Stücks, findet Christoph Leibold auf dradio Kultur (24.9.2014). "Die drei Aktes des Stücks sind hier, durch knappe Blackouts unterbrochen", das sorge für zusätzliche Verdichtung und Schärfung. "Die süffisantesten Pointen sind konsequent gestrichen, und nur die fiesesten übrig geblieben". Manchmal befalle einen der Phantomschmerz, weil man grandiose Dialoge vermisst, "bald aber ist man verblüfft, wie zielsicher Martin Kušej die Schmerzpunkte des Stücks aufdeckt".

Christopher Schmidt schreibt in der Süddeutschen Zeitung (20.9.2014), der Abend "dringt nicht bis zum Herzen des Stücks vor, er schaut ihm bloß in die Unterhose." Durch die Schwarzblenden könne sich kein Rhythmus, kein flüssiges Zusammenspiel ergeben. Kušej lasse den Text zeitgemäß schneller und härter spielen. "Aber sein Versuch, die Anatomie einer Ehe klinisch herauszupräparieren, ist ihm nicht geglückt. Für Operationen am offenen Herzen fehlt ihm das nötige Fingerspitzengefühl. Er hat es halt mehr mit dem Gewühl."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.9.2014) schreibt Gerhard Stadelmaier: "Martin Kušej ist ja der Regisseur, der es sich insofern immer sehr einfach macht, als er in der Vielfalt die Einfalt schätzt und sich als Simpel-Semiotiker meist mit einem einzigen Bild, einem einzigen Zeichen noch fürs Komplexeste begnügt." Während die Figuren bei Albee "Springteufel" seien, würden sie durch die Aufblenden zwischen den Szenen bei Kušej "lahme Enten. Aber durchaus mit Kitschbürzeln." "Nach zwei Stunden ist Kušejs Schlachtplatte leergescherbt. Es war, als hätte es die ganze lange Nacht geweilt."

"Kušejs Inszenierung blickt nicht nur auf dieses Paar und dessen Ehekrieg voller Demütigungen", findet Michael Schleicher im Münchner Merkur (20.9.2014). Unterbrochen vom harschen Auf- und Abblenden des Lichts seziere Kušej konzentriert diese eine Beziehung, um Allgemeines zu erfahren: Seht sie euch an, diese lächerlichen Menschen. Aber auch, immer tiefer schürfend: Seht her, was für eine starke, wahrhaftige Liebe! "Der permanente Wechsel von hochtourigem Spiel und abrupter Unterbrechung gibt dem Abend eine eigene Dramaturgie." Ein Fest für jeden guten Darsteller, die vier auf der Bühne feiern es genussvoll und virtuos.

"Das Drama einer Unbefriedigten, die nicht lieben kann, weil sie den eigenen Mann ständig mit dem Collegedirektor-Übervater vergleicht, zelebriert Bibiana Beglau als grosse Oper mit abrupten Tempowechseln", so Silvia Stammen in der Neuen Zürcher Zeitung (23.9.2014). Zusammen mit Regisseur Kusej finde sie zwischen schnurrender Salonlöwin und Abscheu versprühender Megäre immer wieder starke Einzelbilder des Zurückgeworfenseins. "Doch es bleiben – scharf belichtete – Momentaufnahmen", weil sich zwischen Beglau und Norman Hacker keine echte Dynamik entwickele und nur selten Nähe spürbar werde. Zuletzt beschleiche einen das Gefühl, dass es – worst case – diese Liebe, um die hier so verzweifelt gekämpft wird, womöglich auch nie gegeben hat. 

 

 

Kommentare  
Virginia Woolf, München: völlig verdient
Beglau ist völlig verdient Schauspielerin des Jahres!
Virginia Woolf, München: immer in die Unterhose
ja, ich kann mich der kritik nur anschließen: M.K. kann jedes noch so gute stück kaputt inszenieren, er blickt immer nur in die unterhose und traut dem zuschauer nicht zu, auch ohne brutale überhöhte darstellung dem text folgen und das ansinnen des autors folgen zu können. wie immer gibt es eine (halb-)nackte - M.K. scheint immer noch im theater der 70er zu stecken, wo in jedem stück ein schock durch einen nackten menschen hervor gerufen werden musste.
schade um das brilliante stück und um die brillianten schauspieler, die sicherlich an das ewige (alp-)traumpaar taylor/burton hätten heranreichen können, hätte man sie gelassen.
SCHADE!
Virginia Woolf, München: schmerzt in der Erinnerung
Das Stück "Wer hat Angst vor Virginia Wolf" in der Münchener Inszenierung st eine Zumutung an, die bis in die Körperverletzung geht. Schon das breite Neonlicht am Sockel der Bühne schmerzt noch in der Erinnerung. Einige gut gespielte Szenen am Anfang können nicht darüber hinwegtrösten, dass es eine grausige-grausame Vorstellung ist, was dem Zuschauer geboten wird: keinerlei Handlung, keine Kulissen, nichts Aufbauendes, ein wenig Witz, aber kein Humor. Der Regisseur wusste, weshalb es keine Pause vorsah; in diesem Fall hätten wir das Theater verlassen, vielleicht einige mit uns. Schade um das Geld, schade um die Zeit, schade für das Residenztheater, das früher mitreißende und aufbauende Theaterabende gestaltet hat!
Virginia Woolf, München: wirkt ausgedacht
Beglau ist leider eine völlige Fehlbesetzung. Kein tieferes Verständnis für die Figur, irgendwie exaltiert und angriffig, aber das alles wirkt aufgesetzt und ausgedacht.
Virginia Woolf, München: nah am Stück
@dr. crimmann, manchmal hilf es, sich vor dem Theaterbesuch über das stück zu informieren, denn kusej bleibt ja doch sehr nah am stück. dann gibt es auch keine so "böse" Überraschung.
Virginia Woolf, München: aufbauend?
@dr crimann II und was bitte ist ein "aufbauender" Theaterabend?
Virginia Woolf, München: Verärgerung
was war das für ein Schmarrrrrrn. (…)
Mit diesem Stück habt ihr es mal wieder geschafft, einen Theatergänger zu verärgern, und zwar so, dass er künftig zu Hause bleibt.


Petra Be.
Wer hat Angst vor Virginia Woolf, Wien: manipulativ
Nachhaltiges Theater - Wer hat Angst vor Virginia Woolf im Burgtheater Wien
Die Mitteilung des Deutschen Bühnenvereins vom Juli 2019, dass in der Saison 2017/18 die deutschen Theater mit etwa 23 Millionen Besuchern genau so viele wie in der Vorsaison hatten, täuscht etwas darüber hinweg, wie wenig Menschen eine Theater-Inszenierung erreicht. Die besten Schauspiel-Inszenierungen bringen etwa 40 – 50 Tausend, maximal 100 Tausend Zuschauer; Winnetou steht bis zu 4 mal besser da. Was ist nachhaltiges Theater?
Sicher gehört eine Inszenierung in die Kategorie „Nachhaltig“, die - unverändert - 5 Jahre nach ihrer Premiere in München für ein volles Wiener Burgtheater sorgt: „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ in der Regie von Martin Kušej.
Edward Albee hatte 1962 ein intellektuelles Verwirrspiel veröffentlicht, das sich auf keinen Fall festnageln lassen will (zumindest nicht so wie heute in Lexika weisgemacht wird), ein „Tollhaus“, in dem vor allem die beiden Hauptpersonen Martha und George (und wohl auch der schreibende Autor) ständig - wie agile Boxer - die Positionen wechseln und irrlichtern. Auch darf man – in Übereinstimmung mit den Lexika - dem Schluss nicht trauen, der Kinderlosigkeit als einfache Erklärung für die Hassliebe zwischen Martha und George anbietet.
Mir scheint, dass dem Text eine Unschärferelation innewohnt: Fixiert man auf Martha, wird George unscharf, und umgekehrt verschwimmt Martha, wenn man auf George fokussiert. Wenngleich George wohl mehr vom Autor hat und sich zudem sowohl als Repräsentant des Westens („Ich gebe Berlin nicht auf!“) wie auch dessen scharfer Kritiker („Und der Westen, …, muss eines Tages zugrunde gehen.“) ausgibt, ist Bibiana Beglau als Martha in Kušejs Inszenierung die absolut dominierende Schauspielerin und markiert damit die Grundperspektive.
Die Mär von der „ganz großen Liebesgeschichte“, die Kušej angeblich erzählen will, ist wohl auch nur ein Irrlicht.
Sicher hatte der riesige Erfolg von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ als Theaterstück und vor allem als Film mit Liz Taylor und Richard Burton in den 1960er Jahren damit zu tun, dass man die explizite Sprache über (Hetero-)Sexualität als Befreiung erlebte.
Bei Kušej, der sich dabei durchaus auf Albee berufen kann („Der ganze Raum wird von einer fahrbaren Bar beherrscht.“), ist die ganze Bühne eine hell ausgeleuchtete Bar und das Stück wächst aus der durch hochprozentige Alkoholika katalysierten Enthemmung zum durch leer gesoffene Flaschen und Gläser visualisierten Scherbenhaufen schonungs- und rücksichtsloser Entblößung. Diese Entblößung wirkt heute total uncool, wo Frau und Mann sich bei stillem Mineralwasser und gluten- und laktosefreier veganer Kost selbst inszenieren und vermarkten.
By the way ist der Zug endgültig abgefahren, dass sich die Amerikaner und Russen zusammentun, um aus der „Gelben Gefahr“, den Chinesen, gemeinsam „Hackfleisch“ zu machen.
Aber diese verwirrenden Schnipsel in Albees Text markieren etwas, was mir bei Kušej als Aktualisierung herausgearbeitet scheint: Es geht vor allem um Macht. Und bei Kušej geht es vor allem um die Instrumentalisierung ihrer sexuellen Reize durch Frauen zur Machtausübung. Wenn es dafür Beistand braucht: „Martha seems to try to gain power through sexuality. … As Martha puts on a sexy dress, flirts with Nick, and reveals secrets from her sexual past, she is attempting to gain some authority. She insists, through this behavior, that she made her own decision and that she can control men.“ https://www.sparknotes.com/lit/afraidofwoolf/section2/
Männer - wie Nick - kontrollieren oder -wie ihren eigenen Mann George - erniedrigen: “A great…big…fat…FLOP!”
Für mich war die Wiederaufnahme von Kušej an der Wiener Burg eine nachhaltige Anregung.
Kommentar schreiben