Fiebertraum vom eisigen Leben

von Alexandra von Arx

Bern, 8. Februar 2008. Nelli, Eva oder Mignon wird sie genannt – aber eigentlich heißt sie Lulu. Die Frau, die allen den Verstand raubt. Verführung pur. Die personifizierte Lust, die ihre Liebhaber schneller wechselt als ihre Kleider. Viermal verheiratet – und treu war sie keinem. Doch es ist ihr nicht zu verübeln: Der erste Gatte, Professor Goll, ist ein alter Mann mit einem schwachen Herz.

Ihr zweiter, der Porträtist Eduard Schwarz, lässt sich, wie Lulu sagt, "anlügen, dass man den Respekt verliert." Schließlich hat er ihr geglaubt, dass er es war, der sie entjungfert hat, und schlitzt sich dann verzweifelt die Kehle auf, als er die Wahrheit erfährt. Dr. Schöning, ihr dritter Ehemann, ist Chefredaktor und lässt sie wegen seiner Arbeit ständig allein. Als er herausfindet, mit wem allem sie ihn betrügt, fordert er sie auf, sich umzubringen. Sozusagen in Notwehr erschießt sie ihn. Und der vierte, Alwa, ist der Sohn aus erster Ehe von Dr. Schöning und ein Verlierer, der nicht einmal für den Lebensunterhalt aufkommen kann.

Düsteres Licht, pulsierendes Herz

Im letzten Akt ist Lulu geworden, was sie nie sein wollte: einsam. Das macht auch die Bühne von Ute Lindenbeck deutlich. Wo anfangs ein schimmernder Vorhang im vorderen Drittel einen überschaubaren Raum und Geborgenheit schafft, rutscht dieser bis zum fünften Akt so weit nach hinten, dass die Bühne schließlich ganz geöffnet ist und die Figuren darauf verloren und ausgeliefert wirken.

Der letzte Akt dieser Monstretragödie, wie Frank Wedekind seine Urfassung der Lulu von 1894 im Untertitel nannte, spielt in London. Die eisig leuchtenden Bodenplatten und das düstere Licht verbreiten Unwohlsein. Dazu pulsiert ein elektronischer Klangteppich (Musik: Philipp Ludwig Stangl und Michael Frei) wie ein schwaches Herz. Der kuschelige Schaffellteppich ist verschwunden.

Die sezierte Frau

Die Wärme suchende Lulu hat hier keine Überlebenschance. Die Freier, welche sie mit nach Hause nimmt, ähneln wie in einem Fiebertraum ihren verstorbenen Ehemännern. Am Ende wird sie nicht von einem Lustmörder umgebracht, sondern von zwei Wissenschaftlern. "We are lucky dogs to find this curiosity", stellen die mit blutverschmierten Chirurgenhandschuhen nach getaner Arbeit fest. Lulu, ein Kuriosum. Ein Objekt.

Davor gibt es einige witzige Momente, wie zum Beispiel wenn Rodrigo Quast sich panisch mit Kaviar vollstopft, um für seine Begegnung mit der Gräfin von Geschwitz aphrodisiert zu sein. Oder wenn alle versuchen, französisch zu reden, weil sie sich in Paris befinden. Oder berührende Momente, wie da, wo die einst so vergötterte Lulu friert und ihr Gatte Alwa nur von einer Zigarre fantasiert und ihr Vater einfach weiter von einem Weihnachtspudding träumt.

Posse oder Tragödie?

Seit Lulu im ersten Akt hüpfend und tanzend das Atelier von Schwarz betreten hat, sind dreieinhalb Stunden vergangen. Dreieinhalb Stunden, während derer die Inszenierung von Hausregisseur Ingo Kerkhof am Stadttheater Bern immer wieder zwischen überzeichneter Posse und Tragödie schwankt und damit befremdet. Oder die Figuren – trotz tadellosem Spiel – zwischen stereotypen Puppen und psychologischen Charakteren hin und her baumeln. Obwohl Friederike Pöschel als Lulu die Männer mit ihren Reizen umgarnt und mit ihren Beinen umschlingt, wirkt sie dabei auf diese Dauer etwas eindimensional und zu durchschaubar.

Nie glaubt man ihr ganz, dass sie die Fäden wirklich in der Hand haben könnte. Zwar wechselt sie mit jedem Mann Frisur und Stil, aber die Abhängigkeit von Liebe und Anerkennung bleibt. Gar hilflos wirkt Lulu mit ihren überdrehten Posen. Da ändert es auch nichts, dass ihre Verehrer ähnlich verunsicherte Figuren spielen, an der Nadel hängen wie Dr. Schöning oder wie Alwa koksen. Nelli, Eva oder Mignon – trotz dem Reichtum an Namen, ist diese Berner Lulu zu facettenarm.

 

Lulu. Eine Monstretragödie
von Frank Wedekind
Inszenierung: Ingo Kerkhof, Bühne: Ute Lindenbeck, Kostüme: Dinah Ehm, Musik: Philipp Ludwig Stangl und Michael Frei.
Mit: Friederike Pöschel, Stefano Wenk, Michael Frei, Matthias Brambeer, André Benndorff, Ernst C. Sigrist, Henriette Cejpek, Heiner Take, Diego Valsecchi, Marco Massafra, Heidi-Maria Glössner, Marie Hiller, Sabine Martin, Matthias Brambeer, Heiner Take, Stefano Wenk, Marco Massafra, Diego Valsecchi, Hasan Koru.

www.stadttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

Charles Linsmayer schreibt in Der Bund (11.2.2008) über die Berner "Lulu", dass Ingo Kerkhof "allen Figuren Raum und Zeit bis zum Gehtnichtmehr" gebe, Szene um Szene extensiv durchwalze und dabei vor allem eines erreiche: "Verdruss und Langeweile an einer Vorführung, die uferlos lang ist." Das liege nicht zuletzt "an der Heterogenität von Kerkhofs Konzept. Um Psychologie wenig bekümmert, lässt er die meisten Nummern wie Marionetten- oder Kasperletheater spielen. Slapstickhaft schnell und wie am Schnürchen wird da verführt, geliebt, gehasst, getrennt und gestorben." Am Ende sei "das Kasperletheater plötzlich vorbei", die Ermordung Lulus werde "zum brutalen blutigen Horror mit Folterkammer, Psychoterror und markerschütternden Todesschreien." Immerhin lieferten die Mitglieder des Ensembles "jede Menge origineller Charaktere und Physiognomien", doch "ein wirklich zündendes Konzept" hätte "aus einer amüsanten Starparade ein packendes Drama machen können".

Friederike Pöschel habe "durchaus das Zeug zur Lulu", schreibt Noemi Gradwohl in der Berner Zeitung (11.2.2008): "Bei ihr ist sie eine naive Göre, schwankend zwischen Kalkül, Inszenierung und Herzensgewalt. Ihre Triebkraft ist nicht der soziale Aufstieg – den erhält sie quasi nebenbei. Pöschels Lulu hat Angst vor der Einsamkeit." Doch nach der Pause drossele Regisseur Ingo Kerkhof das Tempo, zögere "den Szenenanfang aufs unerträglichste" hinaus. Die Folge: Die Lulu vertrinke "samt einer verschwommen gezeichneten Entourage in der Langeweile der Szenerie, ihre Aura verpufft – der Spuk ist vorbei." "So wie die Bühnenausstattung mit zunehmender Spieldauer bis zur Brandmauer nach hinten rutscht, so verliert die Inszenierung parallel dazu an Tiefe."

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