Ruth Glöss, in der Rolle „Fool“, Berliner Ensemble: SHAKESPEARES SONETTE von Robert Wilson und Rufus Wainwright, Zusammenstellung der Texte: Jutta Ferbers, Fotografin: Lesley Leslie-Spinks

Much Ado about Nothing or It’s never too late to critize

Ein Abend im BE

„Du, dessen Schatten Schatten licht macht, sag,
Was zeigt dein Schattenbild für Bilderwelt …“
William Shakespeare, Sonett XLIII

„Wovon wir, von denen der Surrealismus ausging,
geträumt haben, das wurde von ihm eingeholt,
indem er über uns hinausging.“
Louis Aragon

Zunächst der Schock: „Uraufführung: 12. April 2009“. Wie konnte ich nur glauben, von etwas zu berichten, das sich gerade erst auf den Weg gemacht hat, statt fast schon vollendete Vergangenheit zu sein? Die ebenso ernüchternde wie schlichte Antwort auf diese Frage lautet, daß es mir tatsächlich gelungen ist, über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren die Berliner Theaterlandschaft erfolgreich aus meiner Wahrnehmung zu verbannen. Müßig, nach Ausreden für meine Ignoranz und von Kind bis Kaninchen, vom Keller bis zum Dachboden nach möglichen Gründen für diese Dauerabstinenz zu suchen. Und während ich noch damit beschäftigt bin, die tiefenpsychologischen Motive für mein Vermeidungsverhalten zu ergründen, ereilt mich die segensreiche Eingebung eines Vergleichs mit jener anderen Art von Kritik oder Beschreibung, die sich, statt mit Theaterstücken oder playwrights mit dem mehr oder minder beglückenden Inhalt von Flaschen beschäftigt. Schließlich erachtet man noch Weine aus längst vergangenen Zeiten, die ganze Jahrzehnte im Keller verschlafen haben, um endlich ihrer Bestimmung zugeführt zu werden und so ihre lang ersehnte Uraufführung zu feiern, für würdig, nicht nur genossen, sondern ausführlich besprochen und beurteilt zu werden. Derart ermutigt und rehabilitiert kann ich mich also endlich meinem Gegenstand zuwenden.

Es gab eine Zeit, das muß so in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein, da war das sogenannte Theater eines gewissen Robert Wilson der Mittelpunkt der Erde oder doch wenigstens der damals bekannten Theaterwelt. Das, was Wilson mit solchen Bühnenprojekten wie der legendären Inszenierung von Heiner Müllers Hamletmaschine oder The Life and Times of Sigmund Freud seinem rasant wachsenden Publikum zugemutet hat, stellte nicht weniger als eine radikale Neuerfindung dessen dar, was man in Europa bis zu diesem Zeitpunkt unter dem Wort Theater verstand. Jeder, der eine Eintrittskarte für eine der frühen Inszenierungen Wilsons ergattert hatte (einer von ihnen, der für die folgende Rezeption von Wilson überaus einflußreich werden sollte, war kein geringerer als Louis Aragon, der in der Pariser Aufführung von LTF die Erfüllung des surrealistischen Traums sah), hatte teil an einem Ereignis, das singulär und revolutionär war, wenn man unter Revolution die Ankunft des absolut Neuen verstehen darf, eine Veränderung, die, statt dieser oder jener Inhalte, die Form oder den Rahmen, das Medium Theater selbst betraf.

Wilsons Arbeiten, die Texte wie Bilder oder Skulpturen behandeln und gleichrangig neben das räumlich-choreographische Erfassen des Bühnengeschehens stellen und seit den frühesten Anfängen eine hochentwickelte und technikaffine Künstlichkeit in das Theater brachten, waren anfangs so neu, daß es fast nicht zu ertragen war. Wir waren geblendet vom Glanz dieser Neuigkeit. Nur die diffizile Anmut von Wilsons Bühnenarbeiten, das, was ihm schon damals den Vorwurf der allzu glatten Oberfläche, des schönen Scheins und des radikal Unpolitischen einbrachte, milderte diesen Schrecken des absolut Neuen ein wenig ab. Wobei man ehrlicherweise hinzufügen muß, daß noch die schwindelerregende Schönheit seiner Bühnenbilder, vielleicht gerade sie, ein massives Überwältigungs-potential besaß.

Vielleicht ist es so, daß wir erst jetzt, aus dem Abstand von Dekaden, ja eines halben Lebens, während derer Wilson zu einem Klassiker seiner selbst geworden ist und die Wilsonmania der ersten Tage sich einigermaßen beruhigt hat, den Schock dieses Neuen halbwegs verdaut haben. Die Reaktion einer Begleiterin an diesem Abend, die es fertigbrachte, zum ersten Mal in ihrem Leben Bekanntschaft mit einem Werk von Wilson zu machen, bestätigte diese Einschätzung. In ihrem Gesicht konnte ich noch nach der Aufführung von Wilsons Interpretation der Shakespeareschen Sonette am Berliner Ensemble wie in einem Spiegel die Wirkung des Schocks jener ersten Begegnung nachlesen. Und auch ich selber – der viele „Stücke“ des Meisters gesehen und mehrere Jahre mit einer seiner Assistentinnen liiert war, was mir unter anderem das Privileg der persönlichen Begegnung mit „Bob“ ermöglicht hat – spürte noch immer die Sogkraft seiner Arbeit.

Doch mit den Jahren ist das besagte Überwältigungspotential auf ein erträgliches Maß geschrumpft und ein gewisser Ermüdungseffekt hat sich beim Zuschauer breitgemacht. Zu vieles von dem, was auch an diesem Abend auf der Bühne aufgeboten wurde, hat man so oder anders schon etliche Male gesehen. Noch immer wandern Wilsons Scherenschnitte im berüchtigten slow motion von einer Seite zur anderen, immer noch werden Geräusche elektronisch verstärkt oder generiert, nach wie vor wird Licht wie etwas Stoffliches verhandelt und Text so rezitiert, als handele es sich um die Fassade eines Hauses oder den Faltenwurf eines Kostüms, während die Schauspieler (wenn auch nicht mehr ganz so drastisch wie früher) auf living sculptures, lebende Marionetten reduziert sind.

Gegen all dies wäre eigentlich nichts einzuwenden. Wilson würde lediglich das machen, was man wohlwollend als ein Sich-treu-bleiben oder, etwas polemischer, als Verwaltung seines Wiedererkennungswertes und Selbstzitat bezeichnen könnte, eine Tendenz zur Selbstreferenz, die vielleicht auch etwas mit dem Phänomen des Alterswerkes zu tun hat. Auch darf man es dem Regisseur wohl nicht verübeln, wenn er sich in seinem Spätwerk zunehmend seiner Homosexualität annähert und sie auf der Bühne thematisiert, würde dies nicht wie hier den inflationären Einsatz von gleich drei in Serie geschalteten Drag Queens in bodenlangen Kleidern und allen übrigen Insignien des Transvestitenfummels nach sich ziehen (auch die Verpflichtung der an diesem Abend wegen Krankheit ausgefallenen Georgette Dee gehört wohl noch hierher) – lauter Figuren, die unter rötlich glattanliegenden Perücken, glamouröser Federstola und grell geschminkten Gesichtern die Bühne bevölkern und in endlos langen Wiederholungen das mimische und gestische Stereotyp der „Transe“ bedienen. Man muß nicht homophob, nicht einmal heterosexuell sein, um das ermüdend und auf plumpe Weise provozierend zu finden.

Eine weitere Veränderung zu dem, was man aus früheren Inszenierungen kennt, scheint die gewachsene Ironiefähigkeit des Regisseurs zu sein. Das unaufhörlich in Szene gesetzte Kokettieren und Witzeln von Wilsons Figuren mag man vielleicht noch gutheißen, weil es dem Ganzen die Langeweile jenes Ernstes nimmt, die aus dem Pathos seiner Inszenierungen resultiert, doch durch ihren flächendeckenden Einsatz bekommt die verströmte Heiterkeit etwas Penetrierendes, und schließlich glaubt man zu durchschauen, daß sich hier jemand mächtig ranschmeißt. Ob nun das augenzwinkernde Aus-der-Rolle-fallen des dickleibigen Cupido, genial verkörpert von Georgios Tsivanoglou (der noch das Fehlen Georgette Dees in den Entr’actes ein ums andere Mal spielerisch vergessen macht), der Einsatz lauter kleiner Lustgestalten, quäkender und quietschender „Knaben“ in viktorianisch inspirierten Pumperlhosen, die munter über die Bühne strampeln und stampfen, als hätte das irgendeine Bedeutung für das Ganze oder das Anflirten des Publikums durch eine jener Kunst-Transen, man meint die Angst des Regisseurs vor einer Ablehnung durchs kritische Berliner Publikum mit Händen greifen zu können.

Anbiederung – mir fällt kein freundlicheres Wort für diesen Aspekt des Bühnengeschehens ein – scheint auch das richtige Stichwort, wenn es um das geht, was man Wilsons Theater seit seinen Anfängen abgesprochen hat, das Politische in einem wie auch immer gearteten Sinn, es sei denn, man ist sophisticated genug, es als eine Funktion der Form zu betrachten und dieses bis an den Rand seiner Auflösung getriebene Politikverständnis diskursiv in Szene zu setzen.

Wenn Wilson beispielsweise ein schräg aufgerichtetes Autowrack in die Mitte der Bühne plazieren läßt, das von dem Torso eines Baumstumpfs gepfählt wird, wirkt das in etwa so politisch wie die Verteilung von Kaugummi mit Ethikgeschmack ans Publikum. Dagegen mutet ein anderes Bild, das Breitwandgemälde mit ausgemergeltem Hund, der, übergroß vor einer wüsten Landschaft aus Müll aufgestellt, sehr malad und hinfällig wirkt, geradezu mutig an, fast wie ein stummer Protest gegen die Vergewaltigung der Natur oder unseren Umgang mit den natürlichen Ressourcen.

Wilson hat, glaube ich, einmal vom Fernsehen gesagt, daß es ihn nicht interessiere, da die Bildschirme so klein seien, daß sie nicht seine Aufmerksamkeit fesseln. Nun aber finden sich gleich zwei Fernsehbildschirme auf der Bühne des BE, die verschiedene Szenen aus Deafman Glance, einer Inszenierung aus dem Jahre 1970, zeigen, in denen ein farbiger Junge (gespielt von Raymond Andrews) agiert, einmal mit seiner schwarzen Hand ein Glas schneeweißer Milch entgegennimmt, ein anderes Mal von einer Frau (Sheryl Sutton) mit einem Messer erstochen wird, während die Drag Queens im Vordergrund zwischen den Fauteuils aus der Hand des Möbeldesigners Wilson ihre selbstverliebten Kreise ziehen.

Es sind Bilder wie diese, die zugleich das Kleinteilige und Herbeizitierte wie Berechnete, Gewollte von Wilsons „Politikverständnis“ belegen. Das Politische wird hier wie auch in allen anderen Szenen auf ein Zitat herunterdividiert, ohne eine Form von Mehrwert oder übergeordneten Sinn zu produzieren. Scheinbar gibt es nur eine Angst für den Regisseur Wilson, die größer ist als die, nicht geliebt zu werden, diejenige, auf eine konkrete Aussage oder gar Botschaft festgelegt zu werden.

Auf der anderen Seite hat man dem Vorwurf der Beliebigkeit nicht zu unrecht entgegengehalten, daß sich bei Wilson die innere Logik der dramaturgischen Strukturen aus ganz anderen Quellen als denen eines kohärenten Plots oder einer storyline, einer wie auch immer gearteten Erzählung speist, sich einer im Wortsinn ästhetischen Inspiration verdankt, die eine viel größere Nähe zum Bildlichen als zum Literarischen aufweist. Doch es ist ebenso wahr, daß diese Inspiration mal stärker und mal schwächer ausfällt, einzelne Szenen rund und dicht erscheinen und andere gewollt oder gar überflüssig. Und so ist es vielleicht auch kein Zufall, daß der zweite Teil von Wilsons Bühnenbearbeitung der Sonette relativ deutlich gegen den ersten abfällt. Ein gewisser Leerlauf macht sich breit, und man wird das Gefühl nicht los, daß nach der kurzen Pause auf Teufel komm raus die Sendezeit gefüllt werden mußte, um im Bild zu bleiben.

Der massive Einsatz von Technik bringt diese Form des Theaters überdies in eine extreme Abhängigkeit und macht es hochempfindlich gegenüber Störungen. Ein lapidarer Stromausfall würde es augenblicklich vernichten. Auch an diesem Abend wurde mit großem technischen Aufwand eine Staffage erstellt und wie ein Fremdkörper in das altehrwürdige Berliner Ensemble Bertolt Brechts implantiert, eine Staffage, die nicht aus sich selbst lebt, sondern buchstäblich gestellt wirkt. Aber vielleicht ist die Einlösung jenes Traums von einem anderen Theater, in dem sich Wort und Klang gleichrangig neben Bild und Bewegung in der Schwebe halten, um sich, von den Zwängen der Narration erlöst, auf der Wolke des Anti-Utilitaristischen in eine nahezu vollkommene Freiheit zu erheben, nur möglich mithilfe dieser partiellen Enteignung der dramaturgischen Mittel, der teilweisen Übereignung der künstlerischen Autonomie an die Technik, der Kunst an das Künstliche.

Trotzdem kann man nicht behaupten, daß die vermeintlichen oder tatsächlichen Neuerungen dieser Inszenierung gegenüber früheren Arbeiten Wilsons diese wirklich bereichert hätten. Eher noch betreiben sie Raubbau am Mutterboden seiner ursprünglichen Leistung, die in der metonymischen Verschiebung vom traditionellen Sprechtheater hin zu einem Theater der Formen und Bewegung liegt und eine Art dialektischer Synthese mit dem Tanztheater darstellt. Dessen Geburt aus dem Geiste des Choreographischen ist mir spätestens hier wie Schuppen von den Augen gefallen (Wilsons Übervater ist, wie man einem dem Programmheft hinzugefügten Text Heiner Müllers aus dem Jahre 1986 entnehmen kann, nicht zufällig über lange Jahre Balanchine gewesen).

Unerwähnt geblieben ist bisher das Phänomen der alten Schauspieler, in diesem Fall, der beiden großen alten Damen Inge Keller (Shakespeare) und Ruth Glöss (Narr). Den Kunstgriff Wilsons, Schauspieler auf der Höhe ihres Alters kurz vor deren Ableben noch einmal auf die Bühne zu ziehen und so mit ihrem letzten großen Auftritt von der Aura ihrer nahen Sterblichkeit zu profitieren, mit dem Abglanz ihres Greisentums die eigene Arbeit zu überziehen und sie auf diese Weise zusätzlich mit Bedeutung aufzuladen und zu auratisieren – dieses Spiel (dasselbe, das ein Wim Wenders mit Orten treibt, wie etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die vorvereinigte Brache des Potsdamer Platzes im trüben Licht des Himmels über Berlin belegt), diesen eigentümlichen Zug mag man zwiespältig und ausbeuterisch, ja zuhälterisch finden, seine Wirkung ließ auch an diesem Abend nicht lange auf sich warten.

Dennoch muß man zugeben, daß das Ganze ungeachtet aller Längen und Beliebigkeiten, auf deren Streichung ein durchsetzungsfähiger Dramaturg gedrungen hätte, zu den besten Arbeiten Wilsons gehört. Sehenswert macht dieses „Stück“ alleine schon der von der wunderbaren Anke Engelsmann verkörperte „Sekretär“. Der bloße Möglichkeitsbefund dieser liebenswerten Gestalt erscheint mir über die Maßen trostspendend. Die leicht verspielte Milde und Fröhlichkeit dieser Kunstfigur ist geradezu tröstlich für das ganze restliche Dasein, ihre heitere Bescheidenheit und Freundlichkeit macht einem Mut für das weitere Leben, ja selbst noch für den eigenen Tod.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß gegenwärtig gleich drei Inszenierungen von Wilson am BE zu besichtigen sind, ein Umstand, mit dem die Theaterleitung als sensationelle Weltneuheit wirbt. Einen Artikel mit Überlegungen zur Gesamtentwicklung von Wilsons Oeuvre zu veröffentlichen, ohne dem Vollständigkeitswahn nachgegeben und alle diese Inszenierungen gesehen zu haben, mag der eine oder andere als sträfliches Versäumnis empfinden. Allein, nach all dem Beschriebenen will sich nicht der rechte Glaube einstellen, daß ein Besuch der übrigen Veranstaltungen etwas Substantielles an den obigen Auslassungen ändern würde, und noch viel weniger die Lust, erneut ins Bad der ewig gleichen Bilder zu tauchen. Was im übrigen weder etwas mit Vermeidungsverhalten noch mit offener Ignoranz zu tun hat, um hier den Kreis zu schließen.

Nur eine winzige Anekdote von zwei Bekannten fällt mir noch ein, die ebenfalls in den vergangenen Wochen in die Shakespeare-Inszenierung gingen. Erst nach einer halben Stunde bemerkten die beiden, daß sie dasselbe Stück vor Monaten schon einmal gesehen und offenbar gleich wieder vergessen hatten. Diesem unfreiwilligen Kommentar zur Halbwertzeit von Wilsons Arbeiten muß man eigentlich nichts mehr hinzufügen.

 

Foto: Ruth Glöss, in der Rolle „Fool“, Berliner Ensemble: SHAKESPEARES SONETTE von Robert Wilson und Rufus Wainwright, Zusammenstellung der Texte: Jutta Ferbers, Fotografin: Lesley Leslie-Spinks

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