21 November 2023

Essay: Verlust und Versprechen. Über Hoffnung in der Politik.

Hoffnung ist ein vieldeutiger Begriff. Wir hoffen auf eine bessere Zukunft für unsere Kinder, das Siegtor unserer eigentlich unterlegenen Fußballmannschaft, aber auch auf eine friedlichere Welt. Sie ist die Triebfeder der Utopie. Gerade in global aufgerauten lohnt es sich, den Begriff einmal genauer zu betrachten. 
 
Hoffnung als Begriff genau zu beschreiben, ist ähnlich vergeblich wie zu versuchen, Rauch mit den Händen zu einfangen. Kaum hat man die Umrisse ausgemacht, verflüchtigt er sich auch schon wieder, tritt in anderer Gestalt auf. Was bleibt, ist ein vages Gefühl, eine Ahnung, wenn man darüber nachdenkt.

Hoffnung verbindet Wunsch und Wirklichkeit über einen Gegenstand, auf den sie sich richtet – und das auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Ein Astronaut hofft kurz vor dem Start seiner Rakete ebenso darauf, heil zurück zur Erde zu kehren, wie Eltern darauf, dass ihre Kinder es einmal besser haben mögen als sie oder der Fußballfan auf ein Siegtor seiner eigentlich unterlegenen Mannschaft. Von einer Situation des Jetzt wird ein banger Blick in Richtung Zukunft geworfen: Was wird sein? Und: Wie wird es sein? – Diese Fragen richten Menschen an sich selbst; vor allem aber auch an die Politik. Darauf Antworten zu finden und die Erwartungshorizonte von Menschen zu strukturieren, ist in Gesellschaften im Wandel eine der vordringlichsten Aufgaben von Politikern.

Schaut man auf unsere Gegenwart, gibt es zunächst wenig Anlass für Optimismus. Kaum ein Bereich menschlichen Zusammenlebens, der nicht von großen Erschütterungen betroffen wäre. Der vom Menschen verursachte Klimawandel beschleunigt Dürren, entfesselt Stürme, macht ganze Regionen unwirtlich. Die Weltbank rechnet bis 2050 mit bis zu 216 Millionen Klimaflüchtlingen, die innerhalb ihrer jeweiligen Heimatländer dazu gezwungen werden, umzusiedeln.

In der Politik folgt derzeit eine Krise in hoher Taktung auf die nächste: War es gestern noch die Corona-Pandemie, welche die Welt für einen kurzen Moment anhielt und dann für eine lange Weile nicht mehr losließ, sind es nun der brutale Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt oder der schreckliche Terrorangriff, den die Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel verübte. Die Bilder aus Butscha, Mariupol oder Bachmut, die verwackelten Aufnahmen von Hamas-Terroristen, die wehrlose Menschen auf einem Open-Air-Festival erschießen oder entführen, haben international namenlose Bestürzung ausgelöst. Wo soll es hier Raum für Hoffnung geben?

Es ist dies vielleicht die tröstlichste Eigenschaft der Hoffnung, dass sie den Menschen selbst in seinen dunkelsten Stunden nicht verlässt. Sie ist so etwas wie der warme E-Dur-Akkord des Beatles-Songs „A Day in the Life“, der sich aus dem orchestralen Chaos des Finales schält und über vierzig Sekunden lang andauert. Er trägt den Hörer über das Lied hinaus. Vielleicht lässt sich Hoffnung am ehesten in diesem Bild fassen.

Sie erscheint eng verwoben mit dem Glauben an Fortschritt. Dieser wiederum ist ein Versprechen der Moderne und wurde von Politikern beinahe jeder Couleur immer wieder gegeben. Für den deutschen Soziologen Andreas Reckwitz ist dieses Versprechen durch die diversen Krisen der vergangenen Jahre inzwischen „brüchig“ geworden, wie er dieses Jahr in einem Interview (vor dem Terrorangriff der Hamas) mit der Neuen Zürcher Zeitung sagte. Unter dem Einfluss von Krisenerfahrungen würden sich Fortschritts- und Verlusterfahrungen neu austarieren.

In seinem letzten, unvollendet gebliebenen Projekt wollte sich der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch mit der „Erlösung im Zurück“ befassen. In seiner Projektskizze, die auf der Website des ZfL abrufbar ist, hält er eine besondere Dialektik der Verlusterfahrung fest. So sorge sie zum einen dafür, dass Menschen sich einer „Goldenen Vergangenheit“ zuwendeten, um einen „heilen Urzustand der Menschheit“ wiederherzustellen, zum anderen sei gerade dieses Bestreben auch der Kern des Fortschrittsdenkens. Damit ist Schivelbusch sehr nah bei Ernst Bloch, der schrieb, dass das „Es war einmal“ in Märchen „nicht nur ein Vergangenes, sondern [auch] ein bunteres oder leichteres Anderswo“ bedeute. Hier offenbart sich die Tragweite der Hoffnung.

Sie überbrückt das Spannungsfeld zwischen Verlust und Versprechen, Sehnsucht und Erlösung. Sie ist Triebfeder und Richtbild. Sie macht das Undenkbare denkbar, greifbar. Somit ist sie die Wurzel der Utopie. Vielleicht ist es dies, was Bloch meinte, als er schrieb, es komme darauf an, das Hoffen zu lernen. Die Erfahrung der Hoffnung als anthropologische Grundkonstante wäre somit nicht mehr als eine Anbahnungsphase. Das Hoffen lernen hieße, sie gestalterisch, also, produktiv, einzusetzen. Während Angst lähmt, macht Hoffnung leicht: Es wird schon alles nicht so schlimm werden, oder aber: Noch schlimmer kann es nicht kommen.

Lernen heißt in diesem Fall, sich einer eigenen Erfahrung gleichsam mit dem Blick anderer anzunähern und sich so zu neuen Gedanken anregen zu lassen. Aus einer vagen Idee wird ein konkretes Bild, aus scheinbar achtlos hingekritzelten Strichen auf einem Papier, entsteht ein Gesicht.

Was heißt all das für die Politik?

Statt – wie derzeit in verschiedenen Ländern, auch in Deutschland, zu beobachten ist – mit den realen Abstiegsängsten der Menschen zu spielen und aus der Sehnsucht nach einem vermeintlich besseren Gestern eine düstere Antriebsenergie zu ziehen, Menschen gegeneinander auszuspielen und billigen Applaus für populistische Äußerungen einzuheimsen, sollte Politik nie die Kraft unterschätzen, die von der Hoffnung auf ein besseres Morgen ausgeht.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Barack Obama die US-Präsidentschaftswahl 2008 mit zwei Wörtern gewonnen hat. „Hope“ und „Change“ – in Großbuchstaben. Man könnte von sich bedingenden Wörtern sprechen. Ohne Hoffnung gibt es keinen Wandel. Und was wäre Wandel anderes als die (realistische) Umsetzung einer Utopie?

Es lassen sich mit der Hoffnung also Wahlen gewinnen, wenn man ernsthaft und nicht bloß rhetorisch an einer Vision für ein Zusammenleben einer Gesellschaft im Wandel arbeitet.

All das mag wie eine Binse klingen, es mag gar banal erscheinen. Es ist alles andere als das. Hoffnung ist der Schlüssel dafür, aus der Zukunft auf die Gegenwart zu blicken. Diese Perspektive entlehne ich Roger Willemsens nachgelassener „Zukunftsrede“ „Wer wir waren“, die im Jahr seines Todes posthum erschien. Wenn er fragt: „Wer werden wir gewesen sein?“, so antwortet er zunächst scheinbar ohne jede Hoffnung: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst“ (S. 43). Die Tatsache jedoch, dass Willemsen mit einem Blick aus der Zukunft über die Gegenwart nachdenkt, lässt erahnen – der späte Melancholiker Willemsen, war nicht bereit, uns einfach aufzugeben. Er strukturiert nur unsere Erwartungen neu, indem er festhält „[…] die alte Zukunft hat keine Zukunft“ (S. 53). Und genau deshalb müssen wir alles tun, um aus dem, was wir mit dem flirrenden Begriff Hoffnung meinen, ein bunteres, leichteres Anderswo zu machen, um noch einmal Ernst Bloch zu zitieren. Was hätte mehr Zukunft, als das Hoffen wieder zu lernen?


20 Oktober 2023

„An einem Jahrmarkt der Eitelkeiten bin ich nicht interessiert“ – Jens Wawrczeck im Interview.

Jens Wawrczeck und ich treffen uns am Vormittag des 8. September 2023 im Grindelviertel in Hamburg. Wir sprechen über die „Drei ???“, deren zweitem Detektiv Peter Shaw er seit 1979 seine Stimme leiht, darüber wie die Schauspielerei ihm dabei geholfen hat, seine Schüchternheit als Kind zu überwinden und die vielen unterschiedlichen Projekte, die er dies- und jenseits der Bretter, die die Welt bedeuten umsetzt. 2020 erschien zum Beispiel seine erste Gesangsplatte „Celluloid“, am 16. November folgt sein Buch „How to Hitchcock. Meine Reise durch das Hitchcock-Universum“ (dtv).

 

Tobias Lentzler: Lieber Jens, Du bist am 12. Juli 60 Jahre alt geworden. Aber eigentlich bist Du seit 1979 ja bloß ein paar Jahre älter geworden. Denn seit dieser Zeit sprichst Du Peter Shaw bei den „Drei ???“. Wie schaffst Du es, Deine Stimme so frisch und lebendig zu halten, dass man als Hörer das Gefühl hat, dass in diesen fast 45 Jahren gar nicht so viel Zeit vergangen ist?

 

Jens Wawrczeck: Ich bin sicher, wenn Du Dir eine frühe Folge im Vergleich zu einer der neuen Aufnahmen anhörst, bemerkst Du einen Unterschied. Alles andere ist genetisch ein Glücks- oder ein Unglücksfall. Je nachdem, wie man das betrachtet (lacht). Ich tue aktiv nichts dafür, esse keine Kreide oder so etwas. Das Wichtigste ist, in die jeweilige Situation einzusteigen. Wenn ich im Studio sitze und weiß, dass ich Peter Shaw spreche, habe ich ein anderes inneres Tempo, eine andere Temperatur als in der Rolle von Umberto Ecos Baudolino, in der ich ein ganzes Leben – von jung bis sehr alt – stimmlich abbilden musste.

 

Tobias Lentzler: Wie siehst Du Peter Shaw als Figur eigentlich? Immerhin ist er ja eine Rolle, der Du – wenn man es über die Jahre rechnet – sehr viel Zeit eingeräumt hast. 

 

Jens Wawrczeck: Biographisch ist Peter Shaw ein ganz wichtiger Teil meines Lebens. Denn wie Du ganz richtig sagst: Ich bin seit Jahrzehnten mit dieser Figur, Heikedine Körting, Oliver Rohrbeck (spricht Justus Jonas, Anmerkung TL) und Andreas Fröhlich (spricht Bob Andrews, Anmerkung TL) verbandet. Ich mag Peter Shaw. Ich finde ihn deshalb so sympathisch, weil er so wenig berechenbar ist. Er wird zwar häufig auf den Angsthasen reduziert, aber das ist bloß ein Teil seiner Persönlichkeit. Peter ist auch mutig. Und seine Emotionalität gefällt mir und macht ihn für mich als Sprecher sehr reizvoll.  Peter darf wütend werden, empathisch sein und hat Humor. Natürlich ist er auch mal ängstlich. Dass er so viele Farben hat, finde ich schön. Peter ist nicht „quadratisch, praktisch, gut“. – Es ist für unser Zusammenspiel ein großes Glück, dass die Autorinnen und Autoren der Serie die Dynamik zwischen Justus, Bob und Peter so gut kennen, dass unsere Dialoge entsprechend pointiert geschrieben werden. Dass, was wir persönlich in die Rollen einbringen, wird überschätzt. Es sind vor allem jene im Hintergrund, Heikedine Körting, André Minninger und die anderen im Team, die uns die Bühne bereiten.

 

Tobias Lentzler: Die „Drei ???“ sind mit über 50 Millionen verkauften Tonträgern und 150 Gold- bzw. Platin-Platten die erfolgreichste Hörspielserie der Welt. Sind es vor allem die von Dir erwähnten Leute im Hintergrund, die den Erfolg dieser Serie ausmachen? 

 

Jens Wawrczeck: Auf jeden Fall. Aber vielleicht ist es am Ende auch eine Kombination aus vielen Faktoren, von denen sich einige nie werden erklären lassen können. Wir hatten das Glück, dass die Serie Ende der 1970er-Jahre offenbar einen Nerv traf. Oliver, Andreas und ich mögen die ideale Besetzung gewesen sein, vor allem war aber Heikedine Körting die richtige Regisseurin und Produzentin für die „Drei ???“. Auch die Ästhetik der Serie, die markante Optik mit den Covern von Aiga Rasch hat den Erfolg der „Drei ???“ ausgemacht. Und die Figuren Justus, Peter und Bob waren allein daher ungewöhnlich, da sie sich – obwohl beste Freunde – nicht immer einig sind. Natürlich ziehen sie letztendlich immer am gleichen Strang und sind einander gegenüber loyal, aber ihre Unterschiedlichkeit sorgt für eine produktive Reibung, die die Serie seit Jahrzehnten lebendig hält. 

 

Tobias Lentzler: Eine letzte Frage zu den drei Detektiven. Gibt es für Dich einen Moment, an dem Du für Dich sagen würdest: „Jetzt höre ich auf mit den drei Fragezeichen“? Denn auch ihr werdet älter und spielt noch immer 16 bis 18-jährige Jungs. 

 

Jens Wawrczeck: Ich kann keine Prognose darüber abgeben, wie lange die Serie noch laufen wird. Das Wunderbare an Hörspielen, Musik, Literatur und Filmen ist, dass sie ewig leben. In dem Moment, wo wir uns eine „Drei ???“-Folge anhören, stehen Justus, Bob und Peter im Zimmer. Und was mich immer wieder freut, ist, dass die Begeisterung für die „Drei ???“ quasi vererbt wird. Eltern geben sie an ihre Kinder weiter; sogar Ehen haben wir gestiftet, Menschen zusammengeführt. Häufig hören wir auch: „Wir sind gestern mit euch eingeschlafen“. Das ist eine sehr intime Beziehung zwischen den „Drei ???“-Fans und ihren Sprechern (lacht). 

 

Tobias Lentzler: Du hast in Hamburg, Wien und New York Schauspiel studiert, u.a. am renommierten Lee Strasberg Institute. Woher kam Deine ursprüngliche Faszination für das Theater und dann auch der Wunsch, Schauspieler werden zu wollen?

 

Jens Wawrczeck: Ganz ähnlich wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, war ich als Kind eher schüchtern. Trotzdem hatte ich das große Bedürfnis, mich auszudrücken. Schon mit sieben oder acht Jahren wollte ich entweder singen oder spielen. Denn sich im Schutze einer Rolle und eines Kostüms auf die Bühne zu stellen, ist sehr viel einfacher, als sich auf einer Party an einen Tisch zu setzen und zu sagen: „Hallo, ich bin Jens“. Das Bild eines Dampfkochtopfes passt eigentlich sehr gut: Hätte ich nicht ein Ventil für meinen Wunsch mich auszudrücken gefunden, wäre ich sehr unglücklich geworden oder in die Luft gegangen.

 

Tobias Lentzler: Das heißt, Alternativen hätte es für Dich nicht gegeben, oder? 

 

Jens Wawrczeck: Ich hatte kurzzeitig überlegt, was ich machen könnte, wenn es mit der Schauspielkarriere nicht klappen sollte. Ich hätte dann sicher studiert. Kurz hatte ich mich für Skandinavistik eingeschrieben, vielleicht sogar naheliegend, da ich in Dänemark geboren bin. Auch Philosophie oder Theologie hätten mich eventuell interessiert. Alles was zu konkret ist, macht mir Angst. 

 

Tobias Lentzler: Du hast im Laufe Deines Lebens viele bedeutende Rollen gespielt. Den Edgar in „König Lear“ in Bad Hersfeld unter der Regie von Volker Lechtenbrink, den Andreas Bleichenwang in „Was ihr wollt“ oder auch die Lady Bracknell in Oscar Wildes „Bunbury“. Welche dieser Rollen hat Dir besonders viel Freude gemacht? Und: Welche würdest Du gerne noch spielen?

 

Jens Wawrczeck: Lady Bracknell war für mich eine große Herausforderung. Denn eigentlich mag ich es nicht, wenn Männer Frauenrollen spielen. Gut, Jack Lemmon in “Some Like it Hot” ist genial. Aber es kippt für mich immer dann, wenn es zu einer albernen Travestie wird. Diese Rollen brauchen Ernsthaftigkeit und dürfen nicht ins Lächerliche gezogen werden. Als ich das Angebot bekam, die Lady Bracknell zu spielen, habe ich zunächst gezögert. Mit dem Regisseur Anatol Preissler war die Abmachung, dass ich die Lady so spiele, dass niemand merkt, dass ich ein Mann bin. Einige Zuschauer waren wirklich sehr überrascht. Rückblickend war das eine wirklich schöne Aufgabe. Denn Oscar Wildes Sprache – auch in der deutschen Übersetzung – ist großartig. Der Bogen für die humoristischen Pfeile, die man in so einer Rolle abschießen darf, muss sehr straff gespannt sein. Das macht das Ganze schauspielerisch reiz- und anspruchsvoll zugleich. Eine Rolle, die ich auch sehr gerne gespielt habe, war die des Erpressers in Ibsens „Nora“. Dass ich dafür eine wesentlich größere Rolle in einem anderen Stück ausgeschlagen habe, hat einige gewundert. Aber ich fand die Figur dieses Mannes, der sein Leben lang versucht auf einen grünen Zweig zu kommen, dem dann seine ganze, mühsam aufgebaute Existenz weggerissen werden soll und der aus der Not heraus zum Erpresser wird, ein großes Geschenk. – Du hast ja auch gefragt, welche Rolle ich in Zukunft gerne noch spielen würde. Mir ist bereits zwei Mal die Zaza in „La Cage aux Folles“ angeboten worden. Beide Male hatte ich dafür keine Zeit. Wenn man mir diese Rolle noch einmal antrüge, würde ich das auf jeden Fall machen. Und wo wir gerade bei Musicals sind: Bei „Der Mann von La Mancha“ wäre ich gern dabei. Egal, ob als Don Quijote oder Sancho Panza (lacht). Du siehst – es gibt eine ganze Menge an Rollen, die mich reizen würden. Es steht und fällt für mich aber immer mit dem Team. Es geht darum, gemeinsam etwas entstehen zu lassen, auf Entdeckungsreise zu gehen und das mit dem Publikum zu teilen. An einem Jahrmarkt der Eitelkeiten bin ich nicht interessiert.

 

Tobias Lentzler: So wie Du es gerade schilderst, merkt man, dass Du jemand bist, der die Bühne durch und durch liebt. Im Gegensatz zu Deinen langjährigen Wegbegleitern Oliver Rohrbeck und Andreas Fröhlich, die ihre jeweiligen Karrieren auf der Bühne bzw. vor der Kamera ja schon lange aufgegeben haben.

 

Jens Wawrczeck: Was mich am Theater reizt ist, dass man sich einer Rolle ganzkörperlich stellen muss. Das ist für mich ein sehr guter Ausgleich zur Tätigkeit als Sprecher. Ich habe das Gefühl, auf der Bühne auch meine Angst vor Zurückweisung und Ablehnung zu überwinden. Denn ich bin sehr gefährdet, Dinge aus Angst nicht zu tun. Da ich aber andererseits nicht von Ängsten beherrscht werden möchte, tut es mir gut, mich diesen Herausforderungen zu stellen.

 

Tobias Lentzler: Deine erste Rolle hast Du 1976 in Graham Greenes „Der verbindliche Liebhaber“ auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele gespielt. Nun kehrst Du mit Deinen Alfred Hitchcock-Abenden „Hitch und Ich“ regelmäßig dorthin zurück. Was bedeutet Dir gerade diese Bühne?

 

Jens Wawrczeck: Die Hamburger Kammerspiele bedeuten mir viel. Sicher hat es damit zu tun, dass ich dort bereits als Kind gespielt habe. Das mag sentimental klingen, aber die Bühne und der Saal der Kammerspiele haben eine gute Atmosphäre. Für die Hitchcock-Abende ist der Raum ideal, er ist in seiner Größe perfekt. Und die Location hat etwas sehr Intimes, da sie mitten in einem Wohngebiet liegt, einer der schönsten Gegenden Hamburgs.

 

Tobias Lentzler: Mit „Der Fall Paradine“ und „Eine Dame verschwindet“ setzt Du die eben schon erwähnte, sehr erfolgreiche Reihe "Hitch und Ich" diese Spielzeit fort. Wie bist Du auf die Idee gekommen, Dich den literarischen Vorlagen der Hitchcock-Filme zu widmen?

 

Jens Wawrczeck: Es hat mich schon sehr früh interessiert, woher Hitchcock seine Inspirationen für Klassiker wie „Psycho“ oder „Die Vögel“ hatte. Ich fing an zu recherchieren, und fand heraus, dass 42 seiner rund 50 Filmen auf literarischen Vorlagen basieren. Auf Erzählungen, Romanen oder Theaterstücken. Oft hat er für seine Filmversionen die Vorlagen stark verändert, teilweise, weil ihm der Hollywood Production Code keine andere Wahl ließ. Mir vorzustellen, wie bei der Lektüre dieser Werke der Funke auf Hitchcock übergesprungen ist, gefällt mir. Zwei dieser literarischen Vorlagen – „Immer Ärger mit Harry“ und „Das Haus von Doktor Edwardes“, die Vorlage zu Hitchcocks „Spellbound (Ich kämpfe um Dich)“ – habe ich für meine Hörbuchreihe eigens übersetzen lassen, da es von ihnen bisher keine deutsche Übersetzung gab. Nächstes Jahr soll eine weitere Premiere in deutscher Sprache folgen: der Roman „Man Running“ von Selwyn Jepson. Hitchcock machte daraus „Die rote Lola (Stage Fright)“. All diese Texte zu sichten ist für mich ein endloses Faszinosum. Ich prüfe dann nicht nur ihre Bühnentauglichkeit, sondern auch, ob sie zu mir passen, ob ich der geeignete Interpret bin, um sie einzulesen und auf der Bühne darzustellen. Manche Bücher funktionieren in der Hörfassung, aber bedauerlicherweise nicht auf der Bühne. „Über den Dächern von Nizza“ war so ein Fall.  

 

Tobias Lentzler: Auf Deiner Website steht präsent als allererster Satz, dass Du begeistert warst, als Du eine Truhe aus Doris Days Nachlass ersteigern konntest. Mit „Celluloid“ hast Du 2020 ein ganzes Musikalbum mit Filmsongs eingesungen, die Dir etwas bedeuten. Und am 16. November erscheint nun auch Dein Buch „How to Hitchcock. Meine Reise durch das Hitchcock-Universum“ bei dtv. Woher kommt Deine Faszination für die Vergangenheit des Films? 

 

Jens Wawrczeck: Es gibt für mich nichts Schöneres als durch Filme, Literatur oder Musik in andere Welten abzutauchen. Die heile Welt, die zum Beispiel in den Doris Day Filmen aufgerufen wird, ist für mich wie „Heiße Milch mit Honig“ oder der Teller Hühnersuppe, der die Erkältung verjagt. Filmklassiker wie Billy Wilders „Some Like it Hot (Manche mögen‘s heiß)“ sind aus gutem Grund unsterblich. Der Film ist auch nach über fünfzig Jahren noch quicklebendig, da schwingt etwas mit, das ich am ehesten mit Wahrhaftigkeit umschreiben könnte. Und das obwohl die Geschichte ja alles andere als realistisch ist. Auch Hitchcocks Filme sind wahr, ohne naturalistisch zu sein. Sie bilden keine äußere Realität-, sie bilden eine innere Realität ab; und zwar die der Personen, die im Mittelpunkt des Films stehen und mit denen wir uns identifizieren.   

 

Tobias Lentzler: Es ist eine Binse, dass Filme von den Schauspielerinnen und Schauspielern leben, die darin auftauchen. Du selbst hast schon mit einer ganzen Reihe von Legenden auf der Bühne gestanden. Volker Lechtenbrink war in Bad Hersfeld Dein Regisseur, Du hast mit Gerda Gmelin gespielt und mit Charles Regnier vor dem Mikrofon gesessen. An wen erinnerst Du Dich besonders? Welche Begegnungen sind Dir im Kopf geblieben?

 

Jens Wawrczeck: Charles Regnier hat mich sehr beeindruckt; auch, wenn ich nur in einem einzigen Hörspiel sein Partner war. Er hatte eine ganz besondere Art zu sprechen und eine natürliche Autorität, man spürte einfach seinen Intellekt, seinen Humor, seine Klasse. Trotz seiner Diskretion und Bescheidenheit, ein Mann mit Grandezza. Sehr gerne habe ich mit Ralf Schermuly gespielt, ich war der Klosterbruder neben seinem weisen Nathan. In meiner Zeit am Ernst-Deutsch-Theater stand ich auch ein paar Mal mit Friedrich Schütter auf der Bühne. Und natürlich denke ich voller Bewunderung an Gisela Trowe, mit der ich häufig im Studio saß. Eine außergewöhnliche Schauspielerin mit einer Jahrhundertstimme und einem Blick, der – wenn er Dich traf und sie Dich wahrnahm – wie ein Ritterschlag wirkte. Am Lee Strasberg Institute in New York wurde ich von einigen großartigen Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Paul Newman war einer von ihnen. Doch vor allem sind mir vier Schauspielerinnen in Erinnerung, deren Kurse ich besuchen durfte. Shelley Winters, Julie Harris - die mit James Dean in „East of Eden (Jenseits von Eden)“ gespielt hat und eine großartige Theaterschauspielerin war, Maureen Stapleton und Sandy Dennis, die für „Who’s afraid of Virginia Woolf? (Wer hat Angst vor Virginia Woolf?)“ den Oscar als beste Nebendarstellerin gewann. Da jede dieser Damen ihren Unterricht sehr persönlich gestaltete, lief ich nie Gefahr, mich an eine bestimmte Art des Spiels zu gewöhnen und es mir damit bequem zu machen.  Ihre Persönlichkeiten waren einfach zu verschieden. Ständig gab es neue Konfrontationen, neue Auseinandersetzungen, alles sehr konstruktiv und inspirierend. In New York bekam ich viele schauspielerische Impulse und habe gelernt, flexibel zu bleiben. Das hat mir später geholfen, mich auf die unterschiedlichsten Regisseure und Regisseurinnen und Bedingungen einzustellen. 

 

Tobias Lentzler: Eine letzte Frage, lieber Jens: Auf Deiner Website ist zu lesen, dass Du noch eine ganze Reihe von Projekten in der Schublade hättest. Welche sind das? 

 

Jens Wawrczeck: Ich möchte sehr gerne ein weiteres Gesangsalbum veröffentlichen. In den letzten Jahrzehnten bin ich überdies von Kolleginnen und Kollegen immer wieder gefragt worden, ob ich nicht Lust hätte, einmal selbst zu inszenieren. Auch das könnte ich mir inzwischen vorstellen. Und da jetzt bald mein Buch „How to Hitchcock“ erscheint, mache ich mir auch Gedanken darüber, einen Hitchcock-Abend der ganz anderen Art auf die Bühne zu bringen. Mir schwebt ein Ritt durch das Hitchcock-Universum vor, der sich vom Singen von Songs aus den Hitchcock-Filmen über Filmausschnitte und gelesene Passagen erstrecken könnte. – Ansonsten schließe ich auch nicht aus, noch einmal für längere Zeit ins Ausland zu gehen und einen Filmführer zu schreiben, der über Hitchcock hinausgeht. 

 

Tobias Lentzler: Es klingt wirklich so, als hättest Du gerade erst begonnen...

 

Jens Wawrczeck: ...erwachsen zu werden (lacht). Manchmal fühlt es sich so an. Obwohl ich sehr früh angefangen habe, bin ich ein Spätentwickler. Es braucht bei mir sehr lang, bis ich etwas final durchdacht und ausgebrütet habe. Deshalb denke ich manchmal: Das Leben ist zu kurz, um all das unterzubringen, was ich vielleicht noch machen möchte. Denn unabhängig von all dem, was mich beruflich reizt, habe ich ja auch noch ein Privatleben, dass nicht zu kurz kommen sollte. Wobei sich meine Faszination für Filme, Literatur und Musik gar nicht so streng von meinem privaten Ich trennen lässt. Leider oder glücklicherweise.

18 September 2023

„Das Teilnehmen an öffentlichen Debatten ist nicht unbedingt mein erster Reflex.“ – Ein Gespräch mit Christoph Möllers.

Christoph Möllers, 1969 in Bochum geboren, hat seit 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie inne. Außerdem ist er seit 2012 Permanent Fellow des Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sein Buch "Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik" erschien 2020 und wurde im Jahr darauf u.a. mit dem renommierten Tractatus-Preis des Philosophicum Lech ausgezeichnet. Am Morgen des 1. September 2023 treffen wir uns zu einem anderthalbstündigen Gespräch in den Räumlichkeiten des Wissenschaftskollegs. Es geht neben dem vorgenannten Buch auch um Christoph Möllers biographische Prägung und sein Verständnis der Rolle von Intellektuellen. 


Tobias Lentzler: Lieber Herr Möllers, ich habe in einem Artikel über Sie gelesen, dass Sie bereits mit 20 Jahren den Wunsch hatten, Professor für Öffentliches Recht zu werden. Woher kam diese frühe Zielstrebigkeit?


Christoph Möllers: Ich habe sehr früh gemerkt, dass ich gerne schreibe und auch, dass ich – bei Referaten etwa – gerne vor einer Klasse stehe. Eine weitere Prägung habe ich sicher durch meinen Vater erhalten, der in seiner Jugend auch einmal die Ambition hatte, als Professor an eine Universität zu gehen. – Ich hätte gerne Physik und Volkswirtschaftslehre studiert, habe aber früh festgestelltt, dass ich naturwissenschaftlich zu unbegabt bin, um das ernsthaft zu betreiben. Ich habe mir dann überlegt, dass ich etwas studieren möchte, was zum einen politisch, zum anderen aber auch theoriefähig ist. Dass es am Ende Verfassungsrecht geworden ist, kann ich am ehesten mit Intuition begründen. Denn in meinem familiären Umfeld kannte ich niemanden, der Jura studiert hatte. Verfassungsrecht liegt ja in der Mitte zwischen praktischer bzw. politischer Philosophie und etwas sehr Handfestem, Handwerklichem. 

 

Tobias Lentzler: Welche beruflichen Alternativen hätte es sonst für Sie gegeben?

 

Christoph Möllers: Ich hätte auf jeden Fall gründlicher Philosophie studieren wollen, als ich es gemacht habe – dann hätte ich mir auch eine ganze Menge an Literaturwissenschafts-Vorlesungen sparen können, die ich besucht habe (lacht). Aber auch rückblickend war es für mich die richtige Entscheidung bei Jura zu bleiben. Zwischen 19 und 34 Jahren habe ich das eigentlich sehr konsequent durchgezogen und fühle mich dort immer noch gut aufgehoben. 

 

Tobias Lentzler: Diese Konsequenz Ihres Handelns finde ich sehr beeindruckend. Denn gerade in jungen Jahren verändern sich der Fokus und die Interessen ja doch immer mal wieder.


Christoph Möllers: Ich wundere mich manchmal selbst darüber. Am Ende hatte ich Glück, dass ich mich aus den eigentlich falschen Gründen für das Richtige entschieden habe. Denn eine genaue Vorstellung davon, was Jura sei, hatte ich natürlich nicht.  


Tobias Lentzler: Sie sind 1969 im Ruhrgebiet geboren. Wie hat Sie Ihr Aufwachsen dort geprägt? Sind Sie mit der viel gerühmten "Malochermentalität" groß geworden?

 

Christoph Möllers: Ich glaube, ich weiß überhaupt nicht, was eine "Malochermentalität" ist. Meine Eltern sind Mittelschichtsbürger mit unterschiedlich stark ausgeprägten Verwachsungen im Ruhrgebiet. Für mich war es ein Ort, an dem ich machen konnte, was ich wollte. Ich war viel im Theater – damals war am Bochumer Schauspielhaus noch Claus Peymann Intendant; auch in die Essener Philharmonie bin ich viel gegangen. Mit dieser Ruhrgebietsmentalität, die Sie erwähnen, habe ich eigentlich nicht wirklich etwas anfangen können. Der Historiker Ulrich Herbert, der im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, hat mal einen sehr schönen Aufsatz darüber geschrieben, in dem er festhält, dass das Ruhrgebiet eigentlich eine Konstruktion ist, die es so nie gegeben hat. – Aus heutiger Sicht habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Region. Wenn ich dort hinkomme, habe ich das Gefühl, dass eine gewisse Tristesse und auch ein gewisser Fatalismus hindurch wehen. Die Region befindet sich mitten in einem lange andauernden Umbauprozess, die Armutsquote ist höher als im Bundesdurchschnitt. Andererseits finde ich es als jemand, der in Berlin lebt, sehr schön von irgendwo anders zu kommen.

 

Tobias Lentzler: Kommen wir vom Biographischen auf Ihre wissenschaftliche Arbeit zu sprechen. In einem alten "ZEIT Magazin"-Portrait von Heinrich Wefing habe ich gelesen, dass Wissenschaft für Sie ein "Ruheraum für Reflexion" sei. Sinngemäß haben Sie dort auch gesagt, dass es möglich sein müsse, Gesellschaften so zu analysieren, dass sich die Ergebnisse auch einmal gegen die Erwartungen einer Gesellschaft stellen. Diese beiden Äußerungen stehen exemplarisch für die Idealtypen des unabhängigen Wissenschaftlers, aber auch des öffentlichen Intellektuellen. Wenn ich versuche, diese Idealtypen mit unserer Gegenwart übereinzubringen, in der das Uneindeutige ein Opfer geworden zu sein scheint, dann frage ich mich zweierlei. Zum einen: Ist die Figur des public intellectual aus Ihrer Sicht tot oder quicklebendig? Und zweitens: Wie begreifen Sie diese Figur selbst?

 

Christoph Möllers: Ich habe mich nie rollentheoretisch verstanden, sondern immer von meinen Interessen aus gedacht. In die Figur des öffentlichen Intellektuellen bin ich ein bisschen hineingeraten und ich frage mich manchmal, ob ich dieser auch wieder entschlüpfen könnte. Um das Ganze vielleicht doch noch einmal biographisch zu wenden: Bis ich 35 war, habe ich gedacht, ich würde einfach Theorie treiben, doch dann bin ich, u.a. durch das Schreiben von Artikeln, auch in die Praxis hineingeraten. Seitdem jongliere ich beständig zwischen beidem. Als das Portrait von mir im "ZEIT Magazin" erschien, waren die Erwartungen an öffentliche Äußerungen noch deutlich weniger normativ aufgeladen. Man kann auch sagen: Es war wesentlich idyllischer. Natürlich ist es Unsinn zu behaupten, die Meinungsfreiheit sei heute unter Druck. Aber was sich schon feststellen lässt, ist dass es wesentlich mehr vorformatierte Diskurse zu geben scheint. Ich glaube aber nicht, dass dadurch die Figur des öffentlichen Intellektuellen stirbt. Der ist schon häufig genug totgesagt worden. Man muss für sich persönlich die Entscheidung treffen, wie sehr man sich am öffentlichen Diskurs beteiligen will. Ich habe das Privileg, dass ich mich auch auf meine akademische Laufbahn zurückziehen und nur noch Dinge tun könnte, die gesellschaftlich vielleicht als irrelevant angesehen werden. Das ist gewissermaßen sehr tröstlich für mich.

 

Tobias Lentzler: Nun haben Sie ja durch Ihre öffentlichen Auftritte, Zeitungsartikel o.ä. aber auf jeden Fall einen Äußerungstrieb. Gibt es irgendwelche Debatten, die Sie gerne anstoßen oder stimulieren würden?

 

Christoph Möllers: Ich muss noch mal einen Schritt zurückgehen und reflektieren, woher dieser Äußerungstrieb kommt. Ich bin das Kind eines Erwachsenenbildners. Verfassungsrecht hat eine sehr theoretische, sehr abstrakte Ebene; zugleich ist die Verfassung ja aber für uns alle da. Das zu erklären – auch ganz basal oder naiv – scheint mir wichtig. Daher habe ich mit erklärenden Sachbüchern angefangen. Das Teilnehmen an öffentlichen Debatten ist nicht unbedingt mein erster Reflex. Ich bin also eher an die Öffentlichkeit getreten, um komplexe Themen erklärbar zu machen. Gerade Juristinnen und Juristen neigen dazu, sich unerklärbar zu machen und damit Herrschaftswissen an sich zu reißen. Zugespitzt könnte man sagen: Mein Gegenimpuls, die Dinge verständlich zu machen, war sozialdemokratisch-aufklärerisch geprägt. Natürlich ist das aber nicht durchhaltbar. Epistemologisch ist es sogar naiv. Denn durch das Erklären verformt man natürlich die Dinge, die in Rede stehen. Um nun zu Ihrer Frage zu kommen: Es gibt sicher verschiedene Debatten, die aus meiner Sicht in unterschiedlichen Ländern schräg laufen und zu denen ich etwas beitragen könnte. Aber so zu tun, als hätte ich einen kompletten Überblick über alle möglichen laufenden Debatten, ist mir fremd. Wenn ich mich irgendwo einschalte, versuche ich, das Ganze auf mein Fach zurück zu beziehen.  


Tobias Lentzler: Exemplarisch für Ihr Verständnis des Eingreifens in die öffentliche Debatte scheint mir Ihr Aufsatz "Wir, die Bürger(lichen)" von 2017, den Sie im "Merkur" veröffentlicht haben. Er beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Autoritarismus und Demokratie und der Frage, wie Menschen, die sich selbst als "Mitte" begreifen, sich in dieser Debatte positionieren oder eben auch nicht. Der Essay wendet sich natürlich an ein intellektuelles Publikum, ist aber zugleich sehr zugänglich. Sätze wie "Niemand mag politische Parteien, und das ist nichts Neues" haben eine gewisse Flapsigkeit, treiben das Argument des Essays aber auch voran. In der Einleitung Ihres Buches "Freiheitsgrade" (2020) nennen Sie den Aufsatz zudem explizit eine Vorüberlegung des Buches. An einer Stelle Ihres Essays schreiben Sie von der "bürgerlichen Verachtung" gegenüber demokratischen Prozessen. Was genau meinen Sie damit?


Christoph Möllers: Viele Menschen meinen, dass ihre Teilnahme an der bürgerlichen Gesellschaft und auch alle Phänomene des bürgerlichen Erfolgs sich keinen politischen Prozessen verdanken würden. Das ist eine sehr verführerische, aber bei näherem Hinsehen sofort falsche Annahme. Denn alles hat einen bestimmten politischen Prozess durchlaufen. In aller Regel war dieser nicht egalitär. Die Selbstaufklärung, dass man nichts, was man hat, verdient, würde nach meiner Ansicht dazu führen, dass ein bürgerliches Publikum ein demokratisches Politikverständnis entwickelt. Natürlich heißt das nicht, dass all diese Menschen autoritär denken – es heißt eher, dass viele den letzten Schritt dessen, was Politik bedeutet nicht gehen können oder wollen. Denn wenn man der Überzeugung ist, dass alles, was man besitzt auf dem eigenen Verdienst beruht, fühlt man sich von dieser Erkenntnis vielleicht entwertet. 

 

Tobias Lentzler: Sie illustrieren dies in Ihrem Essay mit der quasi vorauseilenden Entschuldigung vieler Bürger, dass sie sich ja im Privaten engagieren würden – sei es für Flüchtlingsinitativen, als Nachhilfelehrer oder Tafel-Mitarbeiter. Die Mühen der Ebene, die Kärrnerarbeit des Parteidaseins lernt man so natürlich nicht kennen. Zugleich muss man jedoch konstatieren, dass ziviles Engagement in die Politik hineinwirkt. – Wenn wir einmal Ihren Befund ernstnehmen, dass politische Prozesse vor allem durch das Engagement in Parteien beeinflusst werden können, sieht es nicht gerade gut aus. Bis auf Bündnis 90/Grüne und die AfD, und in den letzten zwei Jahren auch die FDP, verlieren vor allem die Volksparteien seit vielen Jahren Mitglieder – durch Austritt, aber auch durch Tod. Von einem Wachstum politischen Engagements kann man also nicht sprechen. 

 

Christoph Möllers: Der Fall der AfD ist interessant. Ich habe das Gefühl, dass diese feste Verwurzelung im Osten Deutschlands für diese Partei eine große Stärke ist. Denn die Menschen im Osten haben die Erfahrung gemacht, dass man Regierungen stürzen kann, dass alles endlich ist. Völlig unabhängig davon, was man von der Partei politisch hält, kann man hier eine gewisse Politikfähigkeit konstatieren. Die kann ich in den Gebieten der alten Bundesrepublik so nicht erkennen. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Die AfD ist Ausdruck eines Zutrauens in Politik. Auch, wenn wir uns vielleicht eine andere Form derselben wünschen würden. Diese Stärke müssen wir verstehen lernen und uns im Anschluss fragen, was man daraus auch für andere Formen der Politik machen kann. Mir erscheint vor allem das Zutrauen darin, dass man mit einer Mischung aus Kampagnen- und Parteiarbeit etwas erreichen und Menschen mobilisieren kann, das zu sein, was allen anderen Parteien zurzeit fehlt.

 

Tobias Lentzler: In den Debatten der Gegenwart, in denen interessanterweise die beiden wachsenden Parteien an den entgegengesetzten Enden ihre Positionen beziehen, sprechen wir derzeit häufig davon, dass das "Moralische" (was auch immer das im Einzelnen sein soll), das Politische ablöse. Häufig geht es in Diskussionen als nicht mehr vordergründig um politische Entscheidungen, sondern moralische Abwägungen. Wie kommen wir da wieder heraus? 

 

Christoph Möllers: Jedenfalls nicht damit, dass die Mehrheitsparteien ein schlechtes Gewissen haben. Die Ausstrahlung der Politik in Bezug auf das Erstarken der AfD wirkt sehr defensiv. Häufig hat man das Gefühl, dass Politiker dieser Parteien annehmen, sie seien tatsächlich Schuld am Aufstieg der AfD. Uns fehlt ein republikanisches Selbstbewusstsein. – Es kommt hinzu, dass man als in der alten Bundesrepublik Geborener überhaupt keine Erfahrung mit politischen Auseinandersetzungen hat. Der Betrieb wird in gewisser Weise "durchverwaltet". Eine Form offensiven Bundesrepublikanismus gibt es nicht. Vielleicht wäre es gut, sich in dieser Hinsicht zu schulen. Die Bundeszentrale für politische Bildung kann dabei sicher nicht die einzige Lösung sein. 

 

Tobias Lentzler: Jan-Werner Müller hat in diesem Zusammenhang jüngst in der "ZEIT" davon gesprochen, dass Demokratien die Bereitschaft bräuchten, konstruktiv zu streiten. Es wirkt derzeit so, als versuche die Politik verzweifelt, aufreißende Gräben zuzuschütten. Aber wenn ein Graben geschlossen ist, tut sich kurz darauf ein neuer auf. Vielleicht müssen wir diese Konflikte für den Moment aushalten und austragen.

 

Christoph Möllers: Vor allem muss man den Leuten jeweils klar sagen, dass sie unrecht haben. Es wirkt paternalistisch, wenn zunächst Verständnis geheuchelt wird: "Ihr habt ja recht" und im nächsten Satz heißt es: "Politisch habt ihr euch aber verirrt". Entscheidend ist, konfliktbehaftete Themen – seien es zum Beispiel die Klimapolitik oder auch die Flüchtlingspolitik – offen zu problematisieren. Nehmen wir das Beispiel Migration: Diese ist objektiv betrachtet eine Herausforderung. Vor dieser stehen wir aber als Deutschland nicht alleine. Auch andere europäische Länder, ebenso die USA, müssen sich damit auseinandersetzen. Wir müssen klar benennen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, damit umzugehen. Keine wird alle zufriedenstellen. Dass man politisch Verfolgten Asyl gewährt, sollte in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein. Aber die Politik muss ihre Abwägungsprozesse besser erklären – auch, wenn das angesichts einer zunehmend fragmentierten Medienlandschaft schwierig ist. 

 

Tobias Lentzler: Das Stichwort Medienlandschaft möchte ich gerne aufgreifen. Sie haben im April 2023 der "taz" ein Interview gegeben, in dem Sie einen Gedanken aus "Freiheitsgrade" ausführen.  Dieser lautet, dass Freiheit, aber auch Demokratie eine körperliche Komponente haben. Die Digitalisierung hat ja zweifelsohne dazu geführt, dass unser Leben sich stark verändert hat. Kaum ein Prozess ist davon nicht betroffen. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung Ihrer Meinung nach auf das Politische?

 

Christoph Möllers: Ich bin ehrlich gesagt immer weniger zufrieden damit, die Digitalisierung als Erklärung für irgendetwas gelten zu lassen. Wir wissen mittlerweile zum Beispiel ja, dass die Filterblasen-Theorie nicht stimmt. Der Rückzug politischer Parteien oder gesellschaftlicher Akteure auf ihr Stammpublikum ist sicher real, aber ein Digitalisierungsphänomen ist das nicht. Denken Sie an die Fragmentierung der Gesellschaft des Kaiserreichs oder die Entstehung der Arbeiterbewegung. Das sind Phänomene, die man unter diesem Gesichtspunkt analysieren müsste. Der Rückzug auf Teilöffentlichkeiten, den man beispielsweise auch bei Zeitungen beobachten kann, lässt sich aus meiner Sicht nicht rein technisch begründen. – Ich bin kein Medientheoretiker, aber ich fände es interessant, statt von der Digitalisierung einmal von der Körperlichkeit her zu denken. Wenn wir uns fragen, was in den letzten Jahrzehnten anders geworden ist, so ist das selbstverständlich die Möglichkeit, jeden sofort ohne irgendwelche materiellen Schwellen erreichen zu können. Wenn ich früher einen Brief geschrieben habe, habe ich ihn vorher natürlich noch einmal durchgelesen. Ich musste ihn adressieren, eine Briefmarke draufkleben und dann zur Post bringen. Dabei konnte ich mir mehrfach überlegen, ob ich den Brief wirklich abschicken will. Diese Schwelle der unterlassenen Kommunikation ist eingerissen. Vielleicht fehlt uns diese Möglichkeit heute. Wenn wir dafür aber allein die Digitalisierung verantwortlich machen, schreiben wir die Geschichte der großen Digitalunternehmen mit und überhöhen ihre Bedeutung. Diese Unternehmen erschaffen die Illusion eines Zugriffs auf die Welt, der uns aber in keiner Weise dabei hilft, Probleme wie den Klimawandel in den Griff zu bekommen.

 

Tobias Lentzler: Die Welt zu beklagen, ist laut Wolf Lepenies seit jeher ein Topos der Intellektuellen. Liest man seine Dissertation "Melancholie und Gesellschaft" (1969), hält er an einer frühen Stelle fest, dass aus dieser Form des Beklagens utopisches Denken entstehen kann – frei paraphrasiert heißt es dort: Der Intellektuelle leidet an der Welt und erfindet eine bessere, die die Melancholie vertreiben soll. Wenn man diesen Ansatz mit Ihrem Buch "Die Möglichkeit der Normen" (2015) verbindet, in dem Sie Normen als "positiv markierte Möglichkeiten" begreifen, stellt sich für mich die Frage, welche Rolle Intellektuelle bei der Schaffung von Normen spielen.

 

Christoph Möllers: Das Buch hat ja einen analytischen Zugriff. Es ist sein Anspruch, den Normenbegriff zu entmoralisieren. Als Agenda für öffentliche Intellektuelle erscheint es mir daher nicht brauchbar. Denn wenn wir uns die Figur einmal anschauen, stellen wir fest, dass wir sie über viele Jahrzehnte stark normativ aufgeladen haben. Vielleicht sollte es aber eher darum gehen, den Intellektuellen als Mittler zu verstehen; als jemanden, der Erklärungen für bestimmte gesellschaftliche Phänomene anbietet. In einem Satz: Intellektuelle sollten nicht sagen, was sein soll, sondern warum etwas aus etwas anderem folgt. 

 

Tobias Lentzler: Trotzdem lässt sich aus meiner Sicht eine Verbindung zwischen der als "positiv markierter Möglichkeit" definierten Norm und der Figur des Intellektuellen ziehen – gerade, wenn man sie mit dem von Lepenies entwickelten utopischen Denken verknüpft. 

 

Christoph Möllers: Wenn man sich auf diese Verknüpfung einlässt, dann könnte man sagen, dass es in dem Buch darum geht, Pfadabhängigkeiten zu beschreiben, die auch verlassen werden können. Allerdings ohne den normativen Überschuss, den Intellektuelle häufig produzieren. 

 

Tobias Lentzler: Die Welt ist also nicht nur alles, was der Fall ist, um Wittgenstein einmal abzuwandeln.


Christoph Möllers: Genau. Aber natürlich benötigen alle anderen möglichen Pfade ebenfalls einer Rechtfertigung. Das unterscheidet die Argumentation im Buch übrigens in meinen Augen vom utopischen Denken, dass ja eher als Fluchtpunkt gedacht wird. 

 

Tobias Lentzler: Richten wir den Blick zum Schluss noch einmal auf die Zukunft – ganz ohne utopische Gedanken. Welche Themen treiben Sie aktuell in Ihrer Arbeit um? 

 

Christoph Möllers: Ich glaube, meine Existenz rechtfertigt sich vor allem darüber, dass ich neben dem Exoterischen auch Fachliteratur schreibe. Es wäre unglücklich, wenn das nicht mehr funktionieren würde (lacht). Gerade sitze ich an einem rechtsphilosophischen Buch, in dem es darum geht, die Ambivalenz der Rechtsformen klarzumachen. Denn auf der einen Seite wünschen sich Menschen Verrechtlichung; auf der anderen Seite ist das zunächst ein leeres Instrument. Alle Ordnungen – auch autoritäre – haben Recht. Diese Ambivalenz theoretisch zu beschreiben, ist das Oberthema des nächsten Buches.  


Tobias Lentzler: Herr Möllers, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.


 


29 März 2023

Der Erfahrungsraum der Gegenwart. – Ein Nachruf auf Wolfgang Schivelbusch.

Der anregende Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch ist am 26. März 2023 im Alter von 81 Jahren gestorben. Dieser Text ist eine persönliche Erinnerung und Würdigung. Zugleich führt er knapp in einen – aus meiner Sicht zentralen – Gedanken in Schivelbuschs Werk ein, der hilft, es zu systematisieren. 

„Erlösung im Zurück“, das war Wolfgang Schivelbuschs letztes, unvollendet gebliebenes Projekt, das er seit 2020 am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Eigenregie verfolgte. In kondensierter Form ruft er in der Beschreibung des Forschungsvorhabens noch einmal einige jener Gegenstände und Studien in Erinnerung, die ihn in den vergangenen vier Jahrzehnten beschäftigt und zu einem der interessantesten Gelehrten der Kultur- und Geschichtswissenschaften gemacht haben. So nennt er die Untersuchung von Verlusterfahrungen oder die geänderten Raum-, Zeit- und Lebensformen durch technologische Durchbrüche wie die Eisenbahn.

Mit einer „Geschichte der Eisenbahnreise“ trat Wolfgang Schivelbusch 1977 an die Öffentlichkeit; ein Buch, das noch heute als stilbildend gilt und sich der Frühphase der industriellen Revolution annäherte, in der Menschen die Eisenbahn als „Vernichtung von Raum und Zeit“ (Schivelbusch 2007 [1977], S. 35) wahrnahmen. Wenige Jahre später bearbeitete er in „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ (1980) die große Frage, welche Rolle Genussmittel in der Entwicklung der Geschichte des neuzeitlichen Menschen gespielt hätten. Anhand des schlichten sprachlichen Hinweises auf die leicht verschobene Bedeutung des Wortes „stimulants“ in englischer wie französischer Sprache im Gegensatz zu ihrem deutschen Pandant "Genussmittel", kommt er zu einer seiner Ausgangsthesen: „(…) nicht nur zum reinen paradiesischen Genuß haben diese Stoffe gedient. Sie haben immer auch gleichzeitig »Arbeit« geleistet. (…) Die Vorgänge, die die Genußmittel im menschlichen Organismus bewirken, vollenden sozusagen chemisch, was geistig, kulturell und politisch schon vorher angelegt war“ (Schivelbusch 1980, S. 11f.).

Nach den frühen Studien, die sich der Stofflichkeit von Gegenständen und ihrer Wirkung auf den Menschen verschrieben sahen, vollzog Schivelbusch Anfang der 1980er-Jahre einen ersten Wechsel der Blickrichtung. Er wandte sich der geistigen Arbeit zu, schrieb eine Intellectual History über die Frankfurter Intelligenz der 1920er Jahre, arbeitete später an einer Geschichte über das Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit („Intellektuellendämmerung“, 1982 und „Vor dem Vorhang“, 1995). In den letzten zwanzig Jahren setzte er sich dann intensiv mit der „Kultur der Niederlage“ (2001) oder dem militärischen „Rückzug“ (2019) auseinander oder stellte die Frage, ob eine „Entfernte Verwandtschaft“ zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal vorläge (2005). Weitere Bücher schrieb Schivelbusch z.B. über die Geschichte der künstlichen Helligkeit (1983) oder zur Bibliothek von Löwen, die sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach wieder aufgebaut worden war (1988).

Scheinbar abseitige Themen, kühne Gedankensprünge, meisterhafte Synthesen aus einer unermesslichen Fülle an Material, gesammelt über Monate in Archiven und Bibliotheken dies- und jenseits des Atlantiks – das zeichnete Schivelbusch aus.

Geboren wurde Wolfgang Schivelbusch am 26. November 1941 in Berlin, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte nach einem Volontariat beim „Wiesbadener Kurier“ Literaturwissenschaften, Philosophie und Soziologie – zunächst für ein Semester an der FU Berlin, dann an der Goethe-Universität in Frankfurt und später wiederum in Berlin. Er schloss sein Studium Anfang der 1970er-Jahre mit einer Promotion bei Hans Mayer ab. Während seiner Studienzeit besuchte er unter anderem die Vorlesungen oder Seminare von Theodor W. Adorno und Peter Szondi. In seiner glänzenden Autobiographie „Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin“ (2021) schilderte er seine Erlebnisse in den Vorlesungen und Seminaren Adornos so: „«Erleben» hieß (…) in meinem Fall: andächtig zuhören, ohne selber ein Wort zu sagen. Nicht als Lehrfach hatte ich mir die Philosophie vorgestellt, sondern als Selber Philosophieren. Also das, was mir später unter der Bezeichnung «Spekulation» bekannt wurde“ (Schivelbusch 2021, S. 30).

***

Das „freie Spekulieren“ brachte mich und Wolfgang Schivelbusch Anfang 2022 zusammen, nachdem wir Ende 2021 im Zuge der Veröffentlichung seiner Autobiographie schriftlich miteinander in Kontakt gekommen waren. Ich traf ihn in seiner Wohnung im Berliner Westend mit dem festen Ziel, ein Interview für meinen Blog zu führen. Am Ende saßen wir über drei Stunden zusammen und bewegten uns frei von Gegenstand zu Gegenstand – ein klassisches Interview war das nicht mehr. Dies ist eine Erfahrung, die Menschen offenbar häufig machten, wenn sie Wolfgang Schivelbusch begegneten. Peter Richter schreibt in seinem Nachruf für die „SZ“ treffend: „Er wollte die ganze Zeit viel lieber selber lernen, im Austausch mit dem Gegenüber die eigenen Gedanken entwickeln, manchmal verwickeln, und dann wieder aufrauen und stachlig machen“.

„Erzählen Sie“, sagte er also, kaum das wir uns mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Kaffee in sein Arbeitszimmer zurückgezogen oder ein Café betreten hatten. Und so begann ich, begannen wir. Alltagsbeobachtungen, Lektüreerlebnisse, Erkenntnisse aus meiner Archivarbeit für meine Dissertation über die Kritiker der Gruppe 47. In unserem gedanklichen Spaziergang passierten wir geschwungene Autokarosserien (ein mir völlig unvertrautes Gebiet), die Eigenarten der first name basis in den Vereinigten Staaten und wie deutsche Professoren sich Schivelbuschs Erinnerung nach damit schwertaten: „Die redeten sich auf Englisch mit ihren Vornamen an und sagten dann am Rande der Konferenz `Nachher sind wir wieder bei ‚Sie‘, Herr Kollege‘“.

Vor allem das große, sperrige, weil mit Bedeutung aufgeladene Wort „Nostalgie“ umkreisten wir in unseren Treffen immer wieder. Kein anderes Konzept (ich nutze dieses Wort in Ermangelung eines treffenderen und bin nicht sicher ob es Wolfgang Schivelbusch gefallen hätte) hat uns beide in unseren Gesprächen mehr interessiert. In ihm drücken sich Sehnsucht und Schmerz aus, Verlust und die Unmöglichkeit zurückzukehren. Gleichzeitig – und hier wird es dialektisch – ist diese spezifische Erfahrung (und vermutlich ist dies das Wort, das Schivelbusch weit passender gefunden hätte) ohne den Fortschritt nicht denkbar. So ist denn die Erforschung des (technologischen) Fortschritts, gestützt jedoch auf historische Quellen, auf Augenzeugenberichte, Studien, Aufsätze einer längst vergangenen Zeit, eines der Hauptthemen in Schivelbuschs Werk gewesen. Er betrachtete den Fortschritt also quasi im Rückblick. Somit erweiterte er den Erfahrungsraum der Gegenwart.

Schivelbuschs Arbeiten waren empirischer Natur, entsprangen der intensiven, monate- oft jahrelangen Beschäftigung mit dem „Material“ (ein von ihm häufig gebrauchtes Wort, dessen Betonung mir beim Niederschreiben vertraut in den Ohren klingt) und folgten zugleich keinem klaren bis zum Ende durchdachten Konzept. Sie waren geprägt von „glücklichen Zufällen“, wie er in unserem ersten Gespräch im Januar 2022 berichtete und nahmen den Gegenstand, dessen Aufmerksamkeit Schivelbuschs jeweiliges Werk gerade galt, als für sich genommen ernst.

Dass diese Hingabe an einen Gegenstand nicht ohne eine Wirkung auf den sich mit ihm beschäftigenden Menschen abgeht, hat Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch „Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion“ (2015) festgestellt. Wenn man nach einer Systematik hinter Schivelbuschs Büchern sucht, so wird man hier am ehesten fündig. Zentral für Schivelbusch ist in diesem schmalen Band der Begriff der „Konsumtion“, den er Marx entlehnt. Ebenso steht einmal mehr der Begriff der Arbeit im Fokus, der bereits frühere seiner Bücher durchzog.

Es ist die Leistung dieses Textes, den Prozess der Konsumtion – dessen physischen Vorgang er auch Assimilation nennt – genau nachzuvollziehen und festzuhalten, dass Gegenstand und Mensch einander wechselseitig beeinflussen: „Bildlich kann man sich den Vorgang vorstellen als ein Hinüberfließen des personalen Fluidums des Trägers auf den Gegenstand. Gleichzeitig verläuft der Strom jedoch in der umgekehrten Richtung“ (Schivelbusch 2015, S. 24). In den (mechanisch) verfertigten Gegenständen, seien es z.B. Schuhe, stecke immer auch etwas von ihrem jeweiligen Produzenten. So wie sich ein Schuh bei der Benutzung (ihrem Verbrauch) nach und nach dem Besitzer anpasst, passt auch der Besitzer oder dessen Körper sich dem Schuh an. Es mag sich Hornhaut ausbilden, eine bestimmte Fußstellung einüben o.ä.

Im Verlauf seines Textes reflektiert Schivelbusch, wie die Umstellung von der mechanischen auf die industrielle Produktion von Gütern das Verhältnis zwischen Mensch und Gegenstand verändert hat, spielt die Beziehung entlang des technischen Fortschritts durch bis in die nähere und nahe Vergangenheit, in der die hergestellten Produkte ihre Gestalt wandeln und zu Abbildungen im Bereich Fotografie, Fernsehen, Film werden. Es ließe sich hieran anschließend sehr gut fragen, ob die zunehmende Entfernung zwischen Produzent und Gut einen Einfluss auf deren Beziehung hat – gerade, wenn wir z.B. an Umweltzerstörung und Klimawandel denken, die Schivelbusch auf der letzten Seite des Textes benennt.

Den Verlust, der sich im Zuge eines jeden Fortschritts zwangsläufig ergibt, beschreibt Schivelbusch in seinen Büchern immer wieder. Sein letztes Projekt hätte den daraus resultierenden Blick zurück („Goldene Vergangenheit“) genauer untersuchen sollen, ebenso wie dessen ins Futur gewendetes Gegenbild „Goldene Zukunft“. Man hätte diese Arbeit gerne gelesen; gerade unter dem Eindruck aktueller politischer oder gesellschaftlicher Entwicklungen.

Leider wird seine letzte Arbeit unvollendet bleiben. Der inspirierende Denker und wache Beobachter Wolfgang Schivelbusch ist am 26. März 2023 mit 81 Jahren in Berlin gestorben.


07 Juli 2022

Stabilität und Utopia. – Die Vielzahl gegenwärtiger Krisen und einige subjektive Voraussetzungen für Visionen.

"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Dieses Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (1918-2015) wird immer wieder dann gerne hervorgeholt, wenn die ausgetretenen Pfade der Realpolitik verlassen werden. Doch welche Antworten auf die multiplen Krisen, die wir derzeit erleben, kann die Realpolitik geben? Und welche Rolle könnten Visionen dabei spielen, diese zu überwinden? Ein Essay über Stabilität und Utopie.

"Was hat dich bloß so ruiniert?", fragen die "Sterne" in ihrem 1996 erschienenen, gleichnamigen Song auf dem Album "Posen". Manchmal möchte man ob der gegenwärtigen Ereignisse aus dem "dich" ein "uns" machen. Egal, ob es um den Klimawandel, den Krieg in der Ukraine, eine dräuende Wirtschaftskrise oder die Beschneidung elementarer Rechte der Selbstbestimmung von Frauen über ihren eigenen Körper geht (Supreme Court-Entscheidung gegen das "Roe vs. Wade"-Urteil, welches Frauen in den Vereinigten Staaten das grundsätzliche Recht auf eine Abtreibung gab). Es scheint allzu leicht, am gegenwärtigen Zustand der Welt zu verzweifeln. Klug ist es nicht. 

Ohne Zweifel sehen wir uns derzeit mit einer neuen Phase der Instabilität konfrontiert. Der (noch nie selbstverständliche) Zuwachs eines immer mehr an Rechten für immer mehr Menschen ist ins Stocken geraten, die Zukunft liegt nicht mehr vor uns wie eine Verheißung - manche empfinden sie gar als bedrohlich. Ähnlich wie jemand, der sich unbemerkt von hinten anschleicht und uns plötzlich an der Schulter packt, erschrecken wir, fahren zusammen. Dabei blicken wir auf das Gewesene, das uns nun - denn wir bewegen uns ja doch Schritt für Schritt - je weiter wir uns davon entfernen, so vertraut vorkommt: Augenblick: Verweile doch! Du bist so schön! 

Es ist wie in Georgi Gospodinovs Buch "Zeitzuflucht", in dem er von einem Glauben in den Anden berichtet, der annimmt, die Zukunft läge hinter-, das Vergangene vor uns. Er schreibt: "Sie [die Zukunft, TL] kommt überraschend und unvohersehbar hinter deinem Rücken hervor, doch die Vergangenheit hast du immer vor Augen, sie ist schon geschehen" (Gospodinov, 2022, S. 316f.). 

Es ist dieses Spannungsverhältnis von einer uns stabil erscheinenden Vergangenheit und einem brüchigen Zukunftsversprechen, das uns vor der Vielzahl gegenwärtiger Krisen so starr und matt erscheinen lässt. Stabilität und Utopia stehen in einem Missverhältnis. - Eine derzeit häufig gegebene Antwort in der Politik ist, dass es nun pragmatische, "realpolitische" Lösungen brauche. Es wäre falsch, dies einfach abzutun. Denn selbstverständlich bedarf es bei gegenwärtigen Bedrohungen wie einer steigenden Inflation, dem durch Russland vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Ukraine, der grassierenden Waffengewalt in den Vereinigten Staaten oder einer sich verschärfenden globalen Hungerkrise schneller und "zielgerichteter" Lösungen. Aber allein mit der Eindämmung dieser Krisen ist es nicht getan. Denn je mannigfaltiger diese werden und auf je mehr Lebensbereiche sie abstrahlen, desto unwahrscheinlicher wird es, allein mit dem "Instrumentenkasten" (ein häufig gehörtes Wort unserer Zeit) der Realpolitik erfolgreich zu sein. Wir brauchen den Mut, uns umzudrehen, uns der Zukunft zuzuwenden und sie mit Visionen bewohnbar zu machen. 

Drei subjektive Voraussetzungen, die allein der Illustration dienen mögen, wie wir zu diesen Visionen kommen können, möchte ich exemplarisch skizzieren:

(1) Zusammendenken, was zusammengehört

Vor unser aller Augen breitet sich ein Panorama an Problemlagen aus. Diese könnten - alle für sich genommen - bearbeitet werden. Allerdings verkennt das einzelne Abarbeiten von Problemen (ausgelegt auf eine kurzfristige Lösung) seine Grenzen. Je mehr Probleme auftauchen, desto schwieriger wird es, sie auch für sich genommen zu lösen. Die Gründe hierfür liegen in ihrer jeweiligen Komplexität, dem monetären und personellen Aufwand (der sich vergrößert, je mehr Einzelprobleme vorliegen) und teils gegenläufigen gesetzlichen Regelungen, die zur Lösung der in Rede stehenden Themen getroffen werden. Konkurrierende Politikfelder und die manchmal unklare Zuständigkeit der jeweiligen politischen Ebenen (Kommune, Land, Bund) runden das Bild ab. Ein - allzu banal klingender - Lösungsansatz lässt sich unter dem Stichwort "Bündelung" zusammenfassen. Die Sammlung einer Reihe von ähnlich gelagerten Einzelproblemen und ihre gemeinsame Lösung setzt Kapazitäten und monetäre Mittel frei, um weitere Problembündel anzugehen. Zusammendenken, was zusammengehört heißt, mutig sein, Menschen mit unterschiedlichen Expertisen zusammenzubringen und diese gemeinsame Leitlinien für Problemkomplexe erarbeiten zu lassen. Dabei ist es lohnend, auch "fachfremde" Menschen in spezifische Themen einzubinden. Auch, wenn es zunächst seltsam anmutet: Es kann durchaus lohnend sein, einen Dichter und eine Finanzexpertin miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn die Kraft der Poesie liegt darin, mit Worten neue Türen zu öffnen. 

(2) Sagen, was ist

Demokratien leben vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Für eine umfassende Meinungsbildung bedarf es verlässlicher und vertrauenswürdiger Informationen durch Medien und Politikerinnen und Politiker, die in verständlichen Worten erklären, wie und warum sie bestimmte Themen bearbeiten. Darüber hinaus braucht es auch Foren der Verständigung: Regelmäßige Bürgerversammlungen und Konsultationsprozesse mögen hier ein Ansatz sein, um den Austausch zwischen Politik und Gesellschaft zu fördern. - Engagement benötigt zudem Vorbilder. Daher ist es wichtig, nicht nur die komplexen Problemlagen zu beschreiben, mit denen wir uns konfrontiert sehen, sondern auch "Geschichten des Gelingens" zu erzählen. Exemplarisch hierfür dienen Reportagen wie die von Deborah und James Fallows, die für das US-Magazin "The Atlantic" kleine Städte in den USA (fernab der überregionalen Berichterstattung) besucht haben, um sich ein Bild davon zu machen, wie fernab einer paralysierten Politik auf Bundesebene, kleine Ortschaften zu gemeinsamen kommunalen Lösungen finden. Trotz all der Probleme, mit denen sich auch diese Dörfer und Städte konfrontiert sehen, beschreiben die Fallows, wie viele Menschen in ihren "Communities" dafür arbeiten, das Leben vor Ort besser zu machen. Auch für andere Länder wären solche Reisen und Berichte sicherlich lohnend. Die Artikelsammlung lässt sich hier abrufen: https://www.theatlantic.com/our-towns/

(3) Erforschen, was war

Es gab Zeiten, in denen sich die Vorstellung davon, was in Zukunft möglich wäre, geradezu überschlugen. Die Visionen in der Mitte des 20. Jahrhunderts beispielsweise reichten von Kolonien auf dem Mars (eine in unserer Zeit wieder recyclete Vorstellung) bis hin zu Atomantrieben für Autos. Ford hatte dafür schon 1958 ein Konzeptfahrzeug mit dem Namen "Nucleon" vorgestellt. Aber natürlich reicht das utopische Denken viele Jahrhunderte weiter zurück und lässt sich in den Konstruktionen eines Leonardo da Vinci oder der Vorstellung von Maschinen im Zeitalter der Aufklärung (Stichwort: "mechanische Ente" von Jacques de Vaucanson im Jahre 1738) erkennen. 

Auch politische Utopien wurden in den vergangenen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden immer wieder entworfen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" zu lesen, in dem er - wenn auch mit deutlich marxistischem Blick - eine Entdeckungsreise durch politische Utopien der vergangenen Jahrhunderte (beispielsweise eines Solon oder Thomas Morus) unternimmt. Gleich in seiner Einleitung schreibt er treffend: "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen" (Bloch, 1973, S. 1). 

Zu erforschen, was war, indem wir persönliche Streifzüge durch Literatur und Politik, durch Naturwissenschaften und Vergangenheit unternehmen, schult den eigenen Blick auf die Gegenwart. Wir erkennen Muster, wir entdecken neues. Und wir lernen zu hoffen, indem wir wagen zu träumen. 

Abschluss

Diese drei sehr subjektiven Voraussetzungen, um zu neuen Visionen zu kommen, mögen nicht für jede oder jeden hilfreich sein. Sie mögen sogar Widerspruch anregen. Doch gerade das macht sie produktiv. Sie befreien uns aus der Bängnis, die uns alle beim Blick auf die Krisen dieser Welt befallen mag. Utopia heißt so viel wie "Nicht-Ort". Machen wir daraus einen "Noch-Nicht-Ort" und zeigen wir uns offen gegenüber Lösungsansätzen, die wir routinemäßig vielleicht als Tagträumerei abgetan hätten.

 


03 Mai 2022

Essay: Der Mensch und die Digitalisierung. Eine phänomenologische Abschweifung.

Philosophieren heißt das Offensichtliche in Frage stellen, das Unausgesprochene in Worte fassen, das Denken entdecken. Was passiert also, wenn wir uns fragend der "Digitalisierung" nähern, die sich in immenser Geschwindigkeit vollzieht und (beinahe) alle Lebensbereiche beeinflusst? Welchen Einfluss hat sie darauf, was wir unter Menschsein verstehen? Dieser Text versucht eine Annäherung in Form einer Abschweifung.

Der Begründer der "Neuen Phänomenologie", Hermann Schmitz (1928-2021), hat Philosophie einmal als ein "Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung" definiert. Philosophie ist danach eine Methode, eine Antwort darauf zu geben, was der Mensch sei. Schmitz hat sich dieser Frage im Anschluss an Edmund Husserl über die "Sachen selbst" als Phänomene genähert. Abschließende Antworten auf die Frage, was der Mensch sei, gibt es nicht. Die Frage stellt sich immer wieder neu. Und vielleicht drängt sie gerade in einer Zeit, die so reich ist an Umwälzungen und Umwertungen, mit neuer Macht in unser Bewusstsein. Viel ist darüber geschrieben worden, wie allumfassend die Digitalisierung unser aller Leben verändere, welche Verheißungen, welche Gefahren damit verbunden seien. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob die Digitalisierung unseren Blick darauf, was der Mensch sei, wandelt.

(1) Digitalisierung ist Verlagerung. Nach und nach wandern Tätigkeiten, Gegenstände oder Emotionen, gar Menschen aus dem analogen in den digitalen Raum ab. Raum meint hier schlicht den "Ort, an dem das Digitale sich abspielt". Raum heißt: die Möglichkeit haben, Dinge in Beziehung zueinander zu setzen. Wenn der physisch vorhandene Raum sich auf ein Rechenzentrum verengt, kommt unser Wahrnehmung von Raum eine andere Bedeutung zu. Es stellen sich Fragen wie: Was verbindet uns im digitalen Raum? Wie nehmen wir das Internet als "Ort" wahr? Welche Bedeutung hat unser physischer Standort für unsere Wahrnehmung des Internets als Ort?

(2) Digitalisierung bedeutet Entkörperlichung und Ent-grenzung. Was vorher einen festen, einen physischen Ort hatte, ist nun dem Anschein nach ortlos. Oder schwächer formuliert: örtlich verlagert. Ein Livekonzert in New York City lässt sich - bei stabiler Internetverbindung - ohne Schwierigkeiten und mit kaum vernehmbarer zeitlicher Verzögerung irgendwo in der norddeutschen Tiefebene empfangen (Entkörperlichung). Erforderte die Teilnahme an einem Konzert in "Big Apple" für einen Menschen aus Norddeutschland früher einen Interkontinentalflug, den Übertritt einer Landesgrenze, ein Visum, eine Anpassung an die Zeitverschiebung, lässt sich diese Erfahrung nun anders machen (Ent-grenzung). Doch fragt sich z.B. wie diese Möglichkeit unser Erleben eines solchen Ereignisses verändert und welche neuen Grenzen diese Ent-grenzung setzt.

(3) Digitalisierung heißt Vereinzelung. Ein virtuell empfangener Kuss als "Emoji" ist nicht auf den Lippen oder der Haut spürbar. Auch die Wärme, die das Gesicht des Gegenübers abstrahlt, der Duft eines Parfums, das Flirren und Beben, lassen sich virtuell nicht übertragen. Der virtuelle Kuss bleibt in seiner Bedeutung gleich. Er ist Ausdruck von Zuneigung; und diese ist im Inneren des den Kuss Empfangenden wahrnehmbar. Er oder sie ist jedoch auf sich selbst zurückgeworfen. Zuneigung findet somit in Abwesenheit der Person statt, der die Zuneigung gilt bzw. die diese zeigt. Welche Bedeutung hat ein Gefühl, dass erst über einen Intermediär (in diesem Fall das Emoji) vermittelt werden muss, statt aktiv erlebt zu werden?

(4) Digitalisierung ist die Simulation von Realität, die zugleich Realität formt. Eine im Netz ausgesprochene Drohung von einiger Schwere kann strafrechtliche Konsequenzen haben. Nicht nur droht die Verbannung von einer bestimmten Plattform, sondern auch eine in der analogen Welt eingeleitete Ermittlung, an deren Ende ein Verfahren und eine Verurteilung stehen können. Wie, also, wirkt der digitale Raum zurück in die physische, in die analoge Welt? Und umgekehrt: Welche Konsequenzen haben Handlungen im Analogen im digitalen Raum?

Schon diese vier Miniaturen und die Fragen, die sie abschließen, zeigen, dass die Digitalisierung keinesfalls bloß ein technischer Prozess ist. Sie macht auch nicht schlagartig das Leben aller Menschen "einfacher", wie gerne verkündet wird. Obgleich wir alle uns zunächst freiwillig dazu entschieden haben "ins Netz zu gehen", ist die Wahrnehmung desjenigen, der sich dort tummelt doch, dass aus einem einst grobmaschig geknüpften Gebilde nun ein feinporiges geworden ist, das nur noch weniges "durchlässt". Das heißt zum einen, dass es enorme Kraft kostet, sich aus diesem Netz zu befreien, zum anderen, dass es kaum etwas gibt, dass nicht schon davon "eingeholt" worden wäre.    

Für Immanuel Kant ließ sich das Feld der Philosophie auf vier Fragen bringen, auf welche diese Antworten geben könne. Sie lauten: "Was kann ich wissen?"; "Was soll ich tun?"; "Was darf ich hoffen?" und (wen wundert es): "Was ist der Mensch?" Kant selbst stellte einen unmittelbaren Bezug zwischen den ersten drei Fragen zur letzten her und es erscheint sinnvoll, sie vor dem Hintergrund des digitalen Wandels wieder einmal neu zu stellen. Meine Abschweifungen sind nicht mehr als eine Probebohrung. Sie können im Idealfall Hinweise für mögliche Forschungsfragen geben oder Anstoß für andere sein, sich mit der Frage zu beschäftigen. 

Es ist jedenfalls eine der erschütterndsten und zugleich beglückendsten Erfahrungen desjenigen, der Philosophie treibt, dass Begriffe, die man zumeist nur achtlos oder wenigstens gedankenlos im Munde führt, zu flirren beginnen, unscharf oder uneindeutig werden, wenn man sie befragt. Im Falle der Digitalisierung scheint mir die zentrale Erkenntnis, dass - solange wir unsere physische Existenz nicht aufgeben (können) - eine Wechselbeziehung zwischen dem Analogen und dem Digitalen besteht. Der Mensch macht das Digitale, doch das Digitale macht auch ihn. Die Frage, was der Mensch sei, muss heute zwangsläufig auch über eine Annäherung an das Digitale stattfinden.



05 Februar 2022

Von glücklichen Zufällen. – Eine Begegnung mit Wolfgang Schivelbusch.

Es ist ein kühler Tag Ende Januar als Wolfgang Schivelbusch und ich uns in seiner Berliner Wohnung im Westend treffen. Über mehrere Stunden werden wir sprechen und dabei nicht nur sein Leben als Lesender und Forschender, sondern auch die Zeitläufte streifen. Von der griechischen Mythologie, über die amerikanische Flagge bis hin zu Schivelbuschs Refugium in Brandenburg und den Begriff der Nostalgie als analytische Kategorie – nichts bleibt unberührt. Schivelbusch nennt diese Form des Gesprächs treffend „Spekulieren“. 

Glaubt man dem „Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung“ (ZfL), an dem Wolfgang Schivelbusch seit 2014 als Senior Fellow tätig ist, zählt dieser seit den 1970er-Jahren zu einem der „international meistgelesenen deutschen Historiker“. Schon vor unserem Treffen in Berlin frage ich mich, ob Historiker wohl die treffende Bezeichnung für ihn ist. Sicher, Schivelbusch hat mit seiner bis heute als Standardwerk geltenden „Geschichte der Eisenbahnreise“ (1977) oder seiner Geschichte der Genussmittel „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ (1980) Material- und Kulturgeschichte getrieben. Doch viel eher charakterisiert ihn aus meiner Sicht der etwas altmodische und zugleich so treffende Begriff eines Privatgelehrten. Schivelbusch selbst verwendet diesen Begriff für sich auch – allerdings immer in Anführungszeichen.  

Fern vom akademischen Betrieb hat er sich einem Leser- und Forscherleben hingegeben, welches er in dem exzellenten Gesprächsband „Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin“ (2021) noch einmal Revue passieren lässt. Das Ideal an zwei Orten heimisch zu sein, in der alten und der neuen Welt, die Welt also immer aus der Perspektive eines Menschen zu sehen, der im Aufbruch begriffen ist oder, um in einem Reisebild zu bleiben, auf gepackten Koffern sitzt, hat Schivelbusch zu einem sehr originellen Beobachter gemacht.

In unserem Gespräch scheint diese Beobachtungsgabe zusammen mit seiner Lust am Unkonventionellen immer wieder durch. So schildert er, wie ihm die amerikanische Flagge über viele Jahre als ein Symbol weltweiter Geltung erschienen sei. Für ihn ließen sich auf die „stars and stripes“ alle positiven Bilder, die man von den USA haben konnte, projizieren. Er nennt sie eine „menschenfreundliche Fahne“. Eines Tages – in Livorno oder irgendeinem anderen italienischen Hafen – sieht Schivelbusch eine Yacht unter amerikanischer Beflaggung. Er sagt: „Ich weiß, es gab keinen Anlass. Aber plötzlich hatte ich ein Gefühl, von dem ich denken würde, dass so ein Christdemokrat in den Zeiten des Kalten Krieges die Flagge der Sowjetunion oder der DDR betrachtet hätte. Nämlich als das absolut Fremde, gar Feindliche. Ohne, dass ich sagen könnte, wie diese Wende in mir herangereift ist, hat sich mir dieses Bild stark eingebrannt“. Schivelbusch ist ein Meister starker Bilder und Worte. Vielleicht ist es seine geistige Unabhängigkeit, die manch einem unbequem sein mag, die ihn bis heute als einen (ehemals) klassischen Linken ausweist. Zugleich ist diese Schilderung Ausdruck eines Denkens, dass als mehrdimensional beschrieben werden könnte. Schivelbusch blickt nicht nur auf einen Gegenstand – er hebt ihn auch an oder schaut dahinter. Der Titel seines jüngsten Buches „Die andere Seite“, ist hier also durchaus programmatisch zu verstehen.

Ebenso wichtig für das Verständnis seines Gesamtwerkes ist jedoch der Zufall – noch treffender wäre der englische Begriff der serendipity, des glücklichen Zufalls oder des Findens von etwas, dass man nicht gesucht hat. In unserem Gespräch und seinem jüngsten Buch beschreibt Schivelbusch, wie seine Arbeit im Archiv – das „Hineinschaufeln“ an Unmengen von Material – zunächst nicht zielgerichtet gewesen sei. Eher habe sich aus dem Gelesenen ein Bild gefügt oder eine Frage ergeben, der er dann näher nachgegangen sei. Ein Grund für dieses Vorgehen mag gewesen sein, dass Schivelbusch sich nie als großen Theoretiker verstanden hat. In der Rückschau lässt sich jedoch zumindest eine „Methode“ (und ich verwende hier bewusst Anführungszeichen, da dies reine Spekulation meinerseits ist) erkennen. Man könnte sie Schivelbuschs persönliches e pluribus unum nennen. Aus vielem – oder besser – einer Fülle an Material, leitet er eine Fragestellung ab, die er dann durch die Jahrhunderte verfolgt. Seine Liebe zu kleinen Details, die das „große Ganze“ zu charakterisieren im Stande sind und seine Sprache, die aus der Gegenüberstellung von Gegensätzlichkeiten Verbindungen herzustellen vermag, sprechen dafür.

Für mich hat Wolfgang Schivelbusch eine Sprache gefunden, die es ermöglicht, hinter den Dingen eine weitere Sinnebene wahrzunehmen. Diese geht quasi natürlich von Gegenständen aus – sie ist sogar körperlich spürbar. Doch muss erst jemand kommen, der diese Geschichten zu erzählen vermag. Wolfgang Schivelbusch tut dies seit vielen Jahrzehnten und es ist uns zu wünschen, dass er dies weiterhin tun möge. Denn Schivelbusch lesen heißt Staunen lernen.